HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2024
25. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


Entscheidung

1519. BGH 2 StR 211/24 - Beschluss vom 9. September 2024 (LG Darmstadt)

Nothilfe (Notwehrlage; Provokation: akzessorische Natur der Verteidigungsbefugnis des Nothelfers, vorsätzliche Notwehrprovokation, Leichtfertigkeit, Ausweichen, Schutzwehr, Trutzwehr; Verteidigungswille).

§ 32 StGB

1. Nicht rechtswidrig handelt derjenige, der eine Tat begeht, die durch Notwehr oder Nothilfe geboten ist (§ 32 Abs. 1 StGB). Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Rechtsgutverletzung als Verteidigung ist das Bestehen einer Notwehrlage zum Zeitpunkt der Tat, die ihrerseits einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff für ein notwehrfähiges Rechtsgut des Täters (Notwehr) oder eines Dritten (Nothilfe) voraussetzt (§ 32 Abs. 2 StGB). Ein gegenwärtiger Angriff dauert nach einer Verletzungshandlung so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist. Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind dabei nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlich oder unverändert) fortdauernden Rechtsgutverletzung.

2. Hat der Angegriffene den Angriff provoziert, wird dessen Verteidigungsbefugnis sowie − aufgrund ihrer akzessorischen Natur − gleichfalls diejenige des Nothelfers eingeschränkt. In diesem Fall gilt: Erfolgt eine Provokation nicht absichtlich, sondern (nur) vorsätzlich, wird dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt genommen; es werden an ihn jedoch umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Verteidigung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer die Notwehrlage provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat.

3. Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat, muss er dem Angriff nach Möglichkeit

ausweichen und darf zur Trutzwehr erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt.


Entscheidung

1554. BGH 4 StR 115/24 - Urteil vom 26. September 2024 (LG Münster bei dem Amtsgericht Bocholt)

Mittäter (Exzess: Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs, lebensgefährdende Behandlung, Beweiswürdigung, Urteilsgründe, Gesamtwürdigung, gemeinsamer Tatplan, tatsituative Vorsatzerweiterung; sukzessive Mittäterschaft: Tatvollendung, materielle Beendigung, Sicherung des Taterfolgs, schwerer Raub); Mord (Versuch: Rücktritt, Abgrenzung unbeendeter und beendeter Versuch, Zweifelsgrundsatz); gefährliche Körperverletzung (sukzessive Mittäterschaft: nachträgliche Billigung, Bemessung der Jugendstrafe); Schuldfähigkeit (Einsichtsfähigkeit: psychiatrischer Sachverständiger, akute Mischintoxikation, Alkohol, Kokain, widersprüchliche und lückenhafte Erwägungen); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; absolute Revisionsgründe (Gerichtsbeschluss in der Hauptverhandlung: Bescheidung eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrags, Unterlassen).

§ 25 Abs. 2 StGB; § 20 StGB; § 64 StGB; § 224 StGB; § 250 StGB; § 211 StGB; § 23 StGB; § 24 StGB; § 18 JGG; § 338 StPO; § 261 StPO; § 267 StPO

1. Ein Exzess des Mittäters liegt vor, wenn der tatsächliche Ablauf der Straftat wesentlich vom gemeinsamen Tatplan abweicht. Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden muss, werden vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sie sich nicht besonders vorgestellt hat. Gleiches gilt für Abweichungen, bei denen die verabredete Tatausführung durch eine in ihrer Schwere und Gefährlichkeit gleichwertige ersetzt wird. Ebenso ist ein Mittäter für jede Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn ihm die Handlungsweise seines Tatgenossen gleichgültig ist.

2. Sukzessive Mittäterschaft liegt vor, wenn in Kenntnis und mit Billigung des bisher Geschehenen – auch wenn dies von einem ursprünglichen gemeinsamen Tatplan abweicht – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung als Mittäter eingetreten wird. Das Einverständnis bezieht sich dann auf die Gesamttat mit der Folge, dass diese strafrechtlich zugerechnet wird. Nur für das, was schon vollständig abgeschlossen vorliegt, vermag das Einverständnis die strafbare Verantwortlichkeit nicht zu begründen. Ein zur Mittäterschaft führender Eintritt ist noch nach der Tatvollendung möglich, solange der zunächst allein Handelnde die Tat nicht materiell beendet hat. Infolgedessen kann eine vom ursprünglichen Tatplan nicht umfasste Erfüllung eines Qualifikationsmerkmals selbst dann zugerechnet werden, wenn von dem Hinzutretenden in Kenntnis und unter Ausnutzung des qualifizierenden Umstands auf die Sicherung des Taterfolgs gerichtete Handlungen vorgenommen werden.


Entscheidung

1552. BGH 2 StR 465/23 - Beschluss vom 11. April 2024 (LG Bonn)

Versuch (Rücktritt: beendeter Versuch, unbeendeter Versuch, Rücktrittshorizont, Beweiswürdigung, Totschlag).

§ 24 StGB; § 212 StGB; § 261 StPO

1. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 24 StGB kommt es zunächst darauf an, ob ein beendeter oder ein unbeendeter Versuch vorliegt. Maßgebend dafür ist die Vorstellung des Täters nach der letzten Ausführungshandlung („Rücktrittshorizont“). Hält er in diesem Zeitpunkt den Tod des Opfers schon auf Grund seines bisherigen Handelns für möglich oder macht er sich in diesem Zeitpunkt über die Folgen seines Tuns keine Gedanken, so ist der Versuch beendet (st. Rspr.); der Täter erlangt daher Straffreiheit nur durch erfolgreiches (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB) oder freiwilliges und ernsthaftes Rettungsbemühen (§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB).

2. Um im Einzelnen beurteilen zu können, ob es sich um einen beendeten oder unbeendeten oder möglicherweise um einen fehlgeschlagenen Versuch gehandelt hat, bedarf es der Feststellung der hierfür wesentlichen näheren Umstände.


Entscheidung

1604. BGH 5 StR 276/24 - Urteil vom 6. November 2024 (LG Kiel)

Anforderungen an die tatrichterliche Prüfung der Schuldfähigkeit.

§ 20 StGB; § 21 StGB

1. Für die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, muss in der Regel – notfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes – in einem ersten Schritt die Frage beantwortet werden, ob und gegebenenfalls welche relevante Störung beim Angeklagten vorlag. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob diese tatsächlich festgestellte Störung rechtlich unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Auf dieser Grundlage ist in einem dritten Schritt zu klären, ob sich eine von § 20 StGB erfasste Störung auf die Einsichts- oder auf die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung in einem relevanten Ausmaß ausgewirkt hat.

2. Für die Tatsachenbewertung ist das Gericht bei der Prüfung der Schuldfähigkeit regelmäßig auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.


Entscheidung

1599. BGH 5 StR 161/24 - Beschluss vom 17. Juli 2024 (LG Dresden)

Sukzessive Mittäterschaft.

§ 25 Abs. 2 StGB

Mittäterschaft kann auch dann vorliegen, wenn sich eine Person einer zunächst fremden Tat nach deren Beginn und vor ihrer Beendigung als Täter in Kenntnis und unter Billigung des bisherigen Tatablaufs anschließt und ihr Handeln noch Einfluss auf den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs hat. Eine solche sukzessive Zurechnung setzt in subjektiver Hinsicht voraus, dass der Hinzutretende in der Vorstellung handelt, die Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs durch sein eigenes Handeln weiter zu fördern oder diesen zu vertiefen.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

1612. BGH 5 StR 382/24 - Beschluss vom 8. Oktober 2024 (LG Dresden)

BGHSt; sog. „K.O.-Tropfen“ kein gefährliches Werkzeug (schwerer sexueller Übergriff; gefährliche Körperverletzung; Wortlautgrenze; Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen; Begehung mittels eines gefährlichen Werkzeugs).

§ 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB; § 224 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG

1. Sogenannte K.O.-Tropfen stellen weder für sich genommen noch bei Verabreichung in einem Getränk, in das sie vorher mit einer Pipette hinein getropft wurden, ein gefährliches Werkzeug im Sinne von § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB dar. (BGHSt)

2. Bei einem Werkzeug handelt es sich nach allgemeinem Sprachgebrauch um einen für bestimmte Zwecke geformten Gegenstand, mit dessen Hilfe etwas bearbeitet wird. Unter einem Gegenstand versteht man gemeinhin nur feste Körper. Da Flüssigkeiten (wie hier die sog. K.O.-Tropfen), aber auch Gase keine feste Form haben, sind sie keine Gegenstände und ihnen kann damit auch keine Werkzeugqualität zukommen. K.O.-Tropfen können mithin ohne eine Verletzung der sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Wortlautgrenze nicht als Werkzeug im Sinne der strafrechtlichen Vorschriften bewertet werden. (Bearbeiter)

3. Eine Körperverletzung wird „mittels“ einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs begangen, wenn sie unmittelbar durch ein von außen auf den Körper des Tatopfers einwirkendes potentiell gefährliches Tatmittel verursacht wird. Ein Gegenstand ist danach gefährlich, wenn er nach Art seiner konkreten Anwendung im Einzelfall geeignet ist, unmittelbar eine erhebliche Verletzung herbeizuführen. Dies kann beim Einsatz von Flüssigkeiten, Gasen oder auch Strahlen der Fall sein, wenn sie durch einen Gegenstand auf den Körper gerichtet und mit diesem in Verbindung gebracht werden. Voraussetzung ist indes, dass durch den Gegenstand unmittelbar von außen auf den Körper eingewirkt wird. (Bearbeiter)

4. Es handelt sich bei der Variante „Begehung mittels eines gefährlichen Werkzeugs“ in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht um den „Oberbegriff“ zur Variante der Begehung durch „Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen“ in § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB mit der Folge, dass ein gesundheitsschädlicher Stoff stets auch ein gefährliches Werkzeug wäre. § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist nicht lex specialis zu § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. (Bearbeiter)


Entscheidung

1508. BGH 2 StR 44/24 - Urteil vom 31. Juli 2024 (LG Köln)

Gefährliche Körperverletzung (gemeinschaftlich: Eigenhändigkeit, bewusste Verstärkung der Körperverletzungshandlung des Täters, Flüchten); Strafzumessung (erheblicher Zeitablauf seit der Tatbegehung; Untersuchungshaft: besondere Vorsichtsmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie; Härteausgleich: zusätzliche Vollstreckung von Strafen, Gerichte anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung); Strafantrag (konkludente Verneinung des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung); Einziehung des Wertes von Taterträgen (Wert); Beweiswürdigung.

§ 224 StGB; § 230 StPO; § 46 StGB; § 73c StGB; § 261 StPO

1. Einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB macht sich schuldig, wer die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Die Qualifikation setzt eine Beteiligung voraus, durch die sich die Gefährlichkeit der konkreten Tatsituation für das Opfer erhöht. Für die Verwirklichung des Qualifikationsmerkmals wird Eigenhändigkeit nicht vorausgesetzt; ausreichend ist vielmehr, wenn ein am Tatort anwesender weiterer Beteiligter die Körperverletzungshandlung des Täters – physisch oder psychisch – bewusst in einer Weise verstärkt, welche die Lage des Verletzten zu verschlechtern geeignet ist.

2. Dies ist der Fall, wenn das Opfer durch die Präsenz mehrerer Personen auf der Verletzerseite insbesondere auch wegen des erwarteten Eingreifens des oder der anderen Beteiligten in seinen Chancen beeinträchtigt wird, dem Täter der Körperverletzung Gegenwehr zu leisten, ihm auszuweichen oder zu flüchten. Daran fehlt es, wenn sich mehrere Opfer jeweils nur einem Angreifer ausgesetzt sehen, ohne dass die Positionen ausgetauscht werden. In einem solchen Fall stehen die Beteiligten dem jeweiligen Geschädigten nämlich gerade nicht gemeinschaftlich gegenüber.

3. Bei der Strafzumessung sind etwaige Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, welche von Gerichten anderer

Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 Abs. 1 StGB erfüllt wären, eine solche aber aufgrund des damit verbundenen Eingriffs in die Vollstreckungshoheit der Mitgliedstaaten nicht erfolgen kann. Dies gilt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unabhängig davon, ob ein Gerichtsstand in Deutschland eröffnet gewesen wäre. Soweit der Senat mit Urteil vom 10. Juni 2009 eine andere Auffassung vertreten hat, hält er hieran aufgrund der nachträglichen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht mehr fest.