HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2023
24. Jahrgang
PDF-Download




Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

874. BVerfG 2 BvL 3/20, 2 BvL 14/20, 2 BvL 5/21, 2 BvL 7/21, 2 BvL 3/22, 2 BvL 4/22, 2 BvL 5/22, 2 BvL 12/22, 2 BvL 13/22, 2 BvL 14/22, 2 BvL 1/23, 2 BvL 2/23, 2 BvL 8/23 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Juni 2023 (AG Bernau bei Berlin, AG Münster, AG Pasewalk)

Unzulässige Richtervorlagen zum strafbewehrten Cannabisverbot (konkrete Normenkontrolle betreffend die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zum unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten; erhöhte Begründungsanforderungen bei erneuter Vorlage nach früherer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts; Bindungswirkung der Vorentscheidung; Rechts- und Gesetzeskraft; Erfordernis der Darlegung einer rechtserheblichen Änderung der Sach- oder Rechtslage; Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit; Kernbereich privater Lebensgestaltung; kein unbeschränkbares „Recht auf Rausch“; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Gesundheitsschutz als legitimer Zweck auch angesichts eher geringer Gefahren eines mäßigen Konsums; Verhinderung der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln vor allem bei Jugendlichen; Schutz des sozialen Zusammenlebens; Erforderlichkeit einer Strafbarkeit; Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers; Übermaßverbot; „prozessuale Lösung“ bei Gelegenheitskonsumenten; allgemeiner Gleichheitssatz; sachliche Gründe für unterschiedliche Behandlung von Cannabis und Alkohol bzw. Nikotin; uneinheitliche Rechtsanwendungspraxis; Bestimmtheitsgebot; Schwellenwerte für geringe Menge; gefestigte

höchstrichterliche Rechtsprechung); Begründungsanforderungen an eine Richtervorlage.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 31 Abs. 1 BVerfGG; § 80 Abs. 1 BVerfGG; § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 1 BtMG; § 29 BtMG; § 29a BtMG; § 30 BtMG; § 30a BtMG; § 31 BtMG; § 31a BtMG; Anlage I zum BtMG; Anlage II zum BtMG; Anlage III zum BtMG

1. Eine Richtervorlage betreffend die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zum unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten genügt den Darlegungsanforderungen nicht, soweit das Gericht die grundsätzliche Einordnung von Cannabis als dem BtMG unterfallendes Betäubungsmittel beanstandet, ohne einen Bezug zu den im Ausgangsverfahren anzuwendenden Strafnormen herzustellen.

2. Ein entsprechender Vorlagebeschluss erfüllt außerdem nicht die mit Blick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145) für eine erneute Richtevorlage geltenden erhöhten Begründungsanforderungen, wenn er den Rechtsstandpunkten des Bundesverfassungsgerichts lediglich eigene, davon abweichende rechtliche Bewertungen gegenüberstellt, welche die grundsätzliche Bindungswirkung der mit Rechts- und Gesetzeskraft ausgestatteten Vorentscheidung nicht in Frage zu stellen vermögen. Im Einzelnen:

a) Die Einnahme von Rauschmitteln unterfällt nach der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwar dem Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit, unterliegt allerdings deren grundgesetzlichen Schranken und kann wegen ihrer vielfältigen sozialen Aus- und Wechselwirkungen nicht zu dem keinen Beschränkungen unterworfenen Kernbereich privater Lebensgestaltung gerechnet werden.

b) Es ist keine Änderung der Sach- oder Rechtslage dargetan, nach welcher der Bewertung des Bundesverfassungsgerichts die Grundlage entzogen wäre, wonach der mit der Strafdrohung verbundene Eingriff in die Freiheitsgrundrechte der Konsumenten gerechtfertigt ist und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. Die Einordnung von Cannabis als Betäubungsmittel dient dem Schutz der Gesundheit sowohl des Einzelnen als auch der Bevölkerung im Ganzen. Es soll vor allem Jugendliche vor der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln bewahren und das soziale Zusammenleben vor den schädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen, auch mit der sogenannten weichen Droge Cannabis, schützen. Eine fehlende Eignung der Strafnormen zur Erreichung dieser Ziele wird nicht aufgezeigt. Bereits die frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigte insoweit, dass über die Bewertung der Gefahren des Cannabiskonsums keine Einigkeit besteht, die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden bei mäßigem Genuss jedoch eher als gering eingeschätzt werden.

c) Hinsichtlich der kriminalpolitischen Frage, ob die generalpräventive Wirkung des Strafrechts erforderlich ist, eine Verminderung des Cannabiskonsums herbeizuführen, oder ob eine solche eher durch die Freigabe von Cannabis und eine davon erhoffte Trennung der Drogenmärkte erreicht werden könnte, fehlt es nach wie vor an gesicherten kriminologischen Erkenntnissen, aufgrund derer die Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers im Sinne einer Pflicht zur Freigabe eingeschränkt sein könnte.

d) Die Strafandrohung für den unerlaubten Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten verletzt auch mit Blick auf Gelegenheitskonsumenten nicht das Übermaßverbot. Die durch das Bundesverfassungsgericht insoweit aufgezeigte „prozessuale Lösung“ wird durch Liberalisierungstendenzen in anderen Staaten oder die rechtspolitische Diskussion über eine Entkriminalisierung in der Bundesrepublik nicht in Frage gestellt.

e) Einen Verstoß des Cannabisverbots gegen den allgemeinen Gleichheitssatz hat das Bundesverfassungsgericht verneint, weil für die unterschiedliche Regelung des Umgangs mit Cannabisprodukten einerseits und mit Alkohol und Nikotin andererseits Gründe vorhanden sind, die die unterschiedlichen Rechtsfolgen rechtfertigen. Dabei ist jenseits eines bloßen Gefährlichkeits- und Schädlichkeitsvergleichs unter anderem darauf abzustellen, dass der Gesetzgeber den Genuss von Alkohol wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden kann. Mögliche Unterschiede in der Rechtsanwendungspraxis bei der Handhabung des § 31a BtMG begründen die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung nicht, soweit sie nicht – wofür hier allerdings keine Anhaltspunkte bestehen – auf einen strukturellen Mangel der Vorschrift selbst zurückzuführen sind.

f) Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ist ebenfalls nicht dargetan; insbesondere ist der Gesetzgeber nicht zur Festlegung von Schwellenwerten für den Begriff der geringen Menge in § 31a Abs. 1 Satz 1 BtMG verpflichtet, weil die Mengenbegriffe des Betäubungsmittelstrafrechts durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung hinreichend konturiert sind.

3. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn das Fachgericht sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungswidrigkeit eingehend erörtert.

4. Das vorlegende Gericht muss hinreichend deutlich machen, dass und weshalb es bei Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als bei ihrer Ungültigkeit. Es muss dabei den Sachverhalt darstellen, sich mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine einschlägige Rechtsprechung darlegen und die in Schrifttum und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist.

5. Richten sich die Bedenken gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen in die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung

gestellten Norm erforderlich ist. Es kann auch erforderlich sein, auf die Gründe einzugehen, die im Gesetzgebungsverfahren für eine bestimmte gesetzliche Regelung maßgeblich waren.

6. Das vorlegende Gericht muss ferner von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm überzeugt sein und die für seine Überzeugung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegen. Der Vorlagebeschluss muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben und sich mit der Rechtslage, insbesondere der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der darin zur Vorlagefrage gegebenenfalls bereits aufgestellten Maßstäbe, auseinandersetzen. Soweit die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung naheliegt, muss das vorlegende Gericht diese Möglichkeit prüfen und vertretbar begründen, weshalb eine verfassungskonforme Auslegung ausgeschlossen ist.

7. Eine erneute Vorlage ist regelmäßig nur zulässig, wenn das vorlegende Gericht die frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausgangspunkt seiner verfassungsrechtlichen Prüfung nimmt und auf dieser Grundlage darlegt, welche inzwischen eingetretenen rechtserheblichen Veränderungen der Sach- und Rechtslage nach seiner Auffassung die erneute verfassungsgerichtliche Prüfung einer bereits entschiedenen Vorlagefrage veranlassen.

8. Stellt ein Gericht zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung, ob eine Strafnorm generell mit verfassungsrechtlichen Anforderungen in Einklang steht, ist eine Vorlage schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens zulässig, weil das Gericht sich bereits bei der Eröffnungsentscheidung über die Gültigkeit der in Betracht kommenden Strafnorm schlüssig werden muss.


Entscheidung

871. BVerfG 1 BvR 58/23 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 12. Juli 2023 (LG Darmstadt / AG Darmstadt)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Durchsuchung wegen des Verdachts von Beleidigungen in einer Chatgruppe (fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis bei erledigten strafprozessualen Zwangsmaßnahmen; Fallgruppen; fortwirkende Beeinträchtigung; Wiederholungsgefahr; tiefgreifende Grundrechtseingriffe; kein Rechtsschutzinteresse an nachträglicher Überprüfung einer Durchsuchungsanordnung allein wegen der Betroffenheit des Wohnungsgrundrechts ohne entsprechende Rüge; Beschlagnahmeanordnung regelmäßig nicht Gegenstand des Durchsuchungsbeschlusses).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 94 Abs. 2 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Nach der Erledigung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme muss von Verfassungs wegen grundsätzlich kein lückenloser voraussetzungsloser Rechtsschutz gewährt werden. Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis ist allerdings anzunehmen bei einer weiterhin von der Maßnahme ausgehenden Beeinträchtigung sowie in Fällen der Wiederholungsgefahr und von tiefgreifenden und folgenschweren, sich typischerweise schnell erledigenden Grundrechtseingriffen, vor allem bei Anordnungen, die das Grundgesetz vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.

2. Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis an der verfassungsgerichtlichen Überprüfung einer Durchsuchungsanordnung, die durch Vollziehung erledigt ist, folgt nicht aus der bloßen Betroffenheit des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG, wenn der Beschwerdeführer die Unverletzlichkeit der Wohnung gerade nicht als verletzt rügt.

3. Die Anordnung und Aufrechterhaltung einer im Rahmen der Durchsuchung vorgenommenen Beschlagnahme ist nur Gegenstand des Durchsuchungsbeschlusses, wenn dieser die erfassten Gegenstände bereits genau konkretisiert. Enthält er hingegen lediglich eine gattungsmäßige Umschreibung der aufzufindenden Gegenstände, so handelt es sich um eine bloße Richtlinie für die Durchsuchung.


Entscheidung

872. BVerfG 1 BvR 491/23 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 26. Juni 2023 (AG Tiergarten)

Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch den Ermittlungsrichter (unterlassene Bescheidung eines Eilantrags auf Versiegelung nach Sicherstellung eines Datenträgers; Recht auf effektiven Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit; Verhinderung der Schaffung vollendeter Tatsachen im Eilverfahren).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 103 StPO; § 110 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 110 Abs. 3 StPO

1. Ein Ermittlungsrichter verletzt den Anspruch des von einer Durchsuchung betroffenen Betreibers eines Online-Nachrichtenportals auf effektiven Rechtsschutz, wenn er dessen unter Berufung auf den journalistischen Quellenschutz gestellten Eilantrag auf sofortige Versiegelung des Umschlags, in dem ein bei der Durchsuchung sichergestellter digitaler Datenträger (USB-Stick) verwahrt wird, selbst nach Ablauf mehrerer Monate nicht bescheidet.

2. Die durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgte Garantie effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutzes gewährleistet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daher muss Eilrechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorkommen, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei endgültiger richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können.


Entscheidung

873. BVerfG 1 BvR 2124/21 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 23. Mai 2023 (OLG Celle / LG Hannover / AG Hannover)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen Volksverhetzung (Gebot der Rechtswegerschöpfung; Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Verteilung von Aufklebern auf einer Demonstration; Rüge unzutreffender Feststellungen zu Inhalt und Aussagegehalt des Aufklebers; Erfordernis der Erhebung einer zulässigen Verfahrensrüge in der Revisionsinstanz; Rüge einer Verletzung der Kunstfreiheit bereits im fachgerichtlichen Verfahren; hinreichende Substantiierung der Verfassungsbeschwerde; fallbezogene Darlegung einer Missachtung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit).

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG; Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 130 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe c StGB

1. Die Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen Volksverhetzung – der Beschwerdeführer hatte auf einer Demonstration Aufkleber verteilt, die einen Zusammenhang zwischen der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Pädophilie herstellen – verstößt gegen den Grundsatz der Subsidiarität und ist daher unzulässig, wenn der Beschwerdeführer mit Blick auf die von ihm als unzutreffend gerügten tatrichterlichen Feststellungen, wonach die Aufkleber unter anderem die Penetration eines Kleinkindes durch einen Erwachsenen abbildeten, in der Revisionsinstanz keine zulässige Verfahrensrüge erhoben hat.

2. Um dem Subsidiaritätsgrundsatz zu genügen, hat der Beschwerdeführer außerdem darzulegen, inwieweit er einen von ihm mit der Verfassungsbeschwerde unter dem Aspekt der Satire eingehend gerügten Verstoß gegen die Kunstfreiheit bereits im fachgerichtlichen Verfahren geltend gemacht hat.

3. Die Verfassungsbeschwerde ist zudem nicht hinreichend substantiiert, wenn der Beschwerdeführer nicht fallbezogen darlegt, inwieweit die Strafgerichte den Aussagegehalt der Aufkleber in einer den Schutzbereich der Meinungsfreiheit oder der Kunstfreiheit missachtenden Weise ausgelegt haben.