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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2024
25. Jahrgang
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1. Die Hauptverhandlung beginnt gemäß § 243 Abs. 1 Satz 1 StPO mit dem Aufruf der Sache; damit sind die für diesen Sitzungstag bestimmten Schöffen zur Verhandlung und Entscheidung in der Sache berufen. (BGHSt)
2. Das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann durch den Aufruf der Sache im Einzelfall verletzt werden, wenn sich der Vorsitzende dafür mit missbräuchlichen Erwägungen entscheidet. (BGHSt)
3. Für den Beginn der Hauptverhandlung durch Aufruf der Sache spielen die für ein „Verhandeln zur Sache“ im Sinne des § 229 StPO maßgeblichen Erwägungen keine Rolle. Der Gehalt des § 229 Abs. 1 StPO unterscheidet sich grundlegend von jenem des § 243 Abs. 1 Satz 1 StPO. § 229 Abs. 1 StPO hat den gesetzlichen Richter schon im Ausgangspunkt nicht im Blick, sondern greift zu einem Zeitpunkt ein, in welchem sich die Besetzung des erkennenden Gerichts bereits perpetuiert hat. (Bearbeiter)
4. Auch § 230 Abs. 1 StPO, wonach gegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht stattfindet, führt zu keinem anderen Ergebnis. § 230 Abs. 1 StPO beschreibt mit der Anwesenheit des Angeklagten nicht etwa eine begriffliche Voraussetzung der „Hauptverhandlung”; die Vorschrift bestimmt vielmehr, dass eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten – abgesehen von den in der Strafprozessordnung geregelten Ausnahmefällen – in seiner Abwesenheit nicht durchgeführt werden darf. Er setzt also – ebenso wie § 230 Abs. 2 StPO – eine durch Aufruf bereits begonnene Hauptverhandlung begrifflich voraus. Der Angeklagte ist demnach auch erst ab dem Aufruf der Sache zur Anwesenheit verpflichtet. (Bearbeiter)
5. Insbesondere bei frühzeitigen Beratungen über das Zustandekommen einer Verständigung im Sinne des § 257c StPO ist es nicht zu beanstanden, dass die Berufsrichter die Schöffen in den Verfahrensstoff einführen. (Bearbeiter)
1. Die Rechtskraft eines Strafurteils beendet den Lauf der Verfolgungsverjährung und es beginnt im Falle einer Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen der Lauf der Verfolgungsverjährung von neuem. (BGHSt)
2. Durch ein rechtskräftiges strafrechtliches Erkenntnis wird die Strafverfolgung abgeschlossen, das Recht auf weitere Strafverfolgung erlischt. Denn mit der materiellen Rechtskraft eines Strafurteils – gleichviel ob verurteilend oder freisprechend – tritt Strafklageverbrauch ein, aus dem ein umfassendes Verfahrenshindernis folgt, das die Einmaligkeit der Strafverfolgung sichert und damit nicht nur eine wiederholte Bestrafung für eine Tat, sondern schon eine Wiederholung des Strafverfahrens ausschließt, und zwar auch im Falle eines vorangegangenen Freispruchs („ne bis in idem“). Dieser Grundsatz hat nach Art. 103 Abs. 3 GG Verfassungsrang. (Bearbeiter)
3. Mit dem Abschluss der Strafverfolgung endet zugleich die Verfolgungsverjährung, deren Gegenstand die Strafverfolgung ist (vgl. § 78 Abs. 3 StGB); denn eine nicht mehr statthafte – und deshalb nicht mehr stattfindende – Strafverfolgung kann der Verfolgungsverjährung denklogisch nicht unterliegen. (Bearbeiter)
4. Die rechtskräftige Wiederaufnahme des Verfahrens beseitigt die Rechtskraft des Strafurteils und das daraus resultierende Verfolgungsverbot. Das kann damit der Strafverfolgung nicht mehr entgegenstehen. Strafverfolgung findet erneut statt. Die Wiederaufnahmeentscheidung entfaltet insoweit Wirkung nur für die Zukunft. Da die Verfolgungsverjährung mit der Rechtskraft des Urteils endgültig geendet hatte, gibt es auch keine bereits in Lauf gesetzte Frist, an die angeknüpft werden könnte; sie muss daher nach dem Wegfall der Rechtskraft des Urteils neu begründet werden. (Bearbeiter)
5. Die Verjährungsvorschriften regeln die Verfolgbarkeit der Tat; sie lassen ihre Strafbarkeit beziehungsweise deren Unrecht und die Schuld des Täters unberührt. Das Rechtsinstitut der Verjährung soll jedenfalls der Rechtssicherheit (des Einzelnen) und dem Rechtsfrieden (der Allgemeinheit) auf der einen Seite sowie verfahrenspraktischen Erwägungen auf der anderen Seite dienen. Mit Verstreichen der Verjährungsfrist wird das Spannungsverhältnis zwischen Zeit und Recht dahin aufgelöst, dass dem eintretenden Rechtsfrieden der Vorrang vor der Verfolgung der Straftat gewährt wird. Diese Zwecksetzung des Instituts der Verjährung gebietet weder ein weiteres Ablaufen der Verjährungsfrist während der Rechtskraft eines Strafurteils noch steht sie der Annahme entgegen, die Verjährungsfrist werde mit der rechtskräftigen Wiederaufnahmeentscheidung neu begründet. (Bearbeiter)
6. Dem Institut der Rechtskraft kommt ein besonderer verfassungsrechtlicher Schutz zu. Der Staat hat sich um der Rechtssicherheit willen eine freiwillige Begrenzung in seinem Recht auf Verfolgung strafbarer Handlungen auferlegt und damit insoweit auf die Durchsetzung des die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung sichernden Legalitätsprinzips verzichtet. Der Verfassungsgeber hat das Verfahrenshindernis der Rechtskraft angesichts der historischen Erfahrungen in den Rang eines Prozessgrundrechts erhoben. Die Rechtskraft und das daran anknüpfende Mehrfachverfolgungsverbot (Art. 103 Abs. 3 GG) gewähren dem Prinzip der Rechtssicherheit grundsätzlich Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Ein solches Gewicht kommt dem Aspekt der Rechtssicherheit im Rechtsinstitut der Verjährung jedoch nicht zu. Denn der Täter hat keinen Anspruch auf Verjährung innerhalb einer bestimmten Frist oder darauf, dass überhaupt Verjährung eintritt. (Bearbeiter)
7. Das rechtskräftige Strafurteil und das daran anknüpfende Mehrfachverfolgungsverbot (Art. 103 Abs. 3 GG) schaffen keinen besonderen Vertrauenstatbestand im Hinblick auf die Verjährung. Sie begründen ein berechtigtes Vertrauen des Verurteilten oder Freigesprochenen allein dahin, dass die Strafverfolgung grundsätzlich endgültig abgeschlossen ist und nur nach Maßgabe des Wiederaufnahmerechts erneuert werden kann. Dass er aufgrund der gerichtlichen Entscheidung auch darauf vertrauen können soll, dass die Verjährungsfrist ungeachtet der Rechtskraft des Strafurteils und damit der Unzulässigkeit weiterer Strafverfolgung weiter abläuft, lässt sich der gesetzlichen Regelung demgegenüber gerade nicht entnehmen. (Bearbeiter)
8. Aus § 78a StGB lässt sich nichts gegen einen Neubeginn der Verjährung nach Rechtskraft der Wiederaufnahmeentscheidung herleiten. Die Vorschrift bestimmt den Beginn der Verjährung auf den Zeitpunkt der Beendigung der Tat. Sie besagt indes nicht, dass die Verjährung nur zu diesem und zu keinem anderen Zeitpunkt beginnen könne. Die Gesetzessystematik belegt sogar das Gegenteil. Gemäß der Vorschrift des § 78c Abs. 3 Satz 1 StGB beginnt die Verjährung nach jeder Unterbrechung von neuem. Dies spricht dafür, dass die Verjährung erst recht dann neu beginnen muss, wenn sie nicht nur unterbrochen, sondern sogar vollständig beendet war. (Bearbeiter)
9. Aus § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB ergibt sich – anders als die Bezeichnung „absolute Verjährung“ nahelegt – gerade keine zeitlich absolute Grenze für die Verfolgbarkeit von Straftaten. Vorrang vor der absoluten Verjährung hat vielmehr die Ablaufhemmung nach § 78b Abs. 3 StGB mit der Folge, dass die Regelung des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB nach Erlass eines Urteils des ersten Rechtszuges jedenfalls bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahrens nicht zur Anwendung kommt. Auch die Zeit des Ruhens des Verfahrens infolge eines gesetzlichen Verfolgungshindernisses nach § 78b Abs. 1 Nr. 2 StGB wird in die Höchstfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB nicht eingerechnet, und zwar ohne Rücksicht auf die Zeitdauer. (Bearbeiter)
10. Die Rechtskraft des Strafurteils führt nicht dazu, dass die Verfolgung „nach dem Gesetz … nicht fortgesetzt werden kann“ und mithin nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung nach § 78b Abs. 1 Nr. 2 StGB. Denn „Ruhen“ bedeutet Stillstand der Verjährungsfrist; nach Wegfall des Grundes des Ruhens setzt sich die Verjährung mit dem noch nicht verbrauchten Teil der Frist fort. Das Ruhen der
Verjährung setzt damit eine an sich laufende Verjährung voraus, wohingegen die Strafverfolgungsverjährung mit der Rechtskraft des Urteils endet. Die Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 2 StGB, die – wie bereits ihr Wortlaut nahelegt („solange“) – auf vorübergehende und nicht auf solche Verfahrenshindernisse zugeschnitten ist, die auf eine zeitlich unbegrenzte Geltung angelegt sind, ist dementsprechend nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss unanwendbar. (Bearbeiter)
1. Die Frist zur Anbringung von Beweisanträgen nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO kann ohne Begründung gesetzt werden. (BGHSt) 2. Zum Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO. (BGHR)
3. Stellt ein Verfahrensbeteiligter nach Fristablauf einen Beweisantrag, sind mit diesem sämtliche Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, welche die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben (§ 244 Abs. 6 Satz 5 StPO). (BGHR)
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird ein Verfahrenshindernis begründet durch Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt werden darf. Diese müssen so schwer wiegen, dass von ihnen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss.
2. Ein Anwendungsfall wird innerhalb dieser Rechtsprechung in der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gesehen. So verletzt eine erhebliche Verzögerung eines Strafverfahrens den Betroffenen in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herrührenden Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren und zugleich die in Artikel 6 Abs. 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb angemessener Dauer sichern soll.
3. Allerdings führt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern ist durch die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung und ggf. durch eine Kompensation in Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ausreichend berücksichtigt. Lediglich in außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis begründen, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann.
4. Zwar ist eine sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf eine Verfahrensrüge hin zu prüfen. Allerdings ist für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichts von Amts wegen geboten, wenn der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte.
1. Die Eröffnung und Durchführung einer gerichtlichen Untersuchung ist durch die wirksame Erhebung einer öffentlichen Klage bedingt (§ 151 StPO). Das ist bei einer Tatserie für jede selbständige Tat im prozessualen Sinn zu beachten. In Fällen von gleichartigen Serientaten können sich zwar nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Erleichterungen hinsichtlich der nach § 200 Abs. 1 StPO erforderlichen Konkretisierung der Einzeltaten ergeben, wenn anders die Verfolgung und Aburteilung strafwürdiger Taten nicht möglich wäre.
2. Erforderlich ist dann aber jedenfalls, dass der vom Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasste Gegenstand des Verfahrens durch Kennzeichnung des zeitlichen und zahlenmäßigen Umfangs des Vorwurfs in der Anklageschrift klargestellt wird. Insoweit kann es im Einzelfall genügen, wenn der Tatzeitraum und die Höchstzahl der angeklagten Taten benannt werden und das sich wiederholende Tatbild für alle Fälle einheitlich umschrieben wird. Zumindest diese Art der Umgrenzung des Verfahrensgegenstands ist erforderlich, um der Voraussetzung für die gerichtliche Untersuchung auch hinsichtlich einer Tatserie mit nicht näher konkretisierten Einzeltaten durch wirksame Anklageerhebung im Sinne von § 151 StPO Rechnung zu tragen.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen.
2. Zur Zustellung eines Urteilsentwurfes bei gleichzeitiger Gewährung von Akteneinsicht in die digitale Fassung der Sachakte, die das vollständige Urteil enthält.
1. Nach dem Gerichtsverfassungsgesetz ist die Verkündung der Urteilsformel in nicht öffentlicher Sitzung grundsätzlich unzulässig. Ausnahmen sind nach § 48 Abs. 1 und 3 Satz 2, § 104 Abs. 1 Nr. 4a, § 109 Abs. 1 Satz 5 JGG insoweit nur in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende vorgesehen.
2. Die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens sind grundsätzlich unverzichtbar und nicht disponibel.
Eine widerlegte Falschangabe des Angeklagten stellt nicht ohne weiteres ein Schuldindiz dar. Vielmehr kann auch derjenige, der unschuldig mit einem schweren Tatvorwurf konfrontiert wird, Zuflucht zur Lüge nehmen.
1. Eine bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren, zudem gleichzeitigen Ausfalls beider Pflichtverteidiger gibt keinen Anlass zur Bestellung eines dritten Pflichtverteidigers.
2. Wegen der unterschiedlichen Aufgaben von Gericht und Verteidigung in der Hauptverhandlung kann nicht schon aus der Besetzung eines Spruchkörpers mit fünf Richtern der Schluss gezogen werden, dass die Verteidigung in der Hauptverhandlung von zwei Pflichtverteidigern nicht leistbar wäre.
Lückenhaft ist die Beweiswürdigung, wenn sich das Tatgericht nicht mit allen wesentlichen, den Angeklagten belastenden und entlastenden Indizien auseinandergesetzt hat. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht die für den Schuldspruch bedeutsamen Beweise erschöpfend gewürdigt, dass es die entscheidungserheblichen Umstände erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt hat; eine Beweiswürdigung, die Feststellungen nicht in Betracht zieht, welche geeignet sind, die Entscheidung zu beeinflussen, oder naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert, ist rechtsfehlerhaft.
Das Verschlechterungsverbot steht einer Begrenzung der gesamtschuldnerischen Haftung auf einen Teilbetrag entgegen, wenn diese zuvor den Gesamtbetrag umfasste.