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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2024
25. Jahrgang
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Von Philipp Mädje und RA Dr. Sebastian T. Vogel, Berlin[*]
§ 323c StGB ist ein Delikt, das jeder kennt, das in Einzelfragen Diskussionspotenzial bieten mag, das aber dem Grunde nach verstanden ist. Punkt. Fragezeichen? Tatsächlich gibt es in der Praxis Luft nach oben; zu häufig scheinen Bauchentscheidungen und Prima-facie-Lösungen in der Verteidigung und der Strafverfolgung die Linie vorzugeben. Ein paar Vorschläge für die, die das Recht und sich selbst optimieren mögen.
Einer hilfebedürftigen Person wird nicht geholfen. Menschen gehen achtlos an einem Bewusstlosen vorbei; niemand fragt nach; niemand ruft einen Krankenwagen. Eine
Person wird Opfer einer Straftat; niemand geht dazwischen; niemand ruft die Polizei. Solche Szenarien führen, sofern man möglicher Unterlassungstäterinnen habhaft wird, regelhaft zu schnellen Beurteilungen, zu schnellen Vorverurteilungen, zu schnellen Urteilen.
Die Norm für solche Fälle, in denen eine Garantenstellung nicht gegeben ist, ist zügig gefunden: § 323c StGB. Die Norm statuiert solidarische Hilfeleistungspflichten für Notsituationen; sie bezweckt die strafrechtliche Sicherung eines Mindestgehalts von Solidarpflichten zur Leistung von Nothilfe.[1] Rechtsgut von § 323c StGB sind die bei einem Unglücksfall gefährdeten Individualrechtsgüter des oder der in Not Geratenen.[2]
Der objektive Tatbestand ist ebenfalls schnell geprüft und (bei so klaren Fällen wie hier skizziert) in der Regel bejaht, wenn es nicht gerade an der Möglichkeit der Hilfeleistung oder der Zumutbarkeit fehlt. Zumindest 112 anzurufen oder Dritte um Hilfe zu bitten wird aber häufig doch möglich und zumutbar sein.
Schwerer ist indes oft die Frage zu beantworten, warum Menschen nicht geholfen haben – Menschen oft, die nicht den Anschein erwecken, besonders unsolidarisch zu sein, unsozial, asozial zu sein, die von sich selbst nie gedacht hätten, unter dem Mindestgehalt mitmenschlicher Solidarität zurückzubleiben. Solche Fragen sind wichtig: für die Entscheidung über Vorsatz oder doch Fahrlässigkeit, und für das Maß der Schuld, mithin die Strafzumessung nach § 46 StGB.
Solche Fragen – warum jemand wie gehandelt hat; wie jemand zu bestrafen ist, der nicht gehandelt hat – sind schwer zu beantworten. Mitunter glauben Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Richterinnen und Richter die Erklärungen der Beschuldigten, Angeschuldigten, Angeklagten nicht. Mitunter haben die, die Hilfe nicht geleistet haben, selbst keine rechte Erklärung dafür.
Ist es in einer komplexen Situation aber schwer, eine Antwort auf eine schwierige Frage zu finden, kommt es nicht selten vor, dass Menschen die schwierige Frage schlicht durch eine einfachere ersetzen. Solche Heuristiken, untechnisch gesprochen: Abkürzungen, dienen dazu, mit begrenztem Wissen Entscheidungen zu treffen. Das geschieht unbewusst – und führt zu kognitiver Leichtigkeit, weil ein komplexes Problem einfach(er) scheint. Kahnemann[3] nennt als Beispiel die Zielfrage: "Wie sollten Finanzberater, die ältere Menschen ausnehmen wollen, bestraft werden?", die durch die heuristische Frage ersetzt werden kann: "Wie viel Wut spüre ich, wenn ich an Finanzhaie denke?" Das mag für professionelle und um Objektivität bemühte Strafverfolger und Richterinnen plakativ klingen, unwirklich, falsch. Mit Blick auf den objektiven Tatbestand, für den man mehr oder minder klare Schemata hat, ist das auch oft so (wiewohl es auch dort 50:50-Entscheidungen zu Rechts- und tatsächlichen Fragen gibt). Aber bei der Frage Vorsatz und Strafzumessung gibt es keine einfachen Schemata. Wie kommen wir zu gerechten, richtigen Resultaten? Und: Auch diese Frage im Übrigen, ob man solchen Heuristiken (selbst) erliegen kann, ist für sich genommen komplex – einfacher wäre die Antwort auf die Frage: Bin ich unprofessionell? Eine Antwort darauf ist leicht gefunden – was man von der Frage, warum alle Menschen dieser Welt Heuristiken und Biases unterliegen, man selbst aber nicht, eher nicht behaupten kann.
Deshalb: steht zu vermuten, dass auch Entscheidungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit und über die Strafzumessung bei § 323c StGB häufig lieber einfach(er) beantwortet werden, der Komplexität nicht angemessen, unterkomplex. Hierbei spielt eine Rolle, was ebenso oft als unprofessionell angesehen wird: Empathie.[4] Empathie im Sinne von Einfühlungsvermögen hat Einiges zu tun mit Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, flankiert oder überlagert gelegentlich von Gefühlen des Mitgefühls oder des Mitleids. Einfühlen in diejenigen, die Hilfe nötig hatten, denen aber nicht geholfen worden ist, gelingt dabei weit häufiger als das Einfühlen in die Unterlassenden, die vermeintlich ignoranten und unsolidarischen Beschuldigten. Gilt schon im Normalfall, dass es Strafverfolgern (trotz Unschuldsvermutung) in praxi regelmäßig schwerfällt, für Beschuldigte eines Ermittlungsverfahrens, die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte häufig – wenn überhaupt – nur aus den Akten kennen, Empathie zu entwickeln, so ist dann aber umso schwerer, sich noch dazu in jemanden einzufühlen, der einem Hilfebedürftigen in einer Notsituation keine Hilfe geleistet hat. Tendenziell treffen Entscheidungen gegen die Beschuldigtenseite dann schon die "Richtigen"; die eigene Empathie wäre danach an "Unwürdige" verschwendet.[5]
Es ist deshalb in Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung eher weniger weit hergeholt zu behaupten, dass komplexe Fragen um Vorsatz und Strafzumessung durchaus ersetzt werden könnten durch emotional getriggerte Intuitionen und durch die Frage: Wie wütend bin ich auf den Beschuldigten oder die Angeklagte? Zumal, und das kommt noch hinzu, Menschen ohnehin geneigt sind, ex post strengere Maßstäbe anzulegen an Situationen ex ante, als wenn sie selbst in der Situation ex ante wären – bedingt durch ein Bedürfnis nach positiver Selbstdarstellung (wer gibt schon gern zu, selbst hätte er oder sie vielleicht auch nicht geholfen?) oder dadurch, dass Informationen über den Ausgang eines Falles das eigene Urteil verzerren.[6] Dass juristische Entscheidungen über Beschuldigte wegen des Vorwurfs unterlassener Hilfeleistung
jedenfalls stets und ständig rational gefällt werden, wäre eine gewagte These.[7]
Ist von untätigen Ersthelfern die Rede, wird meist schnell auf einschlägige Fallbeispiele verwiesen. Diese ziehen gerade deshalb große Aufmerksamkeit auf sich, weil sie von einem Auseinanderfallen der angenommenen eigenen ("Ich hätte auf jeden Fall geholfen.") und der tatsächlichen Hilfsbereitschaft zeugen. Dieser Befund lädt zu Heuristiken und Rückschaufehlern ein.
Ein solcher vielzitierter Fall, der darüber hinaus auch erstmals das Interesse der psychologischen Forschung an dem Phänomen untätiger Zeugen auf sich zog, ist der Fall Kitty Genovese. Im Frühjahr 1964 berichtete die New York Times über ein Verbrechen, das in dieser Form erst die eigentlich "ehrenwerte" Nachbarschaft durch ihre Untätigkeit ermöglicht habe.[8] Ein Unbekannter hatte die 28-jährige Barchefin Kitty Genovese nachts auf dem Parkplatz vor ihrer Wohnung mit einem Messer angegriffen. Er konnte dabei mehrmals zu seinem Opfer zurückkehren und ausweislich des Times-Artikels allein deshalb die Tat vollenden, weil 38 Zeuginnen und Zeugen in den anliegenden Wohnblocks weder selbst eingeschritten seien noch die Polizei verständigt hätten. Der Täter vergewaltigte und tötete Genovese schließlich in einem Hauseingang.
Das Urteil der Öffentlichkeit über die vermeintlichen Zeugen war schnell gefällt: "Moralischer Verfall, Entmenschlichung durch das städtische Umfeld und Entfremdung"[9] sind noch sechzig Jahre später keine fernliegenden Schlussfolgerungen.[10]
Bald weckte der Fall auch das Interesse der sozialpsychologischen Forschung. In ihrem Beitrag im Journal of Personality and Social Psychology von 1968 verdeutlichten Darley und Latané am Fall Genovese ihre Theorie des sog. Bystander-Effekts (daher auch: Genovese-Syndrom).[11] Anhand ihrer Thesen, welche die sozialpsychologische Debatte zu unterlassener Hilfeleistung für die nächsten Jahrzehnte prägen sollten, lässt sich – ganz ohne moralischen Zeigefinger – das (angenommene) Verhalten der Nachbarn schlüssig erklären.[12]
An der Strahlkraft des Falls Genovese in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute vermochten aber auch sechzig Jahre Forschung nichts zu ändern. Zu wirkmächtig ist die scheinbare Bestätigung bereits gefasster Vorurteile. Dabei ist die in dem Times-Artikel von 1964 geschilderte Version vor allem eins: unterkomplex. Seit Beginn des Jahrtausends kamen immer wieder Zweifel an der Darstellung auf. Wissenschaftliche und journalistische Publikationen, auch von Autoren der Times selbst, sowie die Dokumentation "The Witness" aus dem Jahr 2015 schufen letztlich ein anderes, differenziertes Bild von der Tat:[13] Aufgrund ständiger Ortswechsel während der Tat war es schon keinem der Anwohner möglich, das gesamte Geschehen wahrnehmen.[14] Zudem hielten einige Genoveses Schreie offenbar nur für den Lärm betrunkener Barbesucher, andere sahen sich nicht dazu berufen, in einen vermeintlichen Beziehungsstreit einzugreifen.[15] Bei der Polizei seien wohl tatsächlich einige Notrufe eingegangen, deren Dringlichkeit sei aber verkannt worden.[16] Kurz vor ihrem Tod sei Genovese noch durch eine Nachbarin bis zum Eintreffen des Rettungswagens versorgt worden.[17] Zu einem vollständigen Bild gehört wohl auch, dass der Täter einige Tage später bei einem Einbruchsversuch festgenommen werden konnte – ein aufmerksamer Anwohner hatte die Polizei verständigt.[18]
Der Fall Genovese mag deshalb kritisch beäugt werden – das Genovese-Syndrom verdient gleichwohl eine genauere Betrachtung.
Mag es tatsächlich einfach gelagerte Fälle geben, in denen Passanten eine Gefahr klar erkennen und vorsätzlich, obwohl sie Hilfe leisten könnten, nicht einschreiten, aus Desinteresse oder Unlust etwa, sei der Fokus im Folgenden auf die Alternativen gelegt: auf die Gründe, warum die Notwendigkeit der – eigenen – Hilfeleistung schon nicht
erkannt wird, sowie auf besser nachvollziehbare Motive des Nichthandelns. Auch der Fall Genovese kann daran gespiegelt werden.
Zwei erste Erklärungsansätze, warum gerade bei vielen Anwesenden auch viele Menschen nicht eingriffen, lieferten 1968 Darley und Latané, die zwei Kernursachen ausmachten: Verantwortungsdiffusion und pluralistische Ignoranz.[19] Dabei bedeutet Verantwortungsdiffusion: je höher die Zahl der Umstehenden, desto eher nimmt die Wahrscheinlichkeit eigener Hilfeleistung ab, weil die Verantwortung auf die Umstehenden "diffundiert", zerstreut wird. Und das Erklärungsmuster der pluralistischen Ignoranz setzt noch auf einer früheren Ebene ein: je höher die Zahl der Umstehenden, desto weniger wahrscheinlich wird die Situation überhaupt als Notfall eingeschätzt. Dahinter steht folgende Heuristik: Wenn sich andere anormal verhalten, liegt ein Notfall vor – verhalten sich aber alle normal, dann gibt es auch keinen Notfall, denn dann würden ja auch die anderen nicht so tun, als ob nichts wäre.
Angesprochen wurden mithin zwei verschiedene Ebenen: die eigene Verantwortungsübernahme, nachdem ein Ereignis als Notfall eingeschätzt worden war. Hieraus entwickelten Darley und Latané sogar ein Fünf-Stufen-Modell, das sog. model of bystander intervention.[20] Danach muss eine Person, bis sie Hilfe leistet, in ihrem Entscheidungsprozess alle fünf Stufen durchlaufen haben:
1. Stufe: Das Ereignis muss bemerkt werden.
2. Stufe: Ein Eingreifen muss als erforderlich erfasst werden.
3. Stufe: Es muss Verantwortung übernommen werden.
4. Stufe: Die Art der Hilfeleistung muss bestimmt werden.
5. Stufe: das Helfen selbst.
Wer eine Situation, in der aus der Ex-post-Betrachtung zwingend Hilfe zu leisten war, hinsichtlich der Entscheidung ex ante dergestalt aufschlüsselt, wird zu der Konklusion kommen, dass auf jeder dieser fünf Stufen spezifische Hindernisse be- und entstehen können, die ein Eingreifen verhindern oder zumindest (psychisch) erschweren.
Geht es um das Bemerken des Vorfalls oder einer hilfebedürftigen Person, dürfen die Wahrnehmungsbeschränkungen mit Blick auf unsere Sinnesorgane nicht vergessen oder nur oberflächlich betrachtet werden. Unser Auge kann situativ durch (ggf. schnell sich verändernde) Lichtverhältnisse beeinträchtigt sein oder individuell auf Grund einer Fehlsichtigkeit oder Alkoholkonsums, sodass etwa das periphere Sehen eingeschränkt ist; Geräusche können situativ mehrdeutig sein oder der Gehörsinn individuell beeinträchtigt.[21] Hinzu kommen unsere körperliche Verfassung (Ermüdung, Alkohol), aber auch reizspezifische Besonderheiten: die Stärke des Reizes (z. B. wie laut war ein Hilferuf), der Kontrast zu der Umgebung (ein Schrei auf dem Jahrmarkt ist u. U. weniger auffällig als in einer Bibliothek), die Neuheit (lagen in der U-Bahn-Station schon immer oder noch nie nicht ansprechbare, vermeintlich "schlafende" Menschen), ggf. auch eine anders gerichtete Aufmerksamkeit oder Konzentration (der sog. Scheuklappeneffekt kann vielgestaltig auftreten, etwa bei dem Blick auf das Handy und dem Checken von Nachrichten etc.) oder eine Reizüberflutung.[22] So kann etwa in großen Städten die sog. Urban-Overload-Hypothese eine (mit-)entscheidende Rolle spielen, wonach Stadtbewohner per se einer hohen Reizexposition ausgesetzt und damit beschäftigt sind, mit sich, der Menschenmenge, den vielen Umgebungsreizen klarzukommen, sodass kleinere Reize (der in einer Ecke sitzende vermeintlich Betrunkene) gar nicht erst auffallen.[23] Überhaupt schaut man, wenn man von vielen Fremden umgeben ist, eher selten gezielt und mit (zu) viel Aufmerksamkeit auf Einzelne;[24] das kann als unhöflich, übergriffig, u. U. sogar als aggressiv bewertet werden (auch kulturelle Unterschiede können hier eine Rolle spielen).
Eine Studie hat aber auch ergeben, dass innere Einflüsse wie der Erhalt eines negativen Feedbacks kurz vor einem Ereignis die Aufmerksamkeit beeinträchtigen können: So nahmen Menschen, die zuvor eine das eigene Selbstbewusstsein beeinträchtigende Einschätzung erhielten, ein abnormales Geräusch oder eine Situation, in der eine andere Person Hilfe benötigte, später, seltener, gar nicht wahr im Vergleich zu Personen, die zuvor ein positives oder gar kein Feedback erhalten hatten. Erst ein dezenter Reiz der Hilfe suchenden Person führte dazu, dass die negativ Beeinflussten Hilfe anboten, während der Reiz bei den zuvor positiv oder gar nicht Beeinflussten nicht nötig war, um die Situation wahrzunehmen.[25] Auch wenn es in dem Experiment nur um ein indifferentes weißes Rauschen ging, das die negativ Beeinflussten weit später wahrnahmen, und es sich nicht um einen Notfall handelte, sondern eine Person lediglich Hilfe beim Öffnen einer Tür benötigte, zeigt dieses Experiment doch, dass es schon an der Wahrnehmung fehlte – abhängig eben von dem Gemütszustand, wohl weil die, die zuvor ein negatives Feedback erhalten hatten, mehr mit sich beschäftigt waren als mit ihrer Umwelt.[26]
Insofern sollte eine Aussage, nichts mitbekommen zu haben, nicht per se als unglaubhaft bewertet werden.
Individuelle Limitierungen, äußere Umstände und innere Konflikte können die Wahrnehmung in der Tat einschränken.
Wurde das Ereignis bemerkt, geht es auf einer zweiten Stufe darum, zu entscheiden, ob ein Eingreifen notwendig ist. Das ist insbesondere dann problematisch, wenn noch andere Menschen vor Ort sind. Denn dann könnte das Phänomen der sozialen Bewährtheit Platz greifen, wonach wir uns bei der Entscheidung, ob etwas richtig ist, nicht selten daran orientieren, was andere für richtig halten, und unser Verhalten an das anpassen, was wir bei anderen sehen – was in mehrdeutigen Situationen zu einer sog. pluralistischen Ignoranz (Pluralistic Ignorance), einem kollektiven Nicht-sehen-Wollen, führen kann.[27] Tatsächlich ist eine Notlage nicht immer als solche zu erkennen: Ob eine im öffentlichen Straßenraum liegende Person einen Herzanfall hatte oder seinen Rausch ausschläft; ob es sich bei dem Geschrei in der Nachbarwohnung um eine Straftat oder um einen Ehekrach handelt; ob eine Person, die sich in der U-Bahn-Station gerade eine Nadel gesetzt hat, Zeichen für eine Überdosis zeigt oder "bloß" high ist; ob das Wedeln mit den Armen im Schwimmbecken ein Hilferuf oder ein übermütiges Winken oder Spielen ist – all das ist auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen. Gerade in größeren Städten kommt u. a. hinzu, dass verschiedenste Lebenswelten aufeinanderprallen, die Unterschiede zwischen dem jeweiligen Verhalten der Menschen, ihren Einstellungen, dem moralischen Kompass immens sein können, weshalb Abweichungen von "der Norm" eher toleriert und nicht als abnormal betrachtet werden.[28] Letztlich (wenn auch nicht abschließend) seien Erfahrungen, Vorurteile, Erwartungshorizonte und der sog. Hof- oder Halo-Effekt genannt, die dazu führen können, dass unsere Wahrnehmung der Situation verfälscht wird.[29] Aus einem Merkmal, z. B. der nach unserem Empfinden schlechten Kleidung einer in der Ecke liegenden Person, schließen wir auf einen betrunkenen Obdachlosen – was freilich nicht stimmen muss, was aber umso wahrer wird, je mehr Menschen an dieser Person auch vorbeigehen.
Doch selbst in den Fällen, in denen einem das Gefahrenpotenzial eigentlich einleuchten müsste, leuchtet es uns nicht immer ein. In dem berühmten Rauch-Experiment wurde in einen Raum, in dem der Proband oder die Probanden saß bzw. saßen, Rauch eingeleitet, der nach vier Minuten die Sicht vernebelte, einen stechenden Geruch hinterließ und auch die Atmung beeinträchtigte. Saß der Proband allein in dem Raum, meldete er den Rauch in 75 % der Fälle. Saßen zwei eingeweihte, betont passiv bleibende Personen mit im Raum, meldete nur einer von zehn Probanden den Rauch; die übrigen neun blieben sechs Minuten sitzen und wedelten den Rauch weg. Saßen nicht zwei eingeweihte mit dem Probanden im Raum, sondern waren es drei Probanden, meldete nur eine Person aus acht Gruppen (also nur einer von 24 Menschen) den Rauch binnen vier Minuten und insgesamt drei binnen sechs Minuten.[30]
Kurzum: Wenn alle anderen nicht reagieren (weil sie eine Situation nicht als Notfall erkennen, als normal tolerieren oder weil sie mit ihren Vorurteilen übereinstimmt) – will man dann der einzige (im Zweifelsfall Depp) sein, der die Situation anders sieht und womöglich verkennt? Das Problem: Im Zweifel orientieren sich andere auch an den jeweils anderen, also u. a. an uns, die wir aber selber rätseln. Und weil wir alle gern sicher, cool, gefasst auf andere wirken wollen, lassen wir uns unsere Unsicherheit nicht anmerken – mit der Folge, dass alle glauben, es sei alles in Ordnung, obwohl wir, wären wir allein und ohne Vergleichsmaßstab, vielleicht doch eingegriffen hätten.[31]
Hinzu kommen psychologische Schemata dergestalt, dass man sich selbst (bewusst oder unbewusst) davon überzeugt, es liege kein Notfall vor. Eine Notsituation ist in aller Regel dadurch gekennzeichnet, dass es wenig zu "gewinnen" gibt, sowohl für das Opfer als auch den möglicherweise Hilfspflichtigen – wer sich selbst davon überzeugt, dass gar kein Notfall vorliegt, gerät dann auch in keinen inneren Konflikt, vielleicht doch helfen zu müssen.[32] Denn: Gibt es einen Notfall und greift man nicht oder nur marginal ein, kann man mit sich selbst, mit dem Urteil anderer und auch mit dem Gesetz (§ 323c StGB eben) in Konflikt geraten. Gibt es einen Notfall und greift man ein, kostet das Zeit (und, wenn Zeit Geld ist, auch Geld), Kraft, möglicherweise die Gesundheit oder das Leben bei einer nicht immer vorhersehbaren Eigengefährdung, vielleicht sogar durch den vermeintlich Hilfebedürftigen selbst; man kann Gefahr laufen, sich der Lächerlichkeit preiszugeben (wenn die eigene Hilfe unzureichend ist oder es gar keiner Hilfe bedurfte), in Erklärungsnot zu geraten (dass man selbst nichts mit dem Notfall zu tun hat, wenn andere erst später dazukommen) oder kurz- bis langfristig immer wieder mit der Situation konfrontiert zu werden (durch eigene Verarbeitungsprozesse, die Presse, die Polizei, Gerichte, weil man Zeuge ist oder, schlimmer, weil die Hilfeleistung zum Gegenstand eines Strafverfahrens wird).[33] All das muss und wird man nicht in dieser Detailtiefe durchdenken, unbewusst aber liegt es nahe, dass man sich selbst (intuitiv) doch sehr gern davon überzeugt, im Zweifel liege kein Notfall vor, der ein Eingreifen notwendig macht.[34]
Für die Praxis gilt betreffend diese zweite Stufe: Es sind genau die Umstände zu eruieren, die sich den Passanten, Umstehenden, Anwesenden zeigten. Die Studienlage ergibt, dass Menschen in eindeutigen Notsituationen sehr wohl helfen und dass es dann auch nicht darauf ankommt, ob sie allein sind oder in einer Gruppe oder viele Fremde vor Ort sind, wohingegen in mehrdeutigen Situationen ein Eingreifen zum Teil weit weniger wahrscheinlich ist.[35] Das fehlende Eingreifen liegt dann häufig in eben der Mehrdeutigkeit der Situation begründet, verstärkt womöglich durch das Nichtreagieren anderer Personen in der Nähe (Pluralistic Ignorance),[36] aber zumeist eben nicht in Herzlosigkeit oder Desinteresse. Die Forschung zeigt, dass Menschen schon helfen, wenn sie es für nötig erachten. (Und die Rauch-Studie hat gezeigt, dass die Probanden sich nicht nur in uneindeutigen Situationen, in denen andere betroffen wären, auf andere verlassen und im Zweifel nicht helfen, denn wäre der Rauch ein Hinweis auf ein Feuer gewesen, dann wäre ihr Nichtstun eine Gefahr vor allem für sie selbst. Mit Herzlosigkeit hatte das Nichteingreifen ersichtlich nichts zu tun.)
Letztlich ein Punkt noch dazu: Ob eine Situation eindeutig oder mehrdeutig ist, ist wiederum selbst eine fehleranfällige Frage. Menschen haben die Tendenz, im Nachhinein, in Kenntnis aller Umstände, zu strenge Maßstäbe an die Entscheidungsfindung ex ante anzulegen. Ein Grund (neben der positiven Selbstdarstellung)[37] dafür ist, dass nach einem Vorfall die kritischen Informationen, die notwendig sind zur Rekonstruktion und Beurteilung des Geschehens, sämtlich oder mehrheitlich vorliegen, wohingegen solch eine Gesamtschau ex ante nicht möglich war.[38] Es be- und entsteht die Tendenz, die Probleme der Ex-ante-Entscheidung zu vereinfachen und die Unsicherheiten, die der Entscheidung inhärent waren, zu übersehen.[39] Die Schwere eines solchen Rückschaufehlers[40] hängt dabei von der Schwere der Folgen ab, die eingetreten sind und potentiell hätten vermieden werden können,[41] weshalb bei Todesfällen oder bei irreparablen schwersten Gesundheitsschäden das größte Risiko für Rückschaufehler liegt. Will heißen: Nachdem man Zeugenaussagen, Überwachungskameras etc. ausgewertet hat und die eingetretenen Folgen kennt, kann eine Situation, die ex ante möglicherweise von vielen Menschen als indifferent und uneindeutig bewertet worden ist, nach bloßer Lektüre der Akte im Büro des Staatsanwalts oder der Amtsrichterin (vor-)schnell als eindeutig eingestuft werden. Diese psychologischen Schemata gilt es zu kennen, wenn die juristische Bewertung nicht nur menschlich, sondern auch richtig sein soll.
In einem Experiment[42] wurde Probanden, die nur über eine Audioverbindung in Kontakt standen, ein epileptischer oder epilepsieähnlicher Anfall (lediglich hörbar) simuliert, in dessen Verlauf das vermeintliche Opfer auch um Hilfe bat. Waren mehrere Probanden (außer dem Opfer) "in der Leitung", konnten sich diese nicht absprechen, sodass jeder selbst seine Entscheidung zum Eingreifen treffen musste. In 85 % der Fälle, in denen die Probanden sich als alleinige Zuhörer wähnten, holten sie Hilfe, wohingegen Hilfe in 62 % der Fälle geholt wurde, in denen die Probanden glaubten, noch eine weitere Person sei zugeschaltet gewesen, und nur in 31 % der Fälle, wenn man sich als einer von insgesamt fünf Zuhörern wähnte. Dabei nahmen die Probanden an, der Anfall sei echt; wurde ihnen mitgeteilt, dass es dem Erkrankten gutgehe, zeigten sich viele erleichtert; Apathie oder Gleichgültigkeit zeigten auch die nicht, die den Vorfall nicht gemeldet hatten.
In einem weiteren Experiment[43] wurde ein Diebstahl eines laut spielenden Radios an einem Strand inszeniert, dessen Inhaber sich den sonstigen Anwesenden als allein zu erkennen gab und der sich erkennbar entfernte (um die Tatsituation für einen Dieb, der das Radio einfach mitnahm, zu kreieren). In 80 % der (Normal-)Fälle beobachteten die unbeteiligten Dritten den Dieb (sofern sie nicht hinterher abstritten, ihn überhaupt gesehen zu haben), schritten aber nicht ein. Lediglich dann, wenn sie der Radioinhaber zuvor, vor seinem Weggang, bat, auf das Radio aufzupassen, man ihnen also ausdrücklich Verantwortung übertrug, übernahmen sie in 95 % Verantwortung.
Tatsächlich ist es so, dass Verantwortung "diffundieren" kann: Wenn mehrere potenzielle Helfer da sind, verringert sich die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens eines Einzelnen: Vielleicht hilft ja ein anderer; vielleicht hat längst jemand Hilfe geholt; vielleicht ist es sogar kontraproduktiv, weil irritierend, wenn ich mich auch noch einmische.[44] Mit Desinteresse oder Apathie hat das in aller Regel wenig zu tun; es ist ein sehr menschlicher Vorgang.
An der Verantwortungsübernahme kann es ferner in solchen Fällen scheitern, in denen der Hilfebedürftige nach außen weniger hilfebedürftig scheint: Der alten gebrechlichen Dame, die nichts für ihr Unglück kann, helfen wir im Zweifel eher als dem jungen trainierten "Schnösel", der sich selbst in Gefahr gebracht hat (wiewohl beide vielleicht gleich der Hilfe bedürfen), und Bekannten helfen wir eher als Fremden.[45] Auch auf dieser dritten Stufe kann es mithin "menscheln", ohne dass es sich um schlechte Menschen handeln muss, die da nicht eingegriffen haben.
Jedenfalls objektiv von Relevanz ist – für die hilfebedürftige Person wie auch strafrechtlich –, dass die wirksamste, die bestmögliche Hilfe geleistet wird.[46] Die Frage, ob das geschieht, ist nach der Studienlage[47] u. a. abhängig davon, ob die potenziellen Helfer und Helferinnen eine irgendwie geartete Erste-Hilfe-Ausbildung haben. Dieser Aspekt betrifft nicht die Frage, ob geholfen wird, sondern wie, und ob die Hilfe effektiv oder ineffektiv ist. So kann bei einer arteriellen Blutung ein bloßer Anruf bei der 112, ohne dass die Blutung gestoppt wird, letztlich ineffektiv sein – und ex post der Vorwurf erhoben werden, eben nicht die bestmögliche Hilfe geleistet zu haben. Für die strafrechtliche Bewertung ist es aber eben von großer Relevanz, ob und ggf. wann mal ein Erste-Hilfe-Kurs absolviert worden ist, um den Grad der Vorwerfbarkeit oder den Vorsatz zu bewerten. Ferner kann auch ein Schock bewirken, dass man zwar um die Erforderlichkeit seiner Hilfeleistung und seine Verantwortung weiß, aber die bestmögliche Hilfe nicht geleistet werden kann.
Letztlich könnte auch ein "Kompromissgedanke" tragend werden: Bevor man nicht hilft, bevor man sich aber auch größtmöglich direkt beteiligt, könnte der goldene Mittelweg sein, sich zumindest indirekt helfend zu betätigen, etwa indem man zwar die 112 wählt, ansonsten aber passiv bleibt.[48] Auch das kann indes zu wenig sein. Ob dieser Gedanke in Notfallsituationen greift, bedürfte der weiteren psychologischen Forschung und Erörterung; ausgeschlossen scheint es aber nicht.
Letztlich können auch dann, wenn man um die Notwendigkeit der Hilfeleistung und darum weiß, wie man helfen soll, Hemmungen auftreten, die strafrechtlich von Relevanz sind – wenn man sie denn bedenkt.
So kann die Angst vor negativen Konsequenzen eine Rolle spielen: nicht nur vor einer Selbstgefährdung, die möglicherweise die Zumutbarkeit der Hilfeleistung im Sinne von § 323c Abs. 1 StGB ausschließen könnte, sondern auch etwa vor dem Kontakt mit der Polizei (den mancher aus Gründen gern vermeidet), vor dem möglichen Verlust des Arbeitsplatzes (wenn man zu spät kommen würde auf Grund geleisteter Hilfe), oder auch aus Scham, in der Öffentlichkeit etwas falsch zu machen.[49]
Ferner können innere Blockaden auftreten, in einer Extremsituation adäquat zu handeln (z. B. auf Grund einer traumatischen Situation in der Vergangenheit) – ohne dass das von außen sichtbar und strafrechtlich vorwerfbar ist.
Letztlich gilt: Auch wenn nicht alle diese Gründe eine Person, die nicht geholfen hat, komplett exkulpieren mögen, sie zeichnen zumindest ein differenzierteres Bild von dem Menschen als das des ignoranten selbstbezogenen Egoisten.
Wie vieles in der (Verhaltens-)Psychologie ist auch dieses Thema, sind auch die oben beschriebenen Forschungsergebnisse nicht unumstritten. Die dagegen aufgeführten Kritikpunkte vermögen aber nichts daran zu ändern, dass die fünf Stufen durchdeklinieren sollte, wer einer Person eine Straftat nach § 323c StGB vorwirft.
Zur Kritik, jedenfalls Teilen davon: Philpot et al.[50] kamen nach Auswertung von 219 Videoaufnahmen öffentlicher Kameras aus Großbritannien, den Niederlanden und Südafrika (mithin drei sehr verschiedenen Ländern) zu dem Ergebnis, dass bei gewaltsamen Übergriffen in der Öffentlichkeit den Gewaltopfern in 91 % der Fälle tatsächlich von mindestens einer Person, häufig von mehreren geholfen worden ist. Sie sahen deshalb die bisherige Forschung zumindest in Teilen widerlegt.
Diese Forschungsergebnisse sprechen gleichwohl nicht gegen die obigen Ausführungen. Zum Ersten war der Fokus dort ein anderer: Ging es dort um die Frage, ob Opfern von Angriffen überhaupt geholfen wird, was in 91 % der Fälle so war, geht es bei einem Vorwurf nach § 323c StGB darum, ob eine konkrete Person geholfen hat. Bekommt ein Angegriffener also in neun von zehn Fällen Hilfe von mindestens einer Person, waren es doch in der Regel mehr Menschen, die nicht geholfen haben, jedenfalls wenn mehr als nur eine Person anwesend war.[51] Zum Zweiten lag der Fokus hier bei Gewalttaten, die als solche zu erkennen waren, was Fehler auf den ersten beiden Stufen ausschloss. Zum Dritten weist diese Forschung darauf hin, dass andere Studien zu geringeren Hilfequoten gekommen sind. Viertens wurde auch ein Trösten nach dem Angriff als Eingreifen gewertet, was für § 323c StGB eher nicht[52] oder nur dann ausreicht, wenn die seelische Unterstützung geeignet erscheint, den Selbsterhaltungswillen zu stärken und die Überwindung der Gefahr durch eigenen Einsatz zu ermöglichen.[53] Im Ergebnis ist auch diese Forschung indirekt ein Beleg dafür, dass viele Menschen aus den verschiedensten Gründen nicht helfen – dass irgendwer dann doch häufig hilft, führt nicht dazu, dass die Nichthelfer alle tatbestandslos im Sinne von § 323c StGB gehandelt haben müssen (wobei in 20 der 219 untersuchten Fälle sogar gar keiner geholfen hat, die Quote an potenziellen §-323c-StGB-Tätern in diesen Fällen also bei 100 % lag).
Dass es gleichwohl Gründe für das Nichteingreifen gab und gibt, ist oben – insofern auch unwidersprochen durch die eben dargestellten Forschungsergebnisse – aufgezeigt worden.
Letztlich sei konzediert, dass in diesem Aufsatz zum einen keine eigenen und zum anderen ältere Forschungsergebnisse präsentiert worden sind. Die Verfasser haben deshalb z. B. davon abgesehen, geschlechtsspezifische Unterschiede, die durchaus auch pro oder contra Eingreifen den Ausschlag gegeben zu haben scheinen,[54] mit in die Betrachtung aufzunehmen, weil sich Rollenbilder über die Grenzen unterscheiden und gerade in den vergangenen Jahrzehnten einen Wandel erlebt haben. Im Großen und Ganzen aber meinen wir, dass (auch in der Gesamtschau) der Forschungsstand sich nur wenig verändert hat. Demgemäß (und weil wir selbst schon ähnliche Situationen bei uns und anderen beobachtet haben, es also zumindest eine eigene anekdotische Evidenz gibt) gehen wir davon aus, dass die oben dargestellten Forschungsergebnisse weiterhin aktuell sind. Davon auszugehen ist immer noch besser, als bei Entscheidungen pro oder contra Anklage oder Verurteilung wegen § 323c StGB nur auf das eigene Bauchgefühl und die eigene Entscheidungsmacht zu vertrauen.
Hieraus lassen sich dezidierte Rückschlüsse auch für das Strafrecht ziehen. In den typischen Bystander-Fällen gerät – insbesondere bei Fehlen einer Beistands- oder Garantenpflicht – die unterlassene Hilfeleistung gemäß § 323c Abs. 1 StGB in den Blick. Hiernach wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist. Um § 323c Abs. 1 StGB herrscht in Literatur und Rechtsprechung eine gewisse Ruhe, zuletzt nur durchbrochen durch die Fälle zur Suizidhilfe.[55] Dennoch hebt sie sich von den anderen Vorschriften des Besonderen Teils ab, indem sie einen Mindestgehalt von Solidarpflichten mit strafrechtlichen Mitteln sichert.[56] Diese Solidarpflichten bleiben in Inhalt und Umfang hinter den Garantenpflichten zurück, was sich auch an dem geringeren Strafrahmen im Vergleich zu den phänomenologisch ähnlich gelagerten Straftaten gegen das Leben ausdrückt.[57] Und: Der Solidaritätsgedanke sowie die eher unbestimmten Tatbestandsmerkmale machen § 323c Abs. 1 StGB anfällig für hindsight biases und juristische "Alltagstheorien"[58].
Die oben skizzierte Forschung zum Bystander-Effekt wirkt sich auf § 323c Abs. 1 StGB praktisch vor allem in zweierlei Hinsicht aus: auf die Prüfung des Vorsatzes und auf die Strafzumessungsschuld. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass im Einzelfall auch der objektive Tatbestand beeinflusst sein kann, also etwa bei der Beurteilung, welches Verhalten in der konkreten Situation ex ante von einem oder einer Hilfspflichtigen gefordert werden konnte.[59] Die Erforderlichkeit der Hilfeleistung etwa richtet sich nach dem Ex-ante-Urteil eines verständigen Beobachters –[60] und selbst für den verständigsten Beobachter ist die Welt komplexer und ambivalenter als eine Strafakte. Doch sind hiermit eigentliche Selbstverständlichkeiten angesprochen: Bei der Auslegung des Tatbestands ist wie sonst auch der Normzweck zu berücksichtigen, sind daher Inhalt und Umfang der Pflicht präzise und – im Vergleich zu einem Garanten – restriktiv festzulegen. In der Praxis wird sich die subjektive Tatseite daher in der Regel wesentlich diffiziler darstellen. Hier rücken tatfördernde Umstände in den Blick, die im Rahmen von Gewaltdelikten den Täter auf subjektiver Tatseite entlasten können. Die Forschung zum Bystander-Effekt vermag derartige Umstände auch für die unterlassene Hilfeleistung offenzulegen.
§ 323c Abs. 1 StGB ist als Vorsatzdelikt ausgestaltet (vgl. § 15 StGB). Weil dolus eventualis ausreicht,[61] kommt der Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit auch hier große praktische Relevanz zu. Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatumstände und damit auf die Notsituation sowie die Möglichkeit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Hilfeleistung erstrecken;[62] für letztere ist die Kenntnis der die Zumutbarkeit begründenden Umstände ausreichend.[63] Fallen Vorstellung und tatsächliche Tatumstände auseinander, entfällt der Vorsatz im Wege des Tatumstandsirrtums nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.[64]
Dolus eventualis und nicht nur bewusste Fahrlässigkeit liegt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung vor, wenn der Täter den Erfolg als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und dabei billigend in Kauf nimmt.[65] Das "billigende Inkaufnehmen" ist nicht im Sinne einer bestimmten emotionalen Haltung, sondern normativ zu verstehen und kann daher auch vorliegen, wenn dem Täter der Erfolg "an sich" unerwünscht ist.[66]
Die schwierige forensische Prüfung des Vorsatzes hat dabei zu einer Normativierung geführt.[67] Staatsanwaltschaft und Gericht kommt in der Praxis die Aufgabe zu, das Element des Billigens anhand eines von der Rechtsprechung entwickelten – freilich nach objektiven Kriterien gebildeten und daher zuschreibenden – Indizienkatalogs zu ermitteln.[68] Mangels tatsächlicher Kenntnis individueller psychischer Vorgänge ist diese Normativierung nicht schlechthin kritikwürdig. Doch darf sie nicht dazu führen, dass valide und reliabel ermittelte psychologische Erkenntnisse übergangen werden. Sie müssen von den Strafverfolgungsbehörden zumindest als Möglichkeit bedacht und in Bystander-Fällen, die dahingehend Anlass bieten, auch kritisch von einem Tatgericht geprüft werden. Zudem müssen die Kriterien der Vorsatzprüfung, die überwiegend im Bereich der Gewaltdelikte entwickelt wurden, auf die unterlassene Hilfeleistung zugeschnitten werden.[69]
Im Zentrum stehen vorsatzkritische Indizien, die eine Wahrnehmung und Verarbeitung des Geschehens durch die beschuldigte Person trüben. So kann dolus eventualis im Rahmen der Tötungsdelikte ausgeschlossen sein, wenn – etwa im Rahmen einer Spontantat[70] – eine psychische Beeinträchtigung oder Alkoholisierung die realistische Einschätzung einer Situation beeinträchtigen kann.[71] Ähnlich gelagert sind aus einer Panikreaktion resultierende Unfallflucht-Fälle.[72] Auch eine geringe Wahrnehmungszeit sowie ein dynamisches Geschehen sind zu berücksichtigen.[73]
Auf § 323c Abs. 1 StGB wird man diese Maßstäbe übertragen können. Das betrifft sämtliche Schwierigkeiten auf den ersten beiden Stufen – Bemerken der Situation und deren Einschätzung als Notfall –, die oben sub III. dargetan worden sind. Sofern der Hilfspflichtige auf ein eruptives Ereignis reagieren musste, das ihm nur begrenzten Handlungsspielraum und wenig Zeit ließ, ist auch das vorsatzkritisch zu würdigen. Das kann etwa im Einzelfall auf Verkehrsunfälle, Havarien oder von Dritten verübte Gewalttaten zutreffen, wenn die Situation unübersichtlich und/oder die Zahl an Verletzten hoch ist. Bleibt dann die erforderliche Hilfeleistung hinter dem Erwartbaren zurück, weil der Hilfspflichtige sich im Vertrauen auf professionelle Hilfskräfte zurückhielt, wird dieser indiziell gegen einen Vorsatz sprechende Umstand von einer Staatsanwaltschaft, ggf. von einem Tatgericht in die Gesamtschau einzustellen sein. Bei Unfallflucht-Fällen bliebe zu prüfen, ob die Panikreaktion des Hilfspflichtigen allein angesichts des Unfalls oder aber auch aufgrund der wahrgenommenen Hilfsbedürftigkeit anderer eingetreten ist. Die Anforderungen an die Darstellung eines hochdynamischen Geschehens in den Urteilsgründen sind vom BGH zwar hoch angesetzt;[74] ändern sich für den Hilfspflichtigen aber etwa die die Zumutbarkeit begründenden Umstände in kurzer Abfolge, kann dies indiziell gegen Vorsatz sprechen.
Die Bedeutung der Motivlage hingegen ist zweifelhaft. Nach der Rechtsprechung zum Tötungsvorsatz haben mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter kein Tötungsmotiv, sondern gehen einem anderen Handlungsantrieb nach.[75] In Bystander-Fällen wird sich ein Motiv im eigentlichen Sinne eher selten[76] aus der persönlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer ergeben. Doch zeigt die psychologische Forschung eine deutliche Abhängigkeit der Hilfsbereitschaft von der konkreten Tatsituation.[77] Tag oder Nacht, die Übersichtlichkeit der Situation sowie die eigene Stimmung sind nur einige der empirisch ermittelbaren Faktoren. Ergeben sich aus diesen situativen Faktoren sowie aus den Einlassungen der Beschuldigten entsprechende Hinweise, werden auch diese von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten in die Gesamtschau einzustellen sein. Gerade jene externen Faktoren, die die erste Stufe des Fünf-Stufen-Modells betreffen (vor allem undurchsichtige Situationen durch Nachtzeit, die räumliche und akustische Lage), dürften im Einzelfall auch zu einem Tatumstandsirrtum über die erforderliche Hilfeleistung nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB führen.
Schließlich kann die Bejahung des kognitiven Elements auch die Bejahung des voluntativen Elements nahelegen;[78] je sicherer die Kenntnis um die Tatumstände, desto näher liegt das Inkaufnehmen.[79] Dies birgt aufgrund der erwähnten Anfälligkeit von Ex-post-Betrachtungen für hindsight biases das Risiko, von der (ex post) klar gegebenen Notsituation eher unbedarft auf das voluntative Element zu schließen. Gerade das Beispiel Genovese und die Berichterstattung darüber zeigen auf, wie allzu menschlich dieser Schluss ist. Es sei daher nochmals auf die Notwendigkeit einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls, auch unter Berücksichtigung etwaiger Einlassungen, hingewiesen.
Die Gefahr von Rückschaufehlern in Verfahren nach § 323c Abs. 1 StGB trifft in praxi auf ein weiteres Risiko, das sich strukturell aus der Vorsatzprüfung ergibt: der relativ geringe Einfluss einer Beschuldigteneinlassung. Dies sei anhand eines Falles illustriert, der seinerzeit
bundesweit in die Schlagzeilen geriet und zugleich die Notwendigkeit einer gewissenhaften Gesamtschau verdeutlicht.[80]
Nachdem ein Mann in einer menschenleeren Bankfiliale zusammengebrochen war, betraten nacheinander drei Kunden die Filiale und tätigten ihre Geschäfte, ohne den Mann anzusprechen oder Hilfe zu leisten.[81] Ein vierter Kunde setzte nach einigem Zögern schließlich einen Notruf ab.[82] Der Mann verstarb im Krankenhaus an einem Schädel-Hirn-Trauma, ohne dass im Nachhinein sicher festgestellt werden konnte, dass die rechtzeitige Hilfeleistung den Tod hätte verhindern können.[83] Die drei Bankkunden wurden daher wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Alle beteuerten jedoch, die Situation verkannt zu haben: Sie hätten den Mann für einen schlafenden Obdachlosen gehalten.[84] Alle Angeklagten brachten zudem Gründe vor, welche sie jeweils davon abgehalten hatten, den Mann anzusprechen: persönliche Sorgen, schlechte Erfahrungen mit Obdachlosen im Allgemeinen und Pöbeleien von Obdachlosen in derselben Bankfiliale im Besonderen.[85] Der direkte Einfluss solcher persönlichen Gründe auf die Hilfsbereitschaft ist in der psychologischen Forschung gut belegt; dennoch wurden die Einlassungen sämtlich als Schutzbehauptungen abgetan und wurde Vorsatz angenommen.[86]
Legt man die Einlassungen zugrunde, haben die Hilfspflichtigen mit Blick auf das Fünf-Stufen-Modell allesamt bereits auf der zweiten Stufe versagt: bei der Interpretation des Geschehens als Notsituation. Hat sich diese nun aber ex post bestätigt, liegt die Annahme nahe, die Beschuldigten kaschierten den eigenen Egoismus als bloße Unwissenheit. Schnell sind die Indizien zusammengetragen, die den Angeklagten doch förmlich hätten ins Auge springen müssen: Der Mann am Boden war ordentlich gekleidet und roch auch gar nicht unangenehm;[87] zudem bewegte er sich gelegentlich.[88] Dass diese Umstände, deren Gewicht für die Begründung doch zweifelhaft scheint,[89] durch die Angeklagten auch hätten anders interpretiert werden können, wurde nicht berücksichtigt. Trotz der wohl revisionssicheren Vorsatzprüfung durch das AG Essen stimmt bedenklich, dass letztlich alle für den Vorsatz relevanten Umstände zu Lasten der Angeklagten ausgelegt wurden. Es bleibt der Eindruck zurück, dass das Vorbringen von Umständen, die die eigene Fahrlässigkeit nahelegen, in praxi schlechthin keinen Erfolg verspricht.[90]
Demgegenüber vermag die Berücksichtigung sozialpsychologischer Forschung erklärbar zu machen, warum Hilfspflichtige gerade bei der Wahrnehmung eines Notfalls versagen. Dies ermöglicht Empathie selbst in Fällen wie dem des AG Essen, die bei oberflächlicher Betrachtung eine besondere Rücksichtslosigkeit nahelegen.[91] Diese Empathie ist letztlich unabdingbar für eine kritische und lebensnahe Prüfung des Vorsatzes.
Es ist daher an die Entscheidungsträger in der Justiz, an die Staatsanwältinnen und Richter, zu appellieren, die notwendige Gesamtschau auch vor dem Hintergrund der beschriebenen psychologischen Implikationen vorzunehmen. Andernfalls droht die Gefahr, einen Beschuldigten entlastende Momente und Einlassungen allzu vorschnell abzutun und den Vorsatz letztlich ohne Rücksicht auf die konkrete Situation zuzuschreiben.
Wird der Vorsatz bejaht, können die Ergebnisse der Bystander-Forschung auch im Rahmen der Strafzumessungsschuld Berücksichtigung finden. Die zwei Elemente der Strafzumessungsschuld, die sich auch in der Rechtsprechung des BGH wiederfinden, sind dabei der Erfolgs- und der Handlungsunwert.[92]
Die oben beschriebenen psychologischen Phänomene können den Handlungsunwert mildern, sei es durch einen "lähmenden" Angstzustand oder die empfundene Ausweglosigkeit einer Situation.[93] Aber auch eine tatfördernde Gruppendynamik kann im Rahmen von § 323c Abs. 1 StGB Berücksichtigung finden. Zwar werden mit dieser Fallgruppe eigentlich durch und aus Gruppen heraus begangene Begehungsdelikte erfasst[94], doch kann die psychosoziale Motivlage, Konformität mit der Umgebung zu wahren, auch und gerade in Bystander-Fällen vorliegen. In dem Fünf-Stufen-Modell betrifft das insbesondere das Einschätzen der Situation und die Verantwortungsübernahme. Dies ist nicht zuletzt deshalb für die Praxis
relevant, weil Situationen mit mehreren Bystandern im Nachhinein ein besonders hohes Strafbedürfnis "wecken". Veranschaulichen lässt sich das nicht nur in dem Fall Genovese.
Eine in dieser Hinsicht ähnliche Konstellation wies auch der sog. "Weidener Flutkanalprozess"[95] auf: Hier stand der wegen § 323c Abs. 1 StGB Angeklagte und letztlich Verurteilte auf einem Radweg oberhalb eines Bachlaufs, in dem das Opfer nach einem gemeinsamen abendlichen Barbesuch ertrank.[96] Alle Beteiligten waren erheblich alkoholisiert.[97] Der Angeklagte konnte das Geschehen nicht unmittelbar verfolgen, erhielt aber Zurufe von seinen Freunden, die direkt am Bachlauf standen. Als diese äußerten, ihr Freund würde ertrinken, rief der Angeklagte ihnen zu, sie sollten einen Rettungswagen rufen und ihren Freund vom Bach wegtragen.[98] Doch das Bild wurde durch widersprüchliche Zurufe getrübt: Der Freund würde nur simulieren und gleich wieder von selbst aus dem Wasser herausfinden.[99] Der Angeklagte war also mangels eigener unmittelbarer Wahrnehmung abhängig von den Schilderungen seiner Begleiter – und damit auch von deren Bewertung der Lage. Hier zeigt sich die besondere Ambiguität, die in Notlagen bestehen kann. Denn letztlich vermag kein Bystander die "Vogelperspektive" einzunehmen. Die Komplexität der ohnehin durch die eigenen Sinne begrenzten Wahrnehmung wird durch die oben beschriebenen Heuristiken und Biases weiter reduziert – wie hier etwa durch das vage Vertrauen auf die Angemessenheit der Reaktion anderer (pluralistische Ignoranz). Die beschriebenen Phänomene sind daher bei entsprechenden Anhaltspunkten zumindest und spätestens auf der Ebene der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen.
Es ist leicht, in Fällen, in denen andere nicht geholfen haben, vermeintlich einfache Antworten zu finden wie Apathie, Gleichgültigkeit, fehlende Empathie, Entfremdung etwa in der Großstadt oder in einer "kalten Gesellschaft" u. a. Diese Erklärungen haben für die Menschen, die sie annehmen, einen doppelten Vorteil: Sie geben, erstens, eine Erklärung auf das rätselhafte und beängstigende Problem, warum Menschen anderen nicht helfen, und sie helfen Menschen, zweitens, zu leugnen, dass auch sie in einer ähnlichen Situation Gefahr laufen könnten, nicht zu helfen.[100]
Die Ergebnisse aus jahrelanger Forschung zu dem sog. Bystander-Effekt deuten indes darauf hin, dass solche Persönlichkeitsvariablen möglicherweise nicht so wichtig sind und dass es ganz andere Erklärungsmuster gibt, die auf Vorsatz- oder Strafzumessungsebene strafausschließend oder -mildernd zu berücksichtigen sind. Wer sich selbst nicht überschätzt, für andere Menschen Empathie aufbringt und die Frage einer Strafbarkeit nach § 323c StGB nicht aus dem Bauch heraus, sondern auf Basis der psychologischen Forschung sowie juristisch exakt trifft, steigert seine Chancen auf ein gerechtes Ergebnis im Einzelfall – und auf Akzeptanz solcher Entscheidungen in der Öffentlichkeit.
[*] Der Autor Mädje ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei FS-PP Berlin Part mbB, Lehrbeauftragter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie Doktorand an der Bucerius Law School. Der Autor Vogel ist Fachanwalt für Strafrecht und Partner in der Kanzlei FS-PP Berlin Part mbB sowie Lehrbeauftragter an der Bucerius Law School für Psychologie im Strafverfahren, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Dresden International University.
[1] Fischer, StGB, 71. Aufl. (2024), § 323c Rn. 2; Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 6. Aufl. (2023), § 323c Rn. 1.
[2] BGH NJW 2002, 1356, 1357.
[3] Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, 16. Aufl. (2011), S. 127 ff. Das folgende Beispiel findet sich auf S. 128.
[4] Zum Folgenden mit Blick auf Medizinstrafverfahren siehe Vogel medstra 2021, 280, 281 f.; ausführlicher Vogel, in: Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen Anwaltverein/Institut für Rechtsfragen der Medizin (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im Medizinstrafrecht (2022), S. 119, 133 ff.
[5] Bzgl. Entscheidungen von Ermittlungsrichtern der langjährige Staatsanwalt und Richter Helmken StV 2003, 193, 195.
[6] Hierzu und zu dem Phänomen des Rückschaufehlers allgemein siehe nur Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht (2005), Rn. 619 ff.; Vogel/Berndt medstra 2020, 271, 272; Jäger/Schweiter Schweizerische Ärztezeitung 2005, 1940, 1941.
[7] Wer zu der Erkenntnis gelangt, dass anderen gewisse Irrationalitäten, Heuristiken und Biases natürlich unterlaufen können, man selbst aber davor gefeit ist, dem sei das Kapitel zu den Themen Selbstüberschätzung und overconfidence empfohlen bei Schweizer a.a.O. (Fn. 6), Rn. 788 ff.; zur Fehlerkultur in der Justiz und aus der Ich-Perspektive ferner Vogel StV Spezial 2023, 82.
[8] Hierzu und zum Folgenden Gansberg The New York Times v. 27. März 1964.
[9] Zitate nach Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 .
[10] Vgl. nur den Polizeipräsidenten Bernhardt aus Philadelphia, nachdem Aufnahmen einer Überwachungskamera nahegelegt hatten, mehrere Beobachter eines sexuellen Übergriffs in einem fahrenden Zug seien nicht eingeschritten: "Speaks to where we are in society", zit. nach Sheehan/McCrone, https://www.nbcphiladelphia.com/news/local/suspect-arrested-for-sex-assault-on-el-train-in-upper-darby-septa-says/2993609 , zuletzt abgerufen am 29. September 2024.
[11] Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 .
[12] Dazu sogleich u. III.
[13] Rasenberger The New York Times v. 8. Februar 2004; Manning/Levine/Collins American Psychologist 2007, 555; McFadden The New York Times v. 4. April 2016.
[14] Solomon The Witness, http://www.thewitness-film.com , zuletzt abgerufen am 28. September 2024.
[15] Bregman, Human Kind: A Hopeful History (2020), S. 193.
[16] Cook, Kitty Genovese: The Murder, the Bystanders, the Crime that Changed America (2014), S. 207; der Fall Genovese zog die Einführung eines zentralen Notrufsystems erst nach sich, vgl. https://www.pbs.org/independentlens/blog/history-of-911-americas-emergency-service-before-and-after-kitty-genovese , zuletzt abgerufen am 28. September 2024.
[17] Roberts The New York Times v. 2. September 2020.
[18] Bregman a.a.O. (Fn. 15); auch das Urteil des Polizeipräsidenten Bernhardt a.a.O. (Fn. 10) musste aufgrund der Tatsache, dass mindestens ein Beobachter die Polizei verständigt hatte, teilweise revidiert werden, vgl. Hurdle/Robertson The New York Times v. 21. Oktober 2021.
[19] Zum Folgenden Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 ff.
[20] Ausführlich Latané/Darley, The Unresponsive Bystander: Why Doesn't He Help? (1970), zu dem Fünf-Stufen-Modell siehe S. 31 ff.
[21] Dazu ausführlicher Häcker, in: Bender/Häcker/Schwarz (Hrsg.), Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5. Aufl. (2021), Rn. 52 ff., wobei dort mit Blick auf das Gehör das Beispiel genannt wird, dass ein leises Stöhnen einer Person auch – je nach Erwartung und angesprochenem Schema – als Quietschen einer Tür (miss-)interpretiert werden kann.
[22] Dazu sämtlich Häcker a.a.O. (Fn. 21), Rn. 73 ff., 114 ff.
[23] Milgram Science 1970, 1461 ff.
[24] Latané/Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 32.
[25] McMillen/Sanders/Solomon PSPB 1977, 257 ff.
[26] Nach Häcker a.a.O. (Fn. 21), Rn. 117 ff. lässt sich das so weit abstrahieren, dass die innere Verfassung generell Einfluss haben kann. Genannt ist dort u. a. das Beispiel, dass ein Beinaheunfall im Straßenverkehr dazu führt, dass man zwar weiterfahren, aber die Wahrnehmung doch beeinträchtigt sein kann.
[27] Cialdini, Die Psychologie des Überzeugens, 8. Aufl. (2017), S. 164, 182, zu den folgenden zwei Beispielen S. 185.
[28] Milgram Science 1970, 1461 ff.
[29] Häcker a.a.O. (Fn. 21), Rn. 124 ff.
[30] Latané/Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 44 ff.
[31] Cialdini a.a.O. (Fn. 27), S. 185 f.
[32] Latané /Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 33.
[33] Ausführlich Latané/Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 79 ff.
[34] Vgl. auch das Experiment bei Latané/Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 81 ff., in dem die Probanden im Nachhinein Erklärungen dafür fanden, warum sie nicht von einem Notfall (es ging um einen vermeintlich eskalierten Streit zwischen zwei Kindern, den die Probanden mitangehört hatten) ausgingen: So behauptete die Mehrheit, die keine Hilfe geholt hatte, dass der Streit unmöglich echt gewesen sein konnte. Eine Kontrollgruppe, die man im Vorhinein aus einer möglichen Verantwortung, Hilfe zu holen, entbunden hatte, weil sie von anderweitiger Hilfe ausgehen konnten, ging aber wie selbstverständlich davon aus, dass der Streit echt war. Es liegt mithin nahe, dass diejenigen, die nicht eingegriffen hatten, obwohl sie womöglich die Einzigen waren, die eingreifen konnten, sich selbst davon überzeugten, dass kein Notfall vorlag. Entsprechend lassen sich auch die Erklärungen der Menschen in dem Fall Genovese deuten.
[35] Clark/Word J Pers Soc Psychol. 1972, 392 ff.
[36] Shotland /Heinold J Pers Soc Psychol. 1985, 347 ff.
[37] Vgl. oben I. zu Fn. 6.
[38] Jäger/Schweiter Schweizerische Ärztezeitung 2005, 1940, 1941.
[39] Jäger/Schweiter Schweizerische Ärztezeitung 2005, 1940, 1941, mit Verweis auf Cook/Woods, in: Bogner (Hrsg.), Human error in medicine, 1. Aufl. (1994), S. 255 ff.
[40] Zu dem Phänomen des hindsight bias insgesamt Schweizer a.a.O. (Fn. 6), Rn. 619 ff.; Vogel/Berndt medstra 2020, 271.
[41] Jäger/Schweiter Schweizerische Ärztezeitung 2005, 1940, 1941.
[42] Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 ff.
[43] Zum Folgenden Moriarty J Pers Soc Psychol . 1975, 72 ff.
[44] Cialdini a.a.O. (Fn. 27), S. 185; Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 ff.; Latané/Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 87 ff.
[45] Latané/Darley a.a.O. (Fn. 20), S. 33 f.
[46] BGH 1 StR 792/92 – Urteil v. 12. Januar 1993, Rn. 13, zit. nach juris.
[47] Shotland /Heinold J Pers Soc Psychol. 1985, 347 ff.
[48] Zu diesem Kompromisseffekt in anderen Zusammenhängen Schweizer a.a.O. (Fn. 6), Rn. 751 ff.
[49] Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 ff.; ausführlicher schon oben bei der 2. Stufe m. w. N.
[50] Zum Folgenden sämtlich Philpot /Liebst/Levine/Bernasco/Lindegaard Am Psychol. 2020, 66 ff.
[51] Wiewohl es Fälle gibt, in denen mehr als eine Person nicht helfen kann, ist es doch bei Gewalttaten oft anders. Hilft dann nur eine Person, könnten sich die anderen nach § 323c StGB zumindest anfangsverdächtig gemacht haben.
[52] Fischer a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 11 f.
[53] Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 323c Rn. 16 m. w. N.
[54] Shotland /Heinold J Pers Soc Psychol. 1985, 347 ff.
[55] Zuletzt etwa BGH medstra 2022, 386, 390 = HRRS 2022 Nr. 800, Rn. 37.
[56] Fischer a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 2; Gaede a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 1; v. Heintschel-Heinegg, in: ders./Kudlich (Hrsg.), BeckOK StGB, 63. Ed. (2024), § 323c Rn. 3.
[57] v. Heintschel-Heinegg a.a.O. (Fn. 56), § 323c Rn. 1.1; Hecker a.a.O. (Fn. 53), § 323c Rn. 1.
[58] Zur interdisziplinären Abhängigkeit der Rechtsanwendung und dem Anwendungsbereich von "Alltagstheorien" Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018), Rn. 304.
[59] Etwa zur Frage, ob die Hilfe noch rechtzeitig ist, wenn dem Hilfspflichtigen eine "Schrecksekunde" zugebilligt werden muss, was angesichts der Bystander-Forschung mit der h. M. nicht nur angenommen, sondern auch eher extensiv interpretiert werden sollte; vgl. dazu Gaede a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 15.
[60] BGH NJW 1962, 1212, 1213 f.; Hecker a.a.O. (Fn. 53), § 323c Rn. 14.
[61] Fischer a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 28.
[62] Fischer a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 29 f.
[63] Gaede a.a.O. (Fn. 1), § 323c Rn. 13; Hecker a.a.O. (Fn. 53), § 323c Rn. 25.
[64] BGH NJW 1954, 728, 729; BayObLG NJW 1957, 354; AG Saalfeld NStZ-RR 2005, 142, 143.
[65] BGH NStZ 2024, 481, 482 = HRRS 2024 Nr. 760 Rn. 9.
[66] BGH NJW 1955, 1680, 1690.
[67] Gaede, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. (2020), § 15 Rn. 15.
[68] Kudlich, in: v. Heintschel-Heinegg/Kudlich (Hrsg.), BeckOK StGB, 63. Ed. (2024), § 15 Rn. 23; Gaede a.a.O. (Fn. 67), § 15 Rn. 15.
[69] Vgl. zur Übertragung der Indizien auf andere Tatbestände BGH NJW 1993, 273, 274; Kulhanek, in: Erb/Schäfer (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. (2024), § 16 Rn. 70.
[70] Vgl. dazu BGH NStZ 1994, 483, 484.
[71] BGH NStZ 2020, 218 = HRRS 2019 Nr. 1331.
[72] Schneider , in: Erb/Schäfer (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl. (2021), § 212 Rn. 23.
[73] BGH NStZ 2014, 84, 85 = HRRS 2013 Nr. 939 Rn. 10.
[74] Vgl. BGH NStZ 2014, 84, 85 = HRRS 2013 Nr. 939 Rn. 9 f.
[75] BGH NStZ-RR 2006, 317, 318 = HRRS 2006 Nr. 127 Rn. 26.
[76] Zu einer Ausnahmekonstellation siehe LG Weiden 1 Ks 21 Js 8059/20, Urt. v. 20. August 2021.
[77] Vgl. dazu oben C.
[78] Kritisch zu einem Automatismus dergestalt Vogel JR 2024, 419, 422.
[79] Schneider a.a.O. (Fn. 72), § 212 Rn. 12.
[80] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017.
[81] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 2 ff., zit. nach juris.
[82] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 9, zit. nach juris.
[83] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 10 f., zit. nach juris.
[84] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 13, zit. nach juris.
[85] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 14 ff., zit. nach juris.
[86] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 27, zit. nach juris.
[87] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 28, zit. nach juris.
[88] AG Essen-Borbeck 3 Ds-70 Js 654/16-252/17, Urt. v. 18.09.2017 , Rn. 22, zit. nach juris.
[89] Vgl. nur https://www.fbb-baden-baden.de/fokus/buerger/viele-menschen-landen-unverschuldet-auf-der-strasse , zuletzt abgerufen am 28. September 2024: "Die meisten, die zu uns kommen, würden Sie auf der Straße nicht als Obdachlose erkennen. Die meisten sind ordentlich angezogen, sie können sich[bei der Wohnungslosenhilfe der Caritas] die Haare schneiden lassen und duschen".
[90] So auch Popp, in: Cirener/Radtke/Rissing-van Saan/Rönnau/Schluckebier (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 18, 13. Aufl. (2022), § 323c Rn. 127.
[91] Vgl. nur die den Angeklagten von dem Richter zugeschriebene "Scheißegal-Haltung", https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/ag-essen-borbeck-unterlassene-hilfeleistung-bank-geldstrafe, zuletzt abgerufen am 28. September 2024.
[92] Mit zahlreichen Nachweisen Sander, in: Schäfer/Sander/van Gemmeren (Hrsg.), Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl. (2024), Rn. 577 ff.
[93] Schneider, in: Cirener/Radtke/Rissing-van Saan/Rönnau/Schluckebier (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 4, 13. Aufl. (2020), § 46 Rn. 84.
[94] BGH 4 StR 545/01, Beschl. v. 21. Februar 2002, Rn. 3, zit. nach BeckRS.
[95] LG Weiden 1 Ks 21 Js 8059/20, Urt. v. 20. August 2021.
[96] LG Weiden 1 Ks 21 Js 8059/20, Urt. v. 20. August 2021, Rn. 442, zit. nach BeckRS.
[97] LG Weiden 1 Ks 21 Js 8059/20, Urt. v. 20. August 2021, Rn. 212 ff., zit. nach BeckRS.
[98] LG Weiden 1 Ks 21 Js 8059/20, Urt. v. 20. August 2021, Rn. 439, zit. nach BeckRS.
[99] LG Weiden 1 Ks 21 Js 8059/20, Urt. v. 20. August 2021, Rn. 57, 76, zit. nach BeckRS.
[100] Darley /Latané J Pers Soc Psychol. 1968, 377 ff.