HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2024
25. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

519. BVerfG 1 BvR 820/24 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 4. April 2024 (LG Augsburg / AG Augsburg)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen übler Nachrede gegen Personen des öffentlichen Lebens (Protest gegen artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung für ein Stahlwerk; Bezeichnung eines Regierungspräsidenten als „korrupt“; besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik; Beitrag zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage; verfassungsrechtliche Anforderungen an die Deutung einer Äußerung; Abgrenzung von Tatsachenbehauptung und Werturteil; Bewertung im Gesamtkontext).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB; § 186 StGB; § 188 Abs. 2 StGB

1. Die Verurteilung eines Angeklagten wegen übler Nachrede, welcher im Rahmen einer Protestaktion gegen die einem Stahlwerk erteilte artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung geäußert hatte, der gesamte Vorgang lasse nur den Schluss zu, der mit dem Stahlwerkschef „freundschaftlich verbandelte“ Regierungspräsident sei „korrupt“, verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit, wenn die Strafgerichte bereits nicht darlegen, von welchem konkreten Aussagegehalt der Protestaktion sie ausgehen, wenn sie ihrem Urteil sodann jedoch einen Korruptionsvorwurf im Sinne einer nicht erweislich wahren, ehrverletzenden Tatsachenbehauptung zugrunde legen, ohne hinreichend zu begründen, weshalb es sich nicht vielmehr um eine in vollem Umfang am Schutz des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG teilnehmende Meinungsäußerung handelt.

2. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst Werturteile im Sinne von Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind, ungeachtet ihres womöglich ehrschmälernden Gehalts. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts. Der Schutz der Meinungsfreiheit ist gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen und findet darin unverändert seine Bedeutung. Ungeachtet dessen bleibt der Gesichtspunkt der Machtkritik in eine Abwägung eingebunden und erlaubt nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern.

3. Die Anwendung der Strafvorschriften der §§ 185 ff. StGB erfordert zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Deutung einer Äußerung gehört, dass sie unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und ihr kein Sinn zugemessen wird, den sie objektiv nicht haben kann. Bei mehrdeutigen Äußerungen muss das Tatgericht andere mögliche Deutungen mit schlüssigen Gründen ausschließen, bevor es die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt.

4. Maßgeblich für die Deutung einer Äußerung ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen; dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren.

5. Wird von der Meinungsfreiheit nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzung Gebrauch gemacht, sondern will der Äußernde in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen, dann sind die Auswirkungen seiner Äußerungen auf den Rechtskreis Dritter zwar unvermeidliche Folge, aber nicht eigentliches Ziel der Äußerung. Der Schutz des betroffenen Rechtsguts tritt umso mehr zurück, je weniger es sich um eine unmittelbar gegen dieses Rechtsgut gerichtete Äußerung im privaten Bereich in Verfolgung eigennütziger Ziele handelt, sondern um einen Beitrag zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage.

6. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, sind nicht die Äußerungsteile isoliert zu betrachten, sondern ist die Äußerung in ihrem Gesamtzusammenhang zu bewerten. Soweit eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung nicht ohne Verfälschung ihres Sinns möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden.

7. Ein Strafgericht verkennt Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, wenn es eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung einstuft, mit der Folge, dass sie dann nicht in demselben Maß am Grundrechtsschutz teilnimmt wie eine Äußerung, die als Werturteil anzusehen ist.


Entscheidung

520. BVerfG 2 BvR 1480/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 8. März 2024 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Versagung ungefesselter Ausführungen bei einem Sicherungsverwahrten (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Verpflichtung der Gerichte zu zureichender Sachverhaltsaufklärung; eigenständige gerichtliche Beurteilung sachverständiger Aussagen; Weigerung des Untergebrachten zur Mitwirkung an Begutachtung und Behandlungsmaßnahmen; Anspruch auf Resozialisierung; Bedeutung abgestufter Vollzugslockerungen; schrittweise Entlassungsvorbereitung; Eigenverantwortung des Untergebrachten; Wahrnehmung gewährter Lockerungen).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 13 HSVVollzG; § 50 HSVVollzG

1. Die Versagung ungefesselter Ausführungen bei einem Sicherungsverwahrten ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Vollzugsbehörde aus der fast vollständig fehlenden Teilnahme des Betroffenen an Behandlungsmaßnahmen, dem fehlenden Kontakt zu den Mitarbeitern der Anstalt, der Ablehnung einer Erprobung in gefesselten Ausführungen und der daraus resultierenden fehlenden Einschätzbarkeit eine Fluchtgefahr herleitet.

2. Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen im Straf- und Maßregelvollzug kann den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht. Die Gerichte sind dabei nicht gehalten, sachverständige Aussagen unkritisch zu übernehmen oder einer gutachterlichen Einschätzung zu folgen; vielmehr schulden sie auf Grundlage der sachverständigen Beratung eine eigenständige rechtliche Beurteilung.

3. Verweigert ein in der Sicherungsverwahrung Untergebrachter die Exploration durch einen Sachverständigen, so ist es unter dem Gesichtspunkt der Sachaufklärung nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte aufgrund mangelnder neuer Erkenntnisse zu seinen Lasten davon ausgehen, dass eine bei ihm in der Vergangenheit mehrfach diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung fortbesteht.

4. Die Sicherungsverwahrung muss Vollzugslockerungen vorsehen und Vorgaben zur Entlassungsvorbereitung enthalten, wobei der Freiheitsorientierung möglichst weitgehend Rechnung zu tragen ist. Insbesondere bei lang andauernden Freiheitsentziehungen zeigt sich typischerweise in besonderem Maße die Notwendigkeit, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Lockerungen die Resozialisierungsfähigkeit des Betroffenen zu testen und ihn schrittweise auf die Entlassung vorzubereiten.

5. Neben der Verantwortung der Vollzugsbehörde steht allerdings die Eigenverantwortung des Untergebrachten für die Durchsetzung seines Freiheitsgrundrechts und seines Resozialisierungsanspruchs. Sie verlangt, dass er die Möglichkeit nutzt, sich (weitergehende) Lockerungen zu erstreiten, und dass er gewährte Lockerungen auch in Anspruch nimmt.