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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1027

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 112/19, Beschluss v. 27.06.2019, HRRS 2019 Nr. 1027


BGH 1 StR 112/19 - Beschluss vom 27. Juni 2019 (LG Traunstein)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Voraussetzungen: Wahrscheinlichkeit zukünftiger erheblicher Straftaten, längere Zeiten ohne strafrechtliche Auffälligkeit als Gegenindiz; Darstellung im Urteil).

§ 63 Abs. 1 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankungen in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten im Sinne des § 63 StGB sein und ist deshalb regelmäßig zu erörtern (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 1. Oktober 2018 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision der Beschuldigten, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet die Beschuldigte spätestens seit 2009 unter paranoider Schizophrenie. Infolge ihrer Wahnvorstellungen und Verfolgungsängste fühlte sie sich durch zufällig angetroffene Kinder sowie Jugendliche bedroht und griff diese in vier Fällen im Zeitraum vom 16. September 2017 bis 28. Dezember 2017 unter Beleidigungen bzw. bei einer Tat unter Anspucken an: In einem Fall traf sie mit einem Regenschirm eine Mutter, die sich schützend vor ihre Tochter stellte, an der Schulter. Im zweiten Fall schubste die Beschuldigte ein Mädchen, verfehlte es mit dem Schirm und schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Schulter sowie den Oberarm. Bei der dritten Tat schlug die Beschuldigte einem Jungen mehrere Zeitungen auf den Kopf. Im vierten Fall hieb sie mit dem Schirm gegen die Beifahrertür eines Wagens, in welchen sich ein Mädchen gesetzt hatte, das die Beschuldigte zu Unrecht des Diebstahls bezichtigte. Die Beschuldigte konnte in allen Fällen infolge der paranoiden Schizophrenie das Unrecht ihrer Taten nicht einsehen.

II.

Die Unterbringungsentscheidung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Gefahrenprognose ist nicht tragfähig begründet.

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass vom Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu stellen und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten vom Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12 Rn. 27; BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 Rn. 6). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 Rn. 15; vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18 Rn. 17 und vom 26. Juli 2018 - 3 StR 174/18 Rn. 12). An die Darlegung der künftigen Gefährlichkeit sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12 Rn. 8 und vom 8. November 2006 - 2 StR 465/06 Rn. 8).

Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankungen in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten sein und ist deshalb regelmäßig zu erörtern (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2019 - 4 StR 135/19 Rn. 6; vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12 Rn. 11 und vom 9. Mai 2019 - 5 StR 109/19 Rn. 14; Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 StR 99/19 Rn. 9 und vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99 Rn. 5, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).

2. Daran gemessen erweisen sich die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Gefahrenprognose begründet hat, als lückenhaft. Denn die Strafkammer hätte sich auch mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass die Beschuldigte trotz ihrer psychischen Erkrankung seit 2009 während nennenswerter Zeiträume, so etwa von Ende Oktober 2013 bis Mai 2015 oder von Mitte Mai 2015 bis zur ersten hier gegenständlichen Tat vom 16. September 2017, keine vergleichbaren Taten beging. Zudem bleibt unerörtert, wie sich die Beschuldigte innerhalb der in dieser Sache angeordneten einstweiligen Unterbringung (§ 126a StPO) verhalten hat (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 99/19 Rn. 9), auch wenn diese Freiheitsentziehung bis zur Urteilsverkündung nur drei Monate umfasste.

3. Die Feststellungen sind von dem Erörterungsmangel nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird sich überdies eingehender mit der Erheblichkeit der Anlasstaten und der zu erwartenden Taten auseinanderzusetzen und sie zu werten haben. Es kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1027

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 307

Bearbeiter: Christoph Henckel