HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1519
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 211/24, Beschluss v. 09.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1519
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 16. August 2023, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben; hiervon ausgenommen sind die objektiven und subjektiven Feststellungen zum Tatgeschehen bis zu dem Moment, in dem Sa. A., St. A., L. C. und Se. Az. damit begannen, den Mitangeklagten B. „über die Straße an die auf der anderen Straßenseite stehenden Bauschuttcontainer“ zu ziehen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung mit einem Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts geriet der Angeklagte am 22. Oktober 2022 in eine tätliche Auseinandersetzung mit Mitgliedern der Familie A. in B. Er beschloss am nächsten Tag, sich für die erlittene Demütigung zu rächen. Er vereinbarte mit dem nicht revidierenden Mitangeklagten B., zu der Wohnanschrift der Familie zu fahren, um deren Mitglieder einzuschüchtern und ihnen Angst einzujagen. Beide kamen überein, dass B. eine halbautomatische Kurzwaffe Kaliber 7,65 mm nebst zwei Magazinen mit jeweils neun Patronen mitnehmen sollte, um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen. Der Angeklagte führte ein Pfefferspray mit. Mit der Schusswaffe sollte in erster Linie gedroht werden. Im Falle einer Eskalation sollten aber das Pfefferspray und zur Not auch die Schusswaffe zum Einsatz kommen. Sie wollten indes nicht, dass ein Familienmitglied getötet wird.
An der Wohnanschrift der Familie A. präsentierte B. den auf telefonische Bitte des Angeklagten auf die Straße getretenen St. und Sa. A. die Schusswaffe. Er warf den Brüdern vor, dass sie den Angeklagten, seinen Cousin, geschlagen hätten. Sie seien Kurden, also gefährliche Leute. Der Angeklagte und B. wollten so demonstrieren, dass die Familie A. ihren Willen zu respektieren habe und sie gewillt waren, ihren Anspruch auf Achtung und Respekt notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Die Mitglieder der Familie A. sollten glauben, dass sie nicht einmal davor zurückschreckten, diese zu töten.
In diesem Moment kam der Onkel von St. und Sa. A. Se.- Az., gefolgt von L. C., einem Gast der Familie A., hinzu. Az. stürmte mit den Worten „was ist hier los?“ auf B. zu. Dieser schlug mit der freien Hand nach Az., woraufhin dieser zu Boden fiel. Als daraufhin drei weitere Personen durch das Haustor auf die Straße traten, befürchtete B. eine Eskalation der Situation. Er hob seine Waffe und zielte sowohl auf die vor ihm stehenden St. und Sa. A. als auch auf C. und den durch das Hoftor hinzutretenden I., der St. und Sa. A. zu Hilfe eilen wollte.
St. und Sa. A., C. und I. ließen sich jedoch von der Waffe nicht beeindrucken und gingen zu viert auf B. zu, um diesen zu überwältigen und ihm die Waffe zu entreißen. Auch Az. stand auf und ging auf B. zu. Der Angeklagte suchte währenddessen Schutz zwischen den Glasvitrinen eines dort gelegenen Ladenlokals. B. wich zurück. Obwohl er die Flucht hätte ergreifen können, entschloss er sich, die Waffe entsprechend dem zuvor gefassten Tatplan abzufeuern. Er richtete den Lauf der Waffe in Richtung der Beine seiner Verfolger, die sich noch etwa drei bis fünf Meter entfernt befanden. Er zog den Schlitten der Waffe zurück, wodurch eine Patrone, die sich bereits im Lauf befand, ausgeworfen wurde. Er schoss dreimal, um die auf ihn zugehenden Personen zu stoppen, wobei er erkannte, dass es zu Schussverletzungen in den Beinen kommen könne. Kurz darauf schoss er zwei weitere Male in Richtung seiner Verfolger, die sich weiterhin unbeeindruckt zeigten.
Sa. A. gelang es, B. so zu umfassen, dass dessen Arme am Körper fixiert waren. B. gab drei weitere Schüsse in Richtung des Bodens ab. Einer der insgesamt acht Schüsse, die B. allesamt mit Verletzungsvorsatz abgefeuert hatte, durchschlug den Oberschenkel des C., ein weiterer den Unterschenkel des Az. .
Nach Abgabe dieser acht Schüsse und dem Auswurf der ersten Patrone war das Magazin der Waffe leer. B. versuchte, das zweite Magazin einzuführen, was ihm aber nicht mehr gelang. Denn St. und Sa. A., C. und Az. begannen damit, B. mit aller Kraft zu schlagen und zu treten, um ihn als Angreifer unschädlich zu machen.
Sie zogen ihn über die Straße an die auf der anderen Straßenseite stehenden Bauschuttcontainer, wo sie ihn weiter schlugen. B. bat mehrfach aufzuhören. St. A. kam dem nach und entfernte sich einige Meter, während Sa. A., C. und Az. weiter auf B. einschlugen.
In diesem Moment entschloss sich der Angeklagte einzuschreiten. Er setzte sein Pfefferspray gegen den sich schlagenden Pulk ein. Dabei traf er neben Sa. A., C. und Az. auch M. A. und I., die beide der Gruppe gefolgt waren. Wie vom Angeklagten geplant, ließen Sa. A., C. und Az. von B. ab, so dass dieser mit dem Angeklagten flüchten konnte. Die durch das Pfefferspray bei den fünf Personen hervorgerufenen Reizungen der Augen und deren Atemprobleme hatte der Angeklagte als möglich vorhergesehen. Hierauf kam es ihm zwecks Ermöglichung seiner und der Flucht des B. an.
2. Das Landgericht hat die Präsentation der Schusswaffe als mittäterschaftliche Bedrohung mit einem Verbrechen und den Einsatz des Pfeffersprays als gefährliche Körperverletzung in fünf tateinheitlichen Fällen gewertet. Eine Rechtfertigung durch Nothhilfe hat es abgelehnt, weil der Angeklagte und B. vor dem Einsatz der Schusswaffe angesichts der offenen Straße hätten flüchten können. Dies sei ihnen aufgrund ihrer vorangegangenen Drohung zumutbar gewesen.
Die Revision des Angeklagten ist teilweise begründet.
1. Der Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf tateinheitlichen Fällen ist nicht rechtsfehlerfrei begründet.
a) Hinsichtlich der Geschädigten Sa. A., C. und Az. hat die Strafkammer die Möglichkeit einer Nothilfe des Angeklagten zugunsten des B. im Zeitpunkt des Pfeffersprayeinsatzes nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
aa) Nicht rechtswidrig handelt derjenige, der eine Tat begeht, die durch Notwehr oder Nothilfe geboten ist (§ 32 Abs. 1 StGB). Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Rechtsgutverletzung als Verteidigung ist das Bestehen einer Notwehrlage zum Zeitpunkt der Tat, die ihrerseits einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff für ein notwehrfähiges Rechtsgut des Täters (Notwehr) oder eines Dritten (Nothilfe) voraussetzt (§ 32 Abs. 2 StGB). Ein gegenwärtiger Angriff dauert nach einer Verletzungshandlung so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist. Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind dabei nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlich oder unverändert) fortdauernden Rechtsgutverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 - 4 StR 235/16, Rn. 12; Beschluss vom 25. Januar 2017 - 1 StR 588/16).
Hat der Angegriffene den Angriff provoziert, wird dessen Verteidigungsbefugnis sowie ? aufgrund ihrer akzessorischen Natur ? gleichfalls diejenige des Nothelfers eingeschränkt (vgl. Matt/Renzikowski/Engländer, StGB, 2. Aufl., § 32 Rn. 53; LK-StGB/Rönnau/Hohn, 13. Aufl., § 32 Rn. 259). In diesem Fall gilt: Erfolgt eine Provokation nicht absichtlich, sondern - wie hier - (nur) vorsätzlich, wird dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt genommen; es werden an ihn jedoch umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Verteidigung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer die Notwehrlage provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat (vgl. BGH, Urteile vom 26. Oktober 1993 - 5 StR 493/93, BGHSt 39, 374, 378 f. und vom 17. Januar 2019 - 4 StR 456/18, Rn. 6). Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat, muss er dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2019 - 4 StR 456/18 aaO mwN).
bb) Diesen Maßstäben genügen die Urteilsgründe nicht. Soweit die Strafkammer darauf abstellt, eine Rechtfertigung scheitere bereits daran, dass B. und der Angeklagte vor Abgabe der Schüsse hätten fliehen können, trifft dies zwar für den Einsatz der Schusswaffe, nicht aber für den Einsatz des Pfeffersprays zu. Denn für die Beurteilung der Notwehrlage ist auf den Zeitpunkt der Tathandlung, mithin des Einsatzes des Tatwerkzeugs abzustellen, so dass es darauf ankommt, wie sich die Situation in diesem Moment darstellte (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - 5 StR 276/22, Rn. 17; BeckOK-StGB/ Momsen/Savi?, 62. Edition, § 32 Rn. 16; MüKo-StGB/Erb, 5. Aufl., § 32 Rn. 34). Die damit erforderliche Verschiebung des Beurteilungszeitpunkts eröffnet hier eine neue Bewertungsgrundlage. Denn nach den Feststellungen kommt für diesen Zeitpunkt eine Rechtfertigung des Angeklagten aufgrund einer Nothilfe zugunsten des B. gegenüber Sa. A., C. und Az. in Betracht.
(1) Die Urteilsgründe lassen offen, ob der vom Angeklagten und B. begonnene Angriff nicht in dem Zeitpunkt beendet war, als St. und Sa. A., C. und Az. den B. über die Straße auf die andere Straßenseite zogen, wo sie ihn weiter schlugen. Das Magazin der Waffe des B. war leergeschossen, zum Nachladen war er aufgrund der körperlichen Attacke dieser vier nicht mehr in der Lage. Er erklärte mehrfach, man möge aufhören, es reiche.
(2) Angesichts des möglichen Wechsels der Rollen von Angreifer und Angegriffenen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 29. Januar 2003 - 2 StR 529/02, NStZ 2003, 420) können die weiteren Schläge und Tritte gegen B. ihrerseits einen rechtswidrigen Angriff darstellen, gegenüber dem die Möglichkeit einer Nothilfe des Angeklagten grundsätzlich eröffnet war. Denn die körperliche Integrität des B. war durch die Schläge und Tritte bedroht.
(3) Die bisherigen Feststellungen stehen dem erforderlichen Verteidigungswillen des Angeklagten nicht zwangsläufig entgegen. Denn der Angeklagte handelte bei dem Pfeffersprayeinsatz, worauf die Revision zutreffend hinweist, nach seiner von der Strafkammer als glaubhaft erachteten Einlassung, „um den Angriff zu beenden“ und die gemeinsame Flucht zu ermöglichen. Soweit er möglicherweise auch handelte, um die ursprüngliche Tatplanung umzusetzen, stünde dies der Annahme einer gerechtfertigten Nothilfehandlung nicht entgegen, solange dieses Motiv dasjenige der Verteidigung nicht gänzlich nebensächlich werden ließe (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2013 - 4 StR 551/12, NJW 2013, 2133, 2135; Beschlüsse vom 16. Juni 2021 - 1 StR 126/21, Rn. 11; vom 25. Oktober 2022 - 5 StR 276/22, Rn. 19 und vom 10. August 2022 - 6 StR 244/22, Rn. 10).
(4) Der Einsatz des Pfeffersprays war möglicherweise erforderlich und geboten. Dabei steht die von dem Angeklagten und B. verschuldete Notwehrlage einer Rechtfertigung durch Nothilfe nicht zwingend entgegen. In der konkreten Tatsituation bestand für B. keine Fluchtmöglichkeit. Der Angeklagte sah sich einer Mehrzahl von Angreifern gegenüber, deren Schlagkraft ihm aufgrund der Geschehnisse vom Vortag bekannt war. Da diese selbst auf die Bedrohung mit einer Schusswaffe nicht reagiert hatten, versprach auch die Androhung des Pfeffersprays keine Aussicht auf Erfolg. Die Möglichkeit des Einsatzes milderer Mittel lassen die Urteilsgründe nicht erkennen.
b) Die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung hat auch hinsichtlich der Geschädigten M. A. und I. keinen Bestand.
aa) Zwar scheidet für diese beiden Geschädigten eine Nothilfe des Angeklagten zu Gunsten des B. aus. Denn der Rechtfertigungsgrund des § 32 Abs. 1 StGB deckt, jedenfalls soweit die Rechtswidrigkeit vorsätzlicher Tötungs- oder Körperverletzungshandlungen in Rede steht, nur solche Rechtsgutverletzungen, die der Angreifer erleidet (vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 1993 - 5 StR 493/93, BGHSt 39, 374, 380; BeckOK-StGB/Momsen/Savi?, 62. Edition, § 32 Rn. 25).
bb) Die Strafkammer hat jedoch den Vorsatz des Angeklagten im Hinblick auf eine gefährliche Körperverletzung für diese beiden Geschädigten nicht rechtsfehlerfrei belegt. Den Feststellungen ist nicht zu entnehmen, ob der Umstand, dass der Angeklagte bei dem Pfeffersprayeinsatz „auch M. A. und I., die der Gruppe gefolgt waren“, traf, von seinem Vorsatz umfasst war. Denn dem Angeklagten kam es darauf an, dass Sa. A., C. und Az. von B. abließen, um die gemeinsame Flucht zu ermöglichen. Wieso es hierfür erforderlich war, die an dem Angriff auf B. nicht beteiligten M. A. und I. zu attackieren, erschließt sich - mit Blick auf den Vorsatz des Angeklagten - ohne weitere Erörterung nicht. Soweit die Strafkammer feststellt, der Pfeffersprayeinsatz sei in Umsetzung des ursprünglichen Tatplans erfolgt, bleibt offen, warum sich dieser gegen I. als Gast der Familie A. und den am Vortaggeschehen nicht beteiligten M. A. richtete.
2. Der Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf tateinheitlichen Fällen kann danach keinen Bestand haben. Die Schüsse des B. auf C. und Az. hat die Strafkammer - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hinweist - dem Angeklagten bisher nicht zugerechnet. Der aufgezeigte Rechtsfehler zieht die Aufhebung des für sich rechtsfehlerfreien Schuldspruchs wegen tateinheitlicher mittäterschaftlicher Bedrohung mit einem Verbrechen (§ 241 Abs. 2 StGB) nach sich. Die Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen sind nur ab dem Moment von dem Rechtsfehler betroffen, als St. und Sa. A., C. und Az. damit begannen, B. auf die andere Straßenseite zu den dortigen Baucontainern zu ziehen. Bis dahin haben sie Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO). Ab diesem Zeitpunkt hebt der Senat die Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht eine umfassende neue Bewertung der Situation zu ermöglichen.
3. Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Zurückverweisung hat entsprechend § 354 Abs. 3 StPO an eine allgemeine Strafkammer zu erfolgen, weil eine Zuständigkeit des Schwurgerichts nicht mehr besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 26. März 2024 - 4 StR 19/24, Rn. 10 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1519
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede