HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2024
25. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

ANOM oder: wie der Rechtsstaat Unrecht produzieren kann

Von RA Prof. Dr. Ulrich Sommer, Köln

1. Die neuen Polizeistrategien

Während Prinzipien wie "rule of law" von westlichen Demokratien in der Diaspora autokratischer Staaten als unverzichtbares Element rechtsstaatlicher Werte angepriesen werden, arbeitet die heimische Rechtsprechung an deren Demontierung. Hebel für die Desavouierung nationaler legislativer Begrenzung richterlicher Strafmacht ist die Beschwörung der internationalen demokratischen Wertegemeinschaft. "Rechtshilfe" unter demokratischen Staaten und "Respekt" gegenüber ermittelnder ausländischer Justiz ist die Tarnkappe, um Berechenbarkeit und Transparenz strafrichterlicher Machtausübung zugunsten der unlimitierten Verbrechensverfolgung zu verdrängen. International überwachte kryptierte Mobiltelefone waren zuletzt für diese Tendenz das ideale Experimentierfeld.

"Encrochat" und "SkyECC" waren die ersten Annäherungen an den Abgrund, "ANOM" bereitet den Absturz vor.

Der Versuch des permanenten Ausleuchtens eines justiziellen Dunkelfeldes lohnt. Die Rechtsprechung begleitet mit zum Teil verschwurbeltem Argumentationsduktus wohlwollend den Weg der internationalen Polizeiarbeit zur Implantierung geheimdienstlicher Methoden in den Strafprozess. Drei Jahre gerichtlicher Befassung haben gezeigt: Aus den zunächst als singuläre Zufallsprodukte in Gerichtssälen präsentierten digitalen "Beweisergebnissen" schält sich allmählich die Struktur moderner polizeilicher Überwachungsstrategien. Wo der Marsch zu Totalüberwachung und Vorratsdatenspeicherung abseits legislativer Vorgaben hinführt, liegt auch in den Händen der Strafjustiz.

Dass der Umgang mit ANOM eine Kehrtwendung oder wenigstens Reduzierung des bisherigen Beifalls der Rechtsprechung zur Komplettüberwachung einzelner Kommunikationsanbieter zur Folge haben könnte, darf aktuell bezweifelt werden. Die Entscheidung des OLG München[1] zur Unverwertbarkeit der ANOM-Daten blieb singulär. Ohne vertiefende Argumentation haben der BGH[2] und zahlreiche andere Oberlandesgerichte deutlich gemacht, dass sie mit der Verwertung dieser Daten sympathisieren.[3]

Dabei geraten die Besonderheiten der Konstruktion, des Vertriebs und der Überwachungsorganisation von ANOM aus dem Blickfeld. ANOM beruht auf einer vom US Geheimdienst FBI entwickelten, weltweit vertriebenen und überwachten Digitalplattform; Mobilfunkgeräte wurden im staatlichen Auftrag mit geheim gehaltenen Überwachungsinstrumentarien unkontrolliert an Bürger westlicher Staaten verkauft. Der bisherige Argumentationsansatz des BGH ist auf diese Konstellation nicht übertragbar.

2. Die bislang bekannten Fakten zu ANOM

ANOM ist wie alle Krypto-Überwachungen geheim. Aus allgemein zugänglichen Quellen[4], Vermerken der GenStA Frankfurt und des BKA sowie auf Grund von Recherchen skeptischer Strafkammern[5] darf man von folgendem ausgehen:

Das FBI ist die zentrale Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten, in der sowohl Strafverfolgungsbehörde als auch Inlandsgeheimdienst der US-Bundesregierung zusammengefasst wird. Als Nachrichtendienst betreibt das FBI die Vorfeldaufklärung möglicher Bedrohungen unabhängig von einem konkreten Verdacht. Daneben leistet das FBI auch im Wege der Amtshilfe technische Unterstützung für andere Ermittlungsbehörden. Nach Erfahrungen mit anderen Kryptohandy-Anbietern entwickelte das FBI eine eigene verschlüsselte Geräteplattform. Die präparierten ANOM-Handys wurden als neue, hoch entwickelte und insbesondere abhörsichere Geräte vermarktet. Tatsächlich konnte die stattfindende Kommunikation vom FBI jedoch vollständig mitgelesen werden.

Der Vertrieb sollte sich auf "kriminelle Kreise" beschränken. Letztendlich war die Verkaufs-Selektion aber nicht transparent. Deutsche Verfahren lassen nur den Schluss auf einen weitgehend unkontrollierten und wahllosen Vertrieb zu. Der amerikanische Geheimdienst hatte die Vorgabe, keine US Bürger zu überwachen. Nach dem Vorbild von Guantanamo durfte der die Daten sammelnde Server nicht auf amerikanischem Hoheitsgebiet installiert werden. Ein erster Server wurde deswegen in Australien gehostet, dessen Gerichte untersagten jedoch die Weitergabe der Daten an die USA und weitere Staaten.

Das FBI installierte daraufhin im Sommer 2019 einen Server in einem anderen bis heute unbekannten Land. Hierbei soll es sich um einen EU-Staat handeln. Das FBI hält diesen Staat ebenso geheim wie den von ihm behaupteten gerichtlichen Beschluss, auf dessen Basis ab Oktober 2019 Kommunikationsdaten gesichert und an das FBI weitergeleitet wurden. Ab September 2020 erhielt das BKA über das FBI die Gelegenheit, über deren Analyseplattform die aufgezeichneten Chats einzusehen. Spätestens von diesem Zeitpunkt an war deutschen Behörden geläufig, dass ein ausländischer Spionagedienst auf deutschem Boden geführte Kommunikation ohne jede Genehmigung eines deutschen Richters mit dem Ziel strafrechtlicher Verfolgung überwachte. Gleiches gilt für EUROPOL, wo noch im Oktober 2020 eine spezialisierte Taskforce gegründet wurde. Für den 7.6.2021 war vom FBI ein "Action Day" geplant, an dem polizeiliche Zugriffe weltweit durchgeführt wurden. Seitdem soll es keine Überwachungen mehr geben.

Die gesicherten Nachrichten umfassen Textnachrichten, Fotos, Videos und Audio-Nachrichten. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main stellte am 21.04.2021 und am 28.09.2021 Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Justizbehörden, woraufhin die ANOM-Daten über das Bundeskriminalamt übermittelt wurden. Mit Schreiben vom 03.06.2021 erteilte das FBI die Erlaubnis zur offiziellen Verwendung der Daten in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. In diesem Zusammenhang stellte das FBI jedoch ausdrücklich klar, dass es keine

Zusicherungen hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung, wie etwa in Bezug auf Zeugenaussagen oder Dokumentenauthentifizierung im Rahmen von Gerichtsverfahren, macht.

Aktuell werden den deutschen Gerichten "aufbereitete" Chatprotokolle und andere Daten präsentiert, deren Authentizität und Vollständigkeit kein Richter überprüfen kann. Die Software zum Datensammeln und deren Weiterleitung ist ebenso unbekannt wie die Namen der verantwortlich Handelnden. Zur Herkunft der "mitgelieferten" Standortdaten werden keinerlei Angaben gemacht.

3. Die Rechtsstaatswidrigkeit der Totalüberwachung von Krypto-Handys

Der strafprozessuale Umgang mit ANOM-Daten folgt in vielen Bereichen der bislang zu EncroChat geführten rechtlichen Diskussionen. Die Bedenken gegen die Verwertbarkeit derartiger Daten hat auch die Leitentscheidung des BGH[6] nicht verstummen lassen. Insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den letzten Monaten macht die Unvertretbarkeit der deutschen EncroChat-Verdikte deutlich.

Auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[7] brachte keine Klärung. Die Verletzung von Grundrechten der Betroffenen steht nach wie vor im Fokus. Das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelnde Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung steht durch die Überwachung der Kommunikation zur Disposition. Der Zugriff auf die Server und Endgeräte ist ein Eingriff in das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nach Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG. Tangiert ist darüberhinaus das Fernmeldegeheimnis nach Art.10 GG. Unmittelbar betroffen sind die Kommunikationsgrundrechte der Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 EMRK.

Die Legitimation der massiven Verletzungen steht nach wie vor aus. Statt innovativen polizeilichen Eingriffen eine verfassungsrechtliche Klarstellung der Reichweite der tangierten Grundrechte entgegenzuhalten, hat sich das BVerfG bislang im wesentlichen darauf beschränkt, sich angesichts behaupteter formeller Mängel des konkreten Beschwerdevorbringens einer Positionierung zu entziehen. Darüberhinaus wurde getreu dem reaktivierten richterlichen Motto "Rechtsprobleme lösen wir im Tatsächlichen"[8] der zu bewertende Sachverhalt prozessual so weit verkürzt, dass die entscheidenden Fragen ausgeklammert werden konnten. Den digitalen Beweismitteln wurde kein verfassungsrechtliches Zertifikat verliehen, die Beschwerde gegen die EncroChat billigende BGH-Entscheidung wurde lediglich als unzulässig verworfen.

a. Fehlender Anfangsverdacht

Die Massenüberwachung und deren Vorratsdatenspeicherung der Kommunikationsdaten ist nach deutschem Recht verboten. Es existiert keine entsprechende Ermächtigungsgrundlage. Dies gilt erst recht, weil regelmäßig bei dem Zugriff keinerlei Anfangsverdacht irgendeiner Straftat gegen den Betroffenen existierte.

§ 100b StPO gibt keine legislativen Anhaltspunkte für die generelle Zulässigkeit einer solchen Maßnahme. Auch über § 100 e Abs. 6 Nr. 1 StPO lässt sich die Verwertung ausländischer Daten nicht rechtfertigen. Die strafprozessuale Maßnahme der Online-Durchsuchung ist in ihrer einzelfallbezogenen Zielgerichtetheit niemals geeignet, eine massenhafte und ungezielte Anwendung gegen Tausende Personen zu legitimieren, wie sie ANOM beabsichtigte und realisierte.[9]

Vor diesem Hintergrund verbietet sich auch ein "Rückgriff" auf die Auffangermächtigungsgrundlage des § 261 StPO, die ebenso ritualisiert wie unbegründet von der Rechtsprechung vorgetragen wird.[10] Denn § 261 StPO bezieht sich auf die nachfolgende Bewertung rechtmäßig erhobener Beweise und ist als viel zu allgemein gefasste Norm weder dazu geeignet noch dazu bestimmt, den in der Datenverwendung und -verwertung liegenden grundrechtlichen Eingriff zu legitimieren.[11] Vielmehr tritt durch die spezielleren §§ 100b ff. StPO insofern eine Sperrwirkung ein. Deren strengere Voraussetzungen können nicht durch ein Ausweichen auf § 261 StPO umgangen werden.

Eine Rechtfertigungslinie der deutschen Rechtsprechung in der Verwertungsdiskussion bestand darin, mühsam einen Anfangsverdacht zumindest bei den ausländischen Ermittlungen zu konstruieren; jeder Nutzer eines Handys setzte sich automatisch einem kriminellen Verdacht aus. Dem ist mittlerweile der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deutlich entgegengetreten: Die bloße Nutzung eines verschlüsselten Kommunikationsmittels oder die Verwendung anderer Formen zum Schutz der eigenen Privatsphäre können nicht allein als Element angesehen werden, um einen strafrechtlich relevanten Verdacht zu begründen.[12] Es verstößt gegen das Legalitätsprinzip und die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit, wenn aus dem Profil und dem Austausch mithilfe von Kryptotelefonen entscheidende Rückschlüsse auf die

gesamte Nutzerbasis gezogen werden, ohne dass konkrete Inhalte oder Informationen zu einem bestimmten Beschuldigten vorliegen.[13] Ein Verdacht kann daher nicht allein auf der Nutzung eines bestimmten Mobiltelefons gründen.[14] Der EGMR hebt als legitimierende Eingriffsvoraussetzung den Anfangsverdacht auf ein menschenrechtliches Niveau und formuliert damit die vom BGH nicht aufgefundenen rechtsstaatlichen Grundsätze, die auch vom den Beweis erhebenden Drittstaat zu beachten sind – deren Einhaltung bei ANOM allerdings nicht im entferntesten in Sicht ist.

b. Vorratsdatenspeicherung

Die polizeilichen und geheimdienstlichen Sicherungen der Daten von Encro-Chat, SkyECC und ANOM sind jeweils Vorratsdatenspeicherung par excellence. Ohne konkreten Anlass und ohne konkretes Ziel wurden Kommunikationsdaten gesammelt und abgespeichert. Zum Teil Jahre nach der Abspeicherung wurde deren mögliche Verwendbarkeit in einem konkreten Fall von den Ermittlungsbehörden bemerkt. Dass die zwischenzeitliche Lagerung höchstpersönlicher Kommunikationsdaten europarechtlich ohne die Orientierung an rationalen, gesetzlich fixierten Kriterien unzulässig ist, hat der EuGH mehrfach judiziert.[15] Dass der Gerichtshof es jedenfalls theoretisch für möglich hält, derartige Daten zur Bekämpfung schwerster Kriminalität zu nutzen (Konkretisierungen insoweit allerdings offen ließ), erscheint den Ermittlungsbehörden in dieser Allgemeinheit allerdings als ausreichende Legitimation für ihr Tun.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nunmehr menschenrechtliche Grenzen für diese Ermittlungsstrategie gezogen. Die schlichte Pflicht zur Aufbewahrung von Kommunikationsdaten für 18 Monate, wie sie das russische Gesetz den nationalen Kommunikationsanbietern vorschrieb, ist nach Ansicht des Gerichtshofs schon deswegen als unverhältnismäßiger Verstoß gegen die Kommunikationsfreiheit (Art. 8 EMRK) zu bewerten, weil die Vorratsspeicherung der gesamten Internetkommunikation aller Nutzer dem unmittelbaren Zugriff der Sicherheitsdienste auf die gespeicherten Daten ohne angemessene Garantien gegen Missbrauch erfolgte. Erst recht sei der betroffene Anbieter Telegram nicht wirksam verpflichtet, zur Entschlüsselung der kryptierten Kommunikation den Behörden die notwendigen digitalen Codes zur Verfügung zu stellen.[16] Es gab keine gesetzlichen Leitlinien für die Nutzung und keine Rechtsmittel der Betroffenen. Wenn der EGMR den wahllosen Zugriff auf sämtliche Nutzerdaten eines Serviceanbieters schon deswegen für menschenrechtswidrig erachtet, weil es für die Details der Speicherung und Nutzung keine transparenten gesetzlichen Leitlinien gab, ist der rechtsstaatliche Verstoß bei ANOM ebenso ersichtlich wie bei EncroChat und SkyECC. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip konkretisierende Regeln gibt es bei Zugriff und Speicherung hier nicht, Polizei und Geheimdienst üben sich im schwerelosen freestyle.

c. Kein Rechtsbehelf gegen Grundrechtseingriffe

Wie bei den anderen Krypto-Modellen ging es bei der Infiltration von ANOM nicht darum, vorhandene strafrechtliche Anhaltspunkte zu vertiefen. Im Kern sollten erst diejenigen Sachverhalte in Erfahrung gebracht werden, die einen Anfangsverdacht oder weitergehende Bewertungen ermöglichten. Auch wenn der EuGH eine Vorratsdatenspeicherung zu Zwecken der Strafverfolgung schwerer Kriminalität nicht für völlig ausgeschlossen erachtet, hat er immer die Notwendigkeit der Fixierung geeigneter Garantien für die Datensicherheit sowie gegen missbräuchliche Datenverwendung gefordert. Nichts dergleichen findet sich bei ANOM. Die Intransparenz des geheimdienstlichen Tuns verschleiert jeden missbräuchlichen Umgang. Während bei EncroChat noch der Schein einer (ineffektiven) partiellen rechtlichen Überprüfung durch französische Gerichte bemüht wird,[17] bewegt sich der ANOM-Nutzer in einem justiziellen Nirwana.

Die Rechtlosigkeit der Betroffenen, die bereits bei EncroChat und SkyECC angeprangert wurde, potenziert sich bei ANOM. Wie bei Guantanamo wurde der gesamte Vorgang von der amerikanischen Behörde in einen letztlich rechtlosen Raum verlegt. Kein einziger der Betroffenen kann Aufklärung über die Art und Weise seiner Grundrechtsverletzungen erlangen, erst recht können staatliche Akteure nicht zur Verantwortung gezogen werden.

d. Fehlende richterliche Genehmigung

Ausländische Exekutiven überwachten den Kommunikationsverkehr im Inland. Das BKA wusste dies, zumindest im Verlauf des Zugriffs. Unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt ist ein solcher Eingriff in Grundrechte im staatlichen Machtbereich der Bundesrepublik Deutschland ohne Genehmigung eines deutschen Richters denkbar - erst recht nicht, wenn er von ausländischen Polizeidienststellen oder Geheimdiensten unternommen wird.[18] Die unbedingte Pflicht, eine richterliche Genehmigung zur

Überwachung des Telekommunikationsverkehrs auf deutschem Boden einzuholen, haben die deutschen Ermittlungsbehörden durch Ignoranz umgangen und dadurch eine irreversible Verletzung des Richtervorbehalts bewirkt.

Insoweit hat der EuGH[19] das großzügige laisser-faire des Bundesgerichtshofs bereits zurechtgestutzt. Die Notwendigkeit einer richterlichen Überwachung selbst nach Art. 31 Abs. 1 EEA-RL hat im Gegensatz zur Ansicht des BGH individualschützenden Charakter. Wenn der EuGH allein die Konsequenzen dieser Rechtsverletzung dem nationalen Recht überlässt, ist das Ergebnis vorgegeben: die bewusste Umgehung des den Grundrechtsschutz in besonderer Weise garantierenden Richtervorbehalts führt in der Regel zu einem Beweisverwertungsverbot.[20]

Eine nachträgliche gerichtliche Genehmigung – so der EGMR - würde nur einen untauglichen und verzweifelten Versuch darstellen, die rechtswidrig erhobenen Beweise rechtmäßig und zuverlässig zu machen[21], um die staatlich verursachte Ignoranz zu camouflieren.

e. forum shopping

Wenn der Bundesgerichtshof noch in seiner Entscheidung zu EncroChat meinte, mangels konkreter Anhaltspunkte die Augen vor der Überprüfung verschließen zu können, ob deutsche Ermittler die unübersteigbaren Hürden deutscher Gesetze durch Kooperation mit ausländischen Ermittlern umgangen haben, lässt die Erweiterung des allgemeinen Kenntnisstandes diese richterliche Weigerung als überholt erscheinen. Fest steht, dass sowohl bei Encro-Chat als auch bei SkyECC die deutschen Ermittler durch vorhergehenden Informationsaustausch im Zeitpunkt des Grundrechtseingriffs wussten, dass ausländische Behörden im Inland Kommunikationsgeräte infiltrierten. Diskutabel erscheint aktuell allenfalls, ob das BKA "nur" zuschaute oder auch hier schon organisatorisch mitwirkte. Beide Varianten desavouieren das deutsche Gesetz und decouvrieren den Willen zum Rechtsbruch derart massiv, dass auch nach der laxen Vorstellung des BGH über die Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbots eine Schuldüberzeugung niemals auf ein solches Ermittlungsergebnis gestützt werden kann.

Wird ohne Anfangsverdacht auf deutschem Territorium durch eine EU-Exekutive digital ermittelt, werden die Konsequenzen durch den verharmlosenden Begriff des forum-shoppings allenfalls verschleiert. Faktisch geht es um Ausübung von staatlicher Macht ohne demokratische Legitimation.

Die ANOM-Umstände sind noch deutlicher. Es gab während laufender Kommunikationszugriffe von Amerikanern und möglicherweise anderen europäischen Ermittlern konkrete Arbeitsgruppen zu diesen Ermittlungen, an denen deutsche BKA-Ermittler beteiligt waren. Das BKA wusste um die Gesetzeswidrigkeit der Maßnahme, an der es mitarbeitete.

Auch wenn die Verantwortlichkeit deutscher öffentlicher Gewalt an seinen Grenzen endet, eine Beeinflussung oder gar Steuerung der FBI-Aktion durch das BKA ausgeschlossen erscheint, ist die Mitwirkung an einer rechtsstaatswidrigen Umgehung nationaler Gesetzes-grenzen durch Wahrnehmung transnationaler Kooperation evident. Mit dem Begriff forum shopping kann rechtsstaatswidrige Vorgehensweise von Ermittlung nicht durch die Ausübung öffentlicher Macht im Ausland erfasst werden, sondern allein eine durch schlichte Kooperation mit ausländischen Ermittlungsbehörden erreichte Umgehung deutscher Machtbeschränkung. Die Qualität einer solchen Beeinflussung mag differieren, sie ist regelmäßig kausal für das gesetzeswidrige Ergebnis. Strafjuristen ist spätestens seit der Akzeptanz der Strafbarkeit eines mittelbaren Täters geläufig, dass auch externe Einflussnahme ausreichend sein kann, um eine persönliche Verantwortlichkeit zu begründen. Gemessen an dogmatischen Strafrechtsfiguren liegt schon in der bestärkenden Kommunikation in internationalen Arbeitsgruppen eine Beihilfe vor, wenn zwangsläufig die erörterte Maßnahme eine Kommunikation auf deutschem Staatsgebiet beinhaltet und damit in der Sache auf eine inländische Ermittlungsmaßnahme hinausläuft.

Ein rechtsstaatswidriges forum shopping kann nicht von der Intensität eines fördernden Beitrages eines deutschen Beamten abhängig gemacht werden. Beim ANOM-forum-shopping agierte das BKA auch dann entscheidend rechtsstaatswidrig, wenn – um im Bild zu bleiben - es nur die Einkaufstüte des primär Handelnden trug.

f. Verhinderung von Verteidigung

Dass Richter nichts über die Zuverlässigkeit der Daten wissen wollen, ist rechtswidrige Realität in Deutschland.

Die Aufgabe des Strafgerichts, sich ohne jeden vernünftigen Zweifel von der Qualität und Zuverlässigkeit von Beweismitteln zu überzeugen, ist abgelöst von dem Phänomen, dass das Ergebnis eines komplett intransparenten Ermittlungsverfahrens "blind" übernommen wird. Diese Art von selbst produzierter richterlicher Blindheit verstößt gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Der BGH bestreitet dies, der EGMR hat nunmehr das Gegenteil deutlich gemacht, indem er kritisierte, dass die nationalen Gerichte sich lediglich auf ein undatiertes und von einem unbekannten Verfasser stammendes Dokument stützten, das lediglich die Nutzung eines Krypto-Messengers zeigt, ohne zu berücksichtigen, wie diese Daten ermittelt wurden,[22] oder sogar nur auf eine angeblich rechtmäßige Datenerhebung abstellten, ohne zu erwähnen, wie die Integrität der Daten in jeder Hinsicht gewährleistet wurde.[23]

Bei allem Respekt des EGMR vor den nationalen Strafrichtern stellt er eindeutig deren eingeschränkte Kompetenz in "Krypto-Verfahren" fest. Denn aufgrund der Art der

Verfahren und der Komplexität der Technologie muss dem juristisch gebildeten Richter eine reduzierte Fähigkeit attestiert werden, die Authentizität, Genauigkeit und Integrität der Beweismittel feststellen zu können.[24] Deutsche Richter ignorieren dieses Defizit.

Die übliche richterliche Gleichgültigkeit wird kein Angeklagter an den Tag legen können, wenn zweifelhafte Papiere der einzige Anlass sind, ihn jahrelang seiner Freiheit zu berauben. Das Menschenrecht auf effektive Verteidigung (Art. 6 Abs.3 lit. c MRK) beinhaltet essentiell das Überprüfen von Beweismitteln, erst recht der einzig vorhandenen Beweismittel. So wie er jeden Zeugen durch intensives Befragen examinieren kann ("to examine the witness"), muss der Verteidiger die Chance zur Überprüfung technischer Vorgänge haben. Hierzu bedarf es der Information über die Umstände der Überwachung, wie sie beispielsweise in § 100a Abs. 5, 6 StPO vorgesehen sind. Den Anspruch der Verteidigung auf vollständige Übermittlung aller Daten hat der EGMR in einem Fall gegen die Türkei deutlich gestärkt.

Der EGMR zeigt, dass es ein wichtiger Schritt zur Wahrung der Verteidigungsrechte wäre, dem Angeklagten die Möglichkeit zu geben, sich mit den entschlüsselten Daten, die ihn betreffen, vertraut zu machen, insbesondere, wenn die Urteilsgründe nur auf diesen Daten beruhen, während die übrigen Beweise nur als Bestätigung dieser Daten dienen.

Denn die gesamten (auch unveröffentlichten) Datensätze können stets Elemente enthalten, die es ermöglichten, sich zu entlasten oder die Zulässigkeit, Zuverlässigkeit, Vollständigkeit oder den Beweiswert anzufechten.[25] Da gerade elektronische Daten anfälliger für Zerstörung, Beschädigung, Veränderung oder Manipulation sind,[26] ist der überprüfbare Nachweis der Authentizität der Daten – einschließlich des Datentransports – Gegenstand von Verteidigungsbemühungen.

Daher hat der Angeklagte nicht nur ein Recht auf Zugang zu den Beweis-Daten, sondern ebenso ein Recht herauszufinden, wie diese Daten erstellt wurden. Dies gilt umso mehr, wenn schon die Umstände, unter denen die Daten ermittelt und abgerufen wurden, prima facie Zweifel an ihrer Qualität aufwerfen.[27]

Wenn die Verteidigungsmöglichkeit und Gleichheit der Waffen in Krypto-Verfahren nicht nur ein theoretisches Konstrukt bleiben soll, ist es essenziell, dass geeignete Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen, um eine effektive Anfechtung zu ermöglichen. Die staatliche Verantwortung zur Realisierung des Verteidigungsrechts auf Überprüfung der Zuverlässigkeit und Integrität der Beweise aus erster Hand steigt, wenn er aus legitimen Gründen anderweitige Informationen zurückhält.[28]

Diese Verteidigungsmöglichkeit ist dem Angeklagten in Krypto-Verfahren genommen. Er kann keine Fehlerquellen aufdecken. Er kann nicht unzutreffende oder unvollständige Chat-Darstellungen bemängeln. Im Gegenteil: Bei ANOM verhindert das FBI konsequent, dass irgendwelche Erkenntnisse jenseits der von ihm selbst selektierten und gelieferten Daten jemals das Licht eines Gerichtssaals erblicken. Dem Angeklagten wird dadurch die Möglichkeit geraubt, ein faires Gleichgewicht herzustellen.[29]

Der Angeklagte eines ANOM-Verfahrens ist verteidigungslos gestellt.

4. ANOM Unrecht

Selbst auf der Basis der BGH Rechtsprechung zu EncroChat können die ANOM-Daten nicht als Beweismittel in einem Strafprozess herangezogen werden. Das Argument des gegenseitigen Vertrauens hat schon innerhalb der EU keinen Wert, wenn keine rechtliche Grundlage für die Datenerhebung besteht.[30] Bei der Involvierung des FBI ist der gute Glaube und das Vertrauen sodann völlig wertlos (a.). Die vor einer Verwertung vom BGH selbst gesetzten Grenzen der "Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards" sind überschritten, da die Aktivität eines außereuropäischen Geheimdienstes das Trennungsgebot der deutschen Rechtsordnung pulverisiert (b.), darüberhinaus die menschenrechtswidrige Förderung der zu verurteilenden Straftat durch staatliche Initiative dem staatlichen Strafanspruch die Legitimation nimmt (c.) und letztlich durch das ermittlungstaktische Mittel der Täuschung staatliche Machtausübung sich außerhalb jedes vorstellbaren Aktionsfeldes in einem demokratischen Rechtsstaat bewegt (d.).

a. Kritiklose Übernahme fremder Ermittlungsergebnisse im Rechtshilfeverkehr

Der entscheidende Hebel, um sich in der Encro-Chat-Entscheidung von den Bindungen nationalen Rechts zu lösen, war für den BGH das EU-Recht. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen (Art. 82 Abs. 1 AEUV) sollte die weitgehend unüberprüfbare Übernahme von Ermittlungsergebnissen anderer EU-Länder legitimieren. Die EU-Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln sollte zertifiziert werden, auch auf Kosten der Zerstörung der Regelungsbalance nationaler Prozesskodifikationen.

Auf ANOM-Daten sind diese Überlegungen nicht anwendbar. Das in der EU installierte Vertrauensprinzip geht nicht so weit, Beweismittel lediglich auf das Gerücht hin zu verwerten, dass irgendwie ein nicht bekannter EU-Staat in die Beweisgewinnung verwickelt sein soll. Vertrauen setzt ein Minimum an Transparenz voraus. Das Wesen einer gerichtlichen Entscheidung in der EU wurzelt nicht in blindem Vertrauen, sondern gerade in der Überprüfbarkeit einer an gesetzlichen Normen orientierten Argumentation. Einer nicht zugänglichen Gerichtsentscheidung kann auch in der EU nicht vertraut werden.

Im übrigen muss das Vertrauen schon deswegen erschüttert sein, weil es keine unmittelbaren Rechtshilfebeziehungen zwischen Deutschland und dem unbekannten EU Land gibt. Deutsche Gerichte haben die Beweismittel über das BKA vom FBI erhalten. Dass – gerüchteweise – diese Daten vorher aus einem EU Land an das FBI geliefert worden waren, legitimiert nicht beim Datentransfer vom FBI an das BKA die Anwendung europäischen Rechts. Die Basis eines wie auch immer gearteten Vertrauens innerhalb der EU muss schon deswegen zerbröckelt sein, weil es keinerlei Informationen zur Art und Weise des Umgangs des FBI mit den zunächst angelieferten und dann dem BKA überlassenen Daten gibt.

Der gesamte Vorgang gibt einem verantwortungsbewussten Strafrichter allenfalls Anlass zu Misstrauen.[31]

b. Das Trennungsprinzip

Die Beweismittel werden nicht von einer hierfür verantwortlichen Justiz übermittelt, sondern von einem ausländischen Geheimdienst. Die strafprozessuale Übernahme von Geheimdienstinformationen ist im deutschen Recht nach dem Grundsatz des Trennungsprinzips weitgehend ausgeschlossen. Das Prinzip der Trennung hat nicht nur organisatorische, sondern konkret grundrechtsschützende Effekte. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach judiziert, dass die weitreichenden Überwachungsbefugnisse von nationalen Nachrichtendiensten verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt werden können, wenn die aus der Überwachung gewonnenen Informationen nicht ohne Weiteres an andere Behörden mit operativen Anschlussbefugnissen übermittelt werden dürfen. Ansonsten böte der Umstand, dass der Geheimdienst selbst nicht über operative Anschlussbefugnisse verfügt, den Überwachten am Ende doch kaum Schutz.[32]

Der Grundrechtschutz in einem Strafverfahren nach einer Ermittlungsgewinnung durch Nachrichtendienste ist nur dann gewährleistet, wenn ein erfolgter Eingriff sowohl nach den für den Nachrichtendienst geltenden Vorschriften[33] als auch für Ermittlungsbehörden und Strafgerichte explizit gesetzlich erlaubt ist ("Doppeltür-Modell"). Das BVerfG fordert eine "verfassungsrechtlich gebotenen Übermittlungsschwelle". Beispielhaft wird für das Strafverfahren formuliert: "Die Übermittlung an eine Strafverfolgungsbehörde … setzt voraus, dass ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegt, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind."[34] Ist ein strafprozessualer Tatverdacht für den Geheimdienst bei seinem Grundrechtseingriff weit entfernt, verbietet sich jeglicher Transfer der Erkenntnisse.

Ob die historisch gewachsene Sicherheitsarchitektur des Trennungsgebots auch verfassungsmäßig verbürgt ist,[35] mag offenbleiben. Das Transferverbot ist fraglos ein Mindeststandard der rechtstaatlich verfassten Bundesrepublik Deutschland, der durch die Beteiligung eines ausländischen Geheimdienstes nicht ausgehebelt werden darf.

c. Der Staat als Straftäter

Die Aufgabe der staatlichen Autorität in einem demokratischen Rechtsstaat ist die Verhinderung von Straftaten, nicht deren Begehung oder Förderung. Der erklärte Wille des FBI beim Verkauf der Mobilfunkgeräte ANOM war es, in der Zukunft gemutmaßte Verbrechen gerade mithilfe der als besonders abhörsicher gepriesenen Geräte begehen zu lassen. Ohne die ANOM Geräte sollten keine Verbrechen begangen werden, ohne die ANOM Geräte wären keine Verbrechen wie beabsichtigt aufgezeichnet worden.

Nach deutschem Recht stellt dies bereits die staatliche Beihilfe einer Straftat dar. Bei einer Straftat, bei der staatliche Behörden selbst Beihilfe geleistet haben, ist der Strafanspruch verwirkt; der Handelnde ist schlichtes Objekt der staatlichen Ermittlungsbehörden,[36] einem Strafverfahren gegen ihn steht regelmäßig ein Verfahrenshindernis im Weg.[37]

Dies gilt erst recht im Hinblick darauf, dass durch das FBI nicht nur ein unverzichtbares Werkzeug für eine Straftat in der Zukunft geliefert wurde, sondern der mit der Versicherung seiner besonderen Qualität garnierte Verkauf der Geräte regelmäßig eine entscheidende Animierung für einen späteren Täter war, eine solche Tat erst zu begehen.

Selbst die Hemmschwelle eines zu einer Tat noch Unentschlossenen, wurde – wie beabsichtigt – dadurch entscheidend gesenkt, dass staatliche Behörden bei dem prognostizierten Täter die Sicherheit vermittelten, die Tat werde deswegen für ihn folgenlos sein, weil das gelieferte Gerät jegliche staatliche Aufdeckung unmöglich mache.

Für die Umstände der staatlichen Straftatbeteiligung hat der EGMR klare Regeln und Konsequenzen formuliert. "Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung in diesem Zusammenhang insbesondere betont, dass das öffentliche Interesse an der Verbrechensbekämpfung die Verwendung von Beweisen, die durch polizeiliche Anstiftung gewonnen wurden, nicht rechtfertigen kann, da dies den Angeklagten der Gefahr aussetzen würde, dass ihm ein faires Verfahren von Beginn an und endgültig genommen wird. Damit ein Verfahren iSv Art. 6 I EMRK fair ist, müssen alle durch polizeiliche Anstiftung gewonnenen Beweise ausgeschlossen oder auf andere Weise vergleichbare Ergebnisse herbeigeführt Niemand darf für eine Straftat (oder Teile einer Straftat) bestraft werden, die auf eine Anstiftung der staatlichen Behörden zurückzuführen ist."[38] Für staatliche Beihilfe kann nichts anderes gelten. Die Beweislast für die fehlende Kausalität der staatlichen Tatbeteiligung – sei es Anstiftung oder Beihilfe - liegt bei den Behörden.[39]

Wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze sind verletzt, weil staatliche Autoritäten an der Produktion von Straftaten selbst beteiligt sind.

d. Installation einer illegalen Kommunikationsüberwachung durch Täuschung

ANOM ist kein "honeypot", wie es Ermittler verharmlosend bezeichnen. Es soll gerade nicht mit – legalen - Lockmitteln eine Falle gestellt werden, in die möglicherweise Kriminelle hineintappen. Vielmehr wird ein staatliches Überwachungsinstrument implementiert, dessen konkrete Verwendung ein Gesetz – sowohl deutsches als auch offensichtlich US-amerikanisches – nicht gestattet. Das Mittel der illegalen Installation ist die Lüge. FBI-Agenten tarnen sich als Mobiltelefon-Verkäufer, täuschen über die Abhörsicherheit ihrer Geräte und verschweigen, dass die Nutzung der Geräte ungewollt einer kompletten staatlichen Chat-Überwachung des Users gleichkommt. US-Pinocchios verschleiern den mit dem staatlichen Verkauf einhergehenden Grundrechtseingriff.

Das mag für Hollywood-Thriller unterhaltsam und für den FBI Geheimdienst Alltag sein. Einem fairen Umgang des Staates mit seinen Bürgern im allgemeinen und im Strafprozess im besonderen entzieht eine solche Schwindelaktion den rechtsstaatlichen Boden. Das Täuschungsverbot ist allenfalls klarstellend in § 136a StPO gesetzlich fixiert, tatsächlich ist es allgemeingültiges Prinzip des Strafverfahrens[40] und realisiert den auf Art. 1 Abs.1 GG fußenden Achtungsanspruch des Bürgers, selbst in seiner Rolle als Beschuldigter.[41]

Auch für verwertungs- und pönalisierungsfreudige OLG-Senate ist die staatliche Täuschung gegenüber den als ebenso unverdächtig wie unschuldig zu geltenden Bürger nicht von der Hand zu weisen. Wenn als argumentativer Rettungsanker die Figur der "kriminalistischen List" aktiviert wird,[42] wird endgültig allein der Ermittlungserfolg zur Richtlinie staatlicher Ermittlungstätigkeit erhoben. Die Installation von Überwachungssystemen abseits jeder Legalität reduzieren Richter schmunzelnd als polizeiliches Schelmenstück, das sich "allein" dadurch auszeichnet, "die Erwerber der ANOM-Geräte glauben zu lassen, dass die über die App geführten Chats durch eine undurchdringliche Verschlüsselung geschützt seien."[43] Illegale Grundrechtseingriffe werden allenfalls auf der Ebene des schummelnden Gebrauchtwagenverkäufers angesiedelt.

5. Fazit

Der Beweisimport von ANOM-Daten trifft rechtsstaatliche Grundsätze im Kern. Daher prüft der EGMR gerade noch die Vereinbarkeit der Beweiserhebung mit der Konvention, sowohl bzgl. des Messengerdienstes EnchroChat[44] als auch ANOM[45].

Diffuse Hinweise auf Kriminalitätsbekämpfung können gesetzliche Fixierungen wie den Anfangsverdacht nicht ersetzen. Wer Ermittlern jenseits gesetzlicher Eingriffsvoraussetzungen erlaubt, Bürgern getarnte Abhörgeräte zu unterschieben, hat kein Argument bei zukünftiger blanker Willkür unter dem Etikett der Verbrechensbekämpfung. Wer – wie ein Großteil der journalistischen Aufarbeitung – den Fokus auf die durchaus beeindruckende Ermittlungserfolge legt und dem Grundsatz "nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg" huldigt, hat die geltende Basis der Kontrolle staatlicher Machtausübung bei Ermittlungen verlassen.

Wer an die Wirkmächtigkeit des Prinzips "rule of law" glaubt, darf auch den internationalen Rechtsverkehr und die Faszination angesichts singulärer Kriminalitätserkenntnisse nicht zum Anlass nehmen, das Recht in Frage zu stellen. Niemand steht über dem Gesetz, auch nicht der rechtsanwendende Strafrichter.


[1] OLG München Beschluss vom 19.10.2023 – 1 Ws 525/23 = StV 2024, 18 = BeckRS 2023, 30017.

[2] "Ähnlich" wie Encrochat, so BGH Beschluss v. 02.03.2022 - 5 StR 457/21NJW 2022, 1539, Rn. 68 = HRRS 2022 Nr. 393.

[3] OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 – 1 HEs 427/21, StraFo 2022, 203, 204; OLG Stuttgart Beschl. v. 22.4.2024 – H 4 Ws 123/24; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 4.1.2024 − 3 Ws 353/23 = NStZ 2024, 509; OLG Köln, Beschluss vom 23.06.2023 - 2 Ws 304/23; OLG Koblenz Beschluss v. 26.8.2024 5 Ws 489-490/24; deutlichst OLG Hamm III-4 Ws 154/24 v. 8.10.2024. Die literarische Aufarbeitung ist bislang bescheiden, ausführlicher allein Althaus/Samek Die Verwertbarkeit von AnomChat-Daten im Strafprozess, KriPoZ 2024, 298 ff.

[4] S. z.B. BT-Drucksache 20/1249 v. 29.3.2022 Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Bundestagsabgeordneten.

[5] LG Arnsberg, Beschl. v. 22.01.2024 – 2 KLs 412 Js 287/22 – 36/23; LG Fulda, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 KLs 131 Js 194/23; LG Memmingen, Urteil v. 21.08.2023 - 1 KLs 401 Js 10121/22.

[6] BGH Beschluss v. 02.03.2022 - 5 StR 457/21NJW 2022, 1539 = HRRS 2022 Nr. 393.

[7] BVerfG 2 BvR 684/22 v. 1.11.2024 (demnächst als BVerfG HRRS 2025 Nr. 1 verfügbar).

[8] S. hierzu zuletzt in aller Offenheit: Schnürer, Das revisionssichere Urteil in Strafsachen, NStZ 2024, 523, 525.

[9] Lödden/Makepeace - Same same but different: SkyECC oder wie europäische Strafverfolgungsbehörden eine Milliarde Nachrichten über 21 Monate lang abgefangen haben, HRRS 2023, 384.

[10] BVerfG 2 BvR 684/22 Rn. 96 (demnächst als BVerfG HRRS 2025 Nr. 1 verfügbar) wiederholt zwar diese Behauptung, stellt klar, dass die Beweiswürdigung sich nur auf "rechtmäßig" erhobene und eingeführte Beweise beziehen kann, widmet allerdings anschließend der Überlegung der Rechtmäßigkeit keinen Gedanken mehr.

[11] Zur Kritik an Blanko-Ermächtigungsnormen in der deutschen StPO s. z.B. EGMR Sommer ./. Deutschland 73607/13 v. 27.4.2017, Rd. 58: "The Court therefore concludes that the threshold for interference under Article 161 of the CCP is relatively low and that the provision does not provide particular safeguards.”

[12] EGMR Akgün v. Türkiye (19699/18) v. 21.07.2021, §§173, 181.

[13] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §265.

[14] EGMR Akgün v. Türkiye (19699/18) v. 21.07.2021, §181.

[15] BeckOK StPO/Ferner, 52. Ed. 1.7.2024, TKG § 174 Rn. 27 ff.

[16] EGMR Podchasov v. Russia (33696/19) v. 13.2.2024.

[17] S. hierzu die Beschwerden A.L. (44715/20) und E.J. (47930/21) ./. Frankreich, die der EGMR in einer Entscheidung vom 24.9.2024 für unzulässig erachtete, weil die britischen Beschwerdeführer, die in Großbritannien aufgrund französischer Encro-Chat-Daten verurteilt wurden, nicht zuvor in Frankreich gerichtliche Entscheidungen initiiert hatten. Dabei diskutiert der EGMR nicht, dass die französische Regierung selbst zuvor in einer Stellungnahme diese Rechtsbehelfe als inneffektiv bewertet hatte und allein die britische Justiz für zuständig erachtete (Rn 78. der Bemerkungen der französischen Regierung vom 7.4.2022: "Consequently, the jurisdiction to be adopted is British, as the seizure and communication on French territory of personal data attributed by the British authorities to British citizens took place at the request of the British authorities in the context of an EIO issued by the British authorities that could be criticised in accordance with EU law before the British national courts, which were exercising their supervision and authority in respect of the applicants.")

[18] Lenk, Die Entwicklung des europäischen Beweisrechts im Lichte der "EncroChat-Verfahren", EuR 2024, 51,69, 70.

[19] EuGH Urteil v. 30.4.2024 – C 670/22 Rn. 39.

[20] Zuletzt BGH NStZ 2020, 621 = HRRS 2020 Nr. 983.

[21] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §334.

[22] EGMR Akgün v. Türkiye (19699/18) v. 21.07.2021, §178.

[23] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §334.

[24] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §312 und EGMR Akgün v. Türkiye (19699/18) v. 21.07.2021, §167 "the handling of electronic evidence, particularly where it concerns data that are encrypted and/or vast in volume or scope, may present the law enforcement and judicial authorities with serious practical and procedural challenges at both the investigation and trial stages.".

[25] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §328.

[26] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §312.

[27] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §323.

[28] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §§308, 330, 334.

[29] Indem er Gegenargumente verbringt, die Gültigkeit anfechtet oder bestreitet, dass alle Anstrengungen unternommen wurden, ein faires Gleichgewicht zu erhalten, EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §331.

[30] EGMR Yalçınkaya v. Türkiye (15669/20) v. 13.2.2024, §317.

[31] LG Fulda, Beschl. v. 18.04.2024 - 1 Kls 131 Js 194/23 begründet ua die Ablehnung einer Verwertbarkeit mit einem inakzeptablen Vertrauensvorschuss: "Die Bejahung der Verwertbarkeit der Anom-Chats führt im Ergebnis dazu, dass sich deutsche Gerichte allein auf die Behauptung des FBI — einer nicht zur EU gehörenden Polizei- und Geheimdienstbehörde — verlassen und auf jegliche richterliche Überprüfung der Richtigkeit dieser Angaben und der Rechtmäßigkeit der Verfahrensweise verzichten müssen."

[32] So zuletzt BVerfG Beschluss vom 28.09.2022 – 1 BvR 2354/13, Rn. 120; BVerfGE 133, 277, 329 Rn. 123; 156, 11, 50 Rn. 101, 51 f. Rn. 105.

[33] Übermittlungsermächtigungen für deutsche Geheimdienste finden sich z.B. in § 21 BVerfSchG, § 11a BNDG, §§ 3,4 G-10-Gesetz.

[34] BVerfG Beschluss vom 28.09.2022 – 1 BvR 2354/13, Rn 137; vgl. auch BVerfGE 154, 152, 270 Rn. 222; BVerfG v. 26. April 2022 - 1 BvR 1619/17 -, 3. Leitsatz, Rn. 230 ff.

[35] So z.B. Denninger ZRP 1981, 231, 234 f.; Kutscha ZRP 1986; Gusy ZRP 1987, 45 ff.; aktuell s. Thiel: Neuordnung der Datenübermittlung durch Nachrichtendienste, ZRP 2023, 234; skeptisch zur verfassungsmäßigen Verankerung des Trennungsgebots: Unterreitmeier, Informationen der Nachrichtendienste: "… Schweigen ist Gold"? GSZ 2023, 81.

[36] BVerfG NJW 1987, 1874.

[37] BGH NJW 2016, 91 = HRRS 2015 Nr. 1104.

[38] EGMR NJW 2021, 3515.

[39] EGMR Urt. v. 4.11.2010 – 18757/06 Nr. 48 = HRRS 2020 Nr. 1163 – Bannikova/Russland.

[40] S. Peters, Strafprozeß, 4. Aufl., 1985, S.333: "einen ohnehin gültigen Prozeßgrundsatz".

[41] MüKoStPO/Schuhr, 2. Aufl. 2023, StPO § 136a Rn. 3.

[42] So der Staatsanwalt Schubert, Wahrheit und Verwertbarkeit: Encrochat, SkyECC und Anom, DRiZ 2024, 230.

[43] OLG Hamm III-4 Ws 154/24 v. 8.10.2024, Rn. 102; auch schon OLG Karlsruhe 3 Ws 353/23, Beschl. v. 04.01.2024.

[44] A.L. and E.L. v. France (44715/20; 47930/21) wurden zwar wegen Unzulässigkeit abgewiesen, es sind aber zahlreiche andere Verfahren zu dieser Thematik noch anhängig.

[45] Popovic v. Austria (16530/239) v. 15.07.2024.