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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2024
25. Jahrgang
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Von Akad. Rat a. Z. Damien Nippen und Wiss. Mit. Leo Gustav Wiesener, Köln>[*]
Normalerweise kommt ein Rüffel aus Karlsruhe; die Entscheidung des OLG Frankfurt ist einer der wenigen Fälle, in denen er nach Karlsruhe geht. Im Rahmen der Prüfung einer Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls nahm das OLG Frankfurt einen Verstoß des BGH gegen das Beschleunigungsgebot an. Auch über diese Besonderheit hinaus ist die Entscheidung beachtenswert, da sie interessante Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Aufrechterhaltung eines Haftbefehls sowie den Haftgründen der Fluchtgefahr und der Wiederholungsgefahr enthält.
Der Angeklagte stand wegen verschiedener (schwerer) Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen vor Gericht. Für den überwiegenden Teil der Verfahrensdauer befand er sich vom 16. Januar 2018 bis zum 3. April 2024 – mithin über sechs Jahre – in Untersuchungshaft. Der BGH hatte sich in zwei Revisionsverfahren mit dem Fall zu beschäftigen. Beim ersten Mal änderte der BGH den Schuldspruch (nur 19 statt 27 Fälle des versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen) und hob bis auf einen Fall sämtliche Einzelstrafen, die Gesamtstrafe sowie die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf; im Übrigen verwarf er die Revision. Beim zweiten Mal wurde das Urteil des LG Frankfurt a. M. aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine Strafkammer als Jugendschutzkammer des LG Wiesbaden zurückverwiesen.
Anlass für die Entscheidung des OLG Frankfurt bildete der Beschluss des LG Wiesbaden vom 3. April 2024, mit dem die Strafkammer als Jugendschutzkammer den Haftbefehl gegen den Angeklagten gegen Auflagen und Weisungen gem. § 116 Abs. 1, 3 StPO außer Vollzug setzte. Die Kammer begründete die Außervollzugsetzung des Haftbefehls damit, dass einer etwaigen Flucht- und der Wiederholungsgefahr ausreichend mit den angeordneten Auflagen begegnet werden könne; unter anderem durch die Auflage, dass sich der Angeklagte von Orten, an denen sich Kinder aufhalten, fernzuhalten habe. Gegen diese Entscheidung wendete sich die Generalstaatsanwaltschaft im Wege der Beschwerde mit der Begründung, dass die Auflagen nicht geeignet seien, der Wiederholungsgefahr in Bezug auf Straftaten zu begegnen, die zum Nachteil von Kindern über das Internet und andere moderne Kommunikationstechniken begangen werden. Die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch das LG Wiesbaden führte jedoch zu einer für den Angeklagten noch günstigeren Entscheidung: Das OLG Frankfurt hob den Haftbefehl vollständig auf. Das ist rechtlich unproblematisch, da § 301 StPO ausdrücklich vorsieht, dass von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel auch zu einer Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung zugunsten des Angeklagten führen können.
Das OLG Frankfurt stützt die Aufhebung des Haftbefehls auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung durch den BGH im Rahmen des zweiten Revisionsverfahrens. Die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei in Anbetracht der zu erwartenden Reststrafe und unter Berücksichtigung des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot durch den BGH unverhältnismäßig. Dabei geht das OLG lehrbuchartig vor und prüft vor der Verhältnismäßigkeit das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts sowie eines Haftgrundes.
Das OLG Frankfurt bejaht zunächst das Vorliegen eines für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls gem. §§ 112 Abs. 1 Satz 1, 120 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen dringenden Tatverdachts. Dies bedurfte nach Auffassung des
Senats keiner eingehenderen Prüfung, weil der Angeklagte im Zeitpunkt der Verurteilung bereits rechtskräftig wegen des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen in sechs Fällen, des versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, des Sich-Bereiterklärens zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in sieben Fällen, des versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 19 Fällen, des Sich-Verschaffens von kinderpornographischen Schriften und des Besitzes kinderpornographischer Schriften verurteilt war.[1]
Sodann wendet sich das OLG Frankfurt der Frage des Vorliegens eines gem. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen Haftgrundes zu. Während es das Vorliegen von Fluchtgefahr bejaht, verneint das Gericht entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft das Bestehen von Wiederholungsgefahr gem. § 112a StPO. Hiergegen spreche der Umstand, dass die letzte Anlasstat des Angeklagten i.S.d. § 112a Abs. 1 S. 1 StPO im Januar 2016 begangen wurde, in den zwei Jahren bis zu seiner Inhaftierung im Januar 2018 jedoch keine weiteren gleichartigen Taten festgestellt werden konnten. Daher fehle es – ungeachtet der beim Angeklagten diagnostizierten "Pädophilie als Nebenströmung" – an hinreichenden Anhaltspunkten, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten begehen werde.[2]
Trotz dringenden Tatverdachts und Vorliegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr kommt das OLG Frankfurt sodann aber zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung des Haftbefehls mit dem in § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO ausdrücklich als Voraussetzung der Untersuchungshaft normierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren sei. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls sei aufgrund eines Verstoßes gegen das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 2. HS EMRK folgende Beschleunigungsgebot nicht gerechtfertigt.[3] Für die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft vorzunehmende Abwägung zwischen staatlichem Strafanspruch und persönlicher Freiheit des Angeklagten ist nach Auffassung des Senats von Belang, dass der Angeklagte bereits rechtskräftig verurteilt ist, weshalb sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Freiheitsrecht des Angeklagten vergrößere. Neben der Frage, ob eine ungerechtfertigte Verfahrensverzögerung vorliege, seien auch die zu erwartende Strafe und der Grad des Verschuldens der Justiz an der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.[4]
Das OLG Frankfurt führt zunächst aus, dass das Beschleunigungsgebot für das gesamte Strafverfahren inklusive des Rechtsmittelverfahrens und daher auch für die Dauer des Revisionsverfahrens zu beachten sei. Dabei habe der BGH selbst das Beschleunigungsgebot zu wahren. In Revisionsverfahren sei er dem für die Haftkontrolle zuständigen Gericht zwar keine Rechenschaft schuldig, jedoch müsse er diesem gegenüber Verfahrensverzögerungen anzeigen. Das ist nach Auffassung des OLG Frankfurt vorliegend geschehen, indem der BGH in seiner Entscheidung ausführte, dass das neue Tatgericht die lange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen habe. Hierin erkennt das OLG einen Hinweis darauf, dass der BGH eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bejahe.[5]
Die Verfahrensverzögerung bemisst das OLG Frankfurt mit zehn Monaten und berechnet diese wie folgt: Der BGH entschied am 24. Oktober 2023 durch Beschluss gem. § 349 Abs. 4 StPO über die Revision des Angeklagten. Die letzte Gegenerklärung der Verteidigung ging in diesem zweiten Revisionsverfahren am 18. Juli 2022 ein. Zu diesem Zeitpunkt lagen dem BGH demnach alle zur Entscheidung erforderlichen Unterlagen vor. Die zulässige Bearbeitungsdauer bemisst das OLG Frankfurt für die Sache mit fünf Monaten, wobei es sich an der Verfahrensdauer für die erste Revisionsentscheidung orientiert, die sowohl den Schuldspruch als auch Teile des Rechtsfolgenausspruchs zum Gegenstand hatte. Da das zweite Revisionsverfahren auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt war und bei der Entscheidung drei Richter mitwirkten, denen die Sache bereits aus dem ersten Revisionsverfahren vertraut war, erachtet das OLG Frankfurt eine dem ersten Revisionsverfahren entsprechende Bearbeitungsdauer von maximal fünf Monaten für angemessen. Da zwischen Juli 2022 und Oktober 2023 aber insgesamt 15 Monate liegen, taxiert das OLG die ungerechtfertigte Verfahrensverzögerung durch den BGH auf zehn Monate. Hinzu kämen weitere zwei Monate Verzögerung, da nicht nachvollziehbar sei, warum der BGH seinen Beschluss vom 24. Oktober 2023 gut zwei Monate später ausfertigte und erst am 16. Januar 2024 an die Beteiligten übersandte. Die Verfahrensverzögerung bemisst das OLG Frankfurt daher insgesamt mit etwa einem Jahr.[6]
Vor diesem Hintergrund erachtet der Senat die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft für unverhältnismäßig, da allenfalls noch ein Strafrest von zehn Monaten bis zu einem Jahr zu vollstrecken sein werde. Die Interessenabwägung zwischen dem Recht auf persönliche Freiheit des Angeklagten und dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung führe unter Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung dazu, dass die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr gerechtfertigt sei.[7]
Judikate wie das des OLG Frankfurt haben Seltenheitswert. Allzu häufig wird in der justiziellen Praxis formelhaft und ohne tiefergehende Prüfung die Verhältnismäßigkeit der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft bejaht. Bisweilen obliegt es in letzter Instanz dem Bundesverfassungsgericht, die Wahrung der verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Beschuldigten bzw. Angeklagten anzumahnen und durch seine Entscheidungen die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Beschleunigungsgebots sicherzustellen.[8] Geradezu "frech" mag es auf den ersten Blick erscheinen, dass das OLG Frankfurt dem BGH als oberste Revisionsinstanz in Strafsachen einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot attestiert und den Haftbefehl folgerichtig aufhebt. In Zukunft steht angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen der Justiz zu erwarten, dass es vermehrt zu überlangen Verfahrensdauern auch in Strafsachen kommt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Gerichte im Falle eines sich in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten dem Beschleunigungsgrundsatz hinreichend Rechnung zu tragen haben. Eine Überbelastung der Strafgerichte darf dem sich in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten nicht in Gestalt übermäßig langer Haftdauer zum Nachteil gereichen.[9] Es handelt sich hierbei um Umstände, die nicht der Angeklagte zu vertreten hat, sondern die in den Verantwortungsbereich des Staates fallen.[10] Vor diesem Hintergrund vermag die Schlagrichtung des Beschlusses des OLG Frankfurt vollumfänglich zu überzeugen.
Das der Entscheidung des OLG Frankfurt gegenständliche Beschleunigungsgebot folgt aus dem Freiheitsrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und dem Rechtsstaatsgebot.[11] Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. HS EMRK sieht zudem ausdrücklich vor, dass jede Person, die sich in Untersuchungshaft befindet, "Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist" hat. Allgemein ist das Beschleunigungsgebot zudem in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verankert. In Haftsachen verlangt das Beschleunigungsgebot nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, "dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen".[12] Einfachgesetzliche Ausprägungen findet das Beschleunigungsgebot in § 120 StPO und § 121 StPO. Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO ist der Haftbefehl aufzuheben, wenn dessen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen oder seine Aufrechterhaltung der zu der Bedeutung der Sache oder den dem Betroffenen drohenden Rechtsfolgen außer Verhältnis stünde. § 121 StPO sieht eine Haftprüfung alle sechs Monate vor, wobei im Gesetz keine Maximaldauer verankert ist. Jedoch verstärkt sich das Gewicht des Freiheitsanspruches des Betroffenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit Dauer der Untersuchungshaft.[13] Eine mehrere Jahre dauernde Untersuchungshaft kann demnach nur aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt sein.[14] Je länger die Untersuchungshaft andauert, desto höher sind die Anforderungen an den die Untersuchungshaft rechtfertigenden Grund.[15] Begrüßenswert erscheint die Entscheidung des OLG Frankfurt vor allem deshalb, weil es nicht der Versuchung erlegen ist, die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft allein mit dem Verweis auf die besondere Schwere der durch den Angeklagten begangenen Sexualstraftaten zu Lasten von Kindern und Jugendlichen sowie der sich daraus im vorliegenden Fall ergebenden durchaus hohen Straferwartung von 7-8 Jahren Freiheitsstrafe anzunehmen, wie es hier auf den ersten – flüchtigen – Blick vielleicht nahegelegen hätte. Weder die Schwere der Tat noch die Höhe der sich daraus ergebenden Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren, und dem Staat zurechenbaren Verfahrensverzögerungen eine ohnehin schon lang andauernde Untersuchungshaft zu rechtfertigen.[16] Entsprechende Verfahrensverzögerungen stehen vielmehr regelmäßig einer Fortdauer der Untersuchungshaft entgegen.[17] Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass das OLG Frankfurt in der Entscheidung über die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls der Verhältnismäßigkeitsprüfung die ihr gebührende Aufmerksamkeit gewidmet hat.
Besonders ist der Beschluss des OLG Frankfurt deshalb, weil die Beachtung des Beschleunigungsgebots durch die Revisionsinstanz eine Sonderkonstellation darstellt. Im Revisionsverfahren ist der BGH selbst nicht für Entscheidungen in Haftfragen zuständig. Die Haftkontrolle obliegt gem. § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO dem Gericht, dessen Urteil mit dem Rechtsmittel der Revision angefochten wird. Der BGH als Revisionsinstanz kann nach § 126 Abs. 3 StPO allenfalls dann einen Haftbefehl aufheben, wenn er das angefochtene Urteil aufhebt und die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 StPO offensichtlich vorliegen. Auch wenn der BGH demnach grds. nicht mit Haftfragen befasst ist, hat er im Rahmen seiner Tätigkeit das Beschleunigungsgebot zu beachten. Der BGH betont indessen, dass er das Beschleunigungsgebot "eigenständig" zu wahren habe, weswegen ihn keine Auskunfts- oder Rechtfertigungspflichten gegenüber dem
Haftgericht träfen.[18] Informationen zu internen Arbeitsabläufen hat er demnach nicht mitzuteilen. Jedoch sieht der BGH sich als verpflichtet an, rechtsstaatswidrige Verzögerungen oder einen besonderen Zeitbedarf dem mit der Haftentscheidung betrauten Gericht gegenüber anzuzeigen.[19] Nach dieser Rechtsprechung des BGH kann das Haftgericht nur anhand von zwei Parametern beurteilen, ob es zu einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot im Revisionsverfahren gekommen ist: Der Selbstauskunft des BGH und äußeren Umständen wie dem Eingang der Sache beim BGH und dem Zeitpunkt der Entscheidung. Da nur vermeidbare Verfahrensverzögerungen rechtsstaatswidrig sind, kommt der Selbstauskunft des BGH entscheidende Bedeutung zu. Denn es wird sich nur selten allein anhand der äußeren Parameter bestimmen lassen, ob die Verfahrensdauer von unverhältnismäßiger Länge war. In Fällen, in denen eine überlange Verfahrensdauer offensichtlich ist, sollte es aber zulässig sein, dass das Haftgericht auch ohne eine entsprechende Selbstauskunft des BGH eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung annimmt.[20]
Im vorliegenden Fall sieht das OLG Frankfurt eine solche Selbstauskunft des BGH bereits in dessen Ausführung, dass das neue Tatgericht bei seiner Rechtsfolgenentscheidung die lange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen habe. Unabhängig davon, ob darin schon die Anzeige einer selbstverschuldeten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung durch den BGH erblickt werden kann, überzeugt die Annahme eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot: Das OLG Frankfurt berechnet die unerklärbar lange und daher ungerechtfertigte Bearbeitungsdauer in nachvollziehbarer Weise, indem es auf die Bearbeitungsdauer beim ersten Revisionsverfahren abstellt und sie mit dem Aufwand des aktuellen Revisionsverfahrens vergleicht. Ist ein Verstoß des BGH gegen das Beschleunigungsgebot – wie im vorliegenden Fall – offenkundig, kann es nicht darauf ankommen, dass der BGH diesen Verstoß selbst ausdrücklich anzeigt. Es liefe auch der gesetzlichen Aufgabenverteilung nach § 126 Abs. 2 StPO zuwider, wenn der BGH es mit der Selbstauskunft in der Hand hätte, Einfluss auf die Entscheidung in der Haftsache zu nehmen, obwohl er hierfür – von der Ausnahme nach § 126 Abs. 3 StPO abgesehen – gerade nicht zuständig ist.
Beachtenswert sind ferner die Ausführungen zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Dabei überzeugt insbesondere, dass das OLG Frankfurt nicht pauschal vom Vorliegen der durch die rechtskräftige Verurteilung erwiesenermaßen gegebenen Anlassstraftaten gem. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB in der Gestalt (schwerer) Sexualstraftaten zu Lasten von Kindern gem. §§ 176, 176c StGB auf das Vorliegen von Wiederholungsgefahr schließt. Der Haftgrund bildet per se aufgrund seiner Rechtsnatur als präventiv-polizeiliche Maßnahme einen Fremdkörper innerhalb der Rechtsvorschriften zur Untersuchungshaft, die grundsätzlich mit der Sicherung der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und der späteren Strafvollstreckung repressive Ziele verfolgt.[21] Nicht zuletzt deswegen unterliegt die Annahme des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr einem besonderen Begründungszwang.[22] Für die Bestimmung der Wiederholungsgefahr ist eine Prognose vorzunehmen: Erforderlich sind bestimmte Tatsachen, die eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, er werde gleichartige Taten noch vor einer Verurteilung begehen.[23] Das OLG Frankfurt verneint diese, da für einen Zeitraum von zwei Jahren bis zu seiner Inhaftierung keine weiteren gleichartigen Straftaten des Angeklagten festgestellt worden seien. In Anbetracht der Vielzahl der durch den Angeklagten begangenen Sexualstraftaten sowie der Tatsache – wie das OLG Frankfurt selbst konstatiert –, dass er unter Pädophilie leidet, mag man zwar zunächst gewogen sein, die Gefahr der Begehung ähnlicher Straftaten durch den Angeklagten in der Zukunft zu bejahen. Allerdings lässt die Tatsache, dass der Angeklagte in den zwei Jahren bis zu seiner Verhaftung keine vergleichbaren Anlasstaten mehr begangen hat, eine Prognose zu, die die Begehung entsprechender Sexualstraftaten nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. Das OLG verneint demnach nachvollziehbar das Vorliegen von Wiederholungsgefahr. Wünschenswert wären aber noch vertieftere Ausführungen zum Inhalt der Prognoseentscheidung gewesen.
Die Entscheidung des OLG Frankfurt mahnt die Praxis, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Beschleunigungsgebot auch im Revisionsverfahren ernst zu nehmen. Interessant ist ferner, wie es die Verfahrensverzögerung berechnet. Zumindest formal richtet sich das OLG nach den Vorgaben des BGH, da es darauf abstellt, dass der BGH die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung selbst angezeigt habe. Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zum Fehlen von Wiederholungsgefahr, sofern für einen nicht unerheblichen Zeitraum die Begehung von Anlasstaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO nicht festzustellen ist. Zuletzt ist die Entscheidung ein Fingerzeig in Richtung Staatsanwaltschaft, sich die Einlegung von Rechtsmitteln aufgrund der Wirkung des § 301 StPO gut zu überlegen. Hätte die Generalstaatsanwaltschaft im vorliegenden Fall nicht Beschwerde eingelegt, wäre der Haftbefehl nicht aufgehoben worden, sondern es wäre bei der Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Auflagen und Weisungen geblieben.
[*] Die Verfasser sind Wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht – deutsches, europäisches und internationales Wirtschafts-, Steuer- und Medizinstrafrecht an der Universität zu Köln.
[1] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 7.
[2] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 8.
[3] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 9.
[4] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 9.
[5] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 12.
[6] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 12.
[7] OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.06.2024 – 1 Ws 159/24 = BeckRS 2024, 20353 Rn. 13-14.
[8] Jüngst etwa BVerfG BeckRS 2024, 912 = HRRS 2024 Nr. 232.
[9] BVerfG BeckRS 2024, 912 = HRRS 2024 Nr. 232 Rn. 19.
[10] BVerfG BeckRS 2024, 912 = HRRS 2024 Nr. 232 Rn. 19.
[11] BVerfG NStZ 2005, 456 Rn. 1.
[12] BVerfG NJW 2006, 672, 674 = HRRS 2005 Nr. 900, Rn. 76.
[13] BVerfG NJW 2005, 3486, 3487.
[14] EGMR NJW 2001, 2694; BVerfG NJW 2006, 672 = HRRS 2005 Nr. 900; BVerfG NJW 2005, 3485 = HRRS 2005 Nr. 721.
[15] BVerfG BeckRS 2006, 20308 = HRRS 2006 Nr. 66, Rn. 58.
[16] BVerfG BeckRS 2014, 54605 Rn. 24; BVerfG BeckRS 2020, 34106 = HRRS 2021 Nr. 2, Rn. 28.
[17] BVerfG BeckRS 2009, 34595 = HRRS 2010 Nr. 6, Rn. 21; BVerfG BeckRS 2020, 34106 = HRRS 2021 Nr. 2, Rn. 28.
[18] BGH NJW 2018, 1984 = HRRS 2018 Nr. 529, Rn. 7-8.
[19] BGH NJW 2018, 1984 = HRRS 2018 Nr. 529, Rn. 8.
[20] Anders BGH NJW 2018, 1984 = HRRS 2018 Nr. 529, Rn. 10.
[21] Waßmer/Heidinger/Wiesener JA 2024, 330, 332, 336.
[22] Waßmer/Heidinger/Wiesener JA 2024, 330, 337.
[23] Krauß in: BeckOK StPO, 52. Ed. 1.7.2024, § 112a Rn. 13.