HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2023
24. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Gemeinschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen

Anmerkung zu BGH HRRS 2023 Nr. 771 und BGH HRRS 2023 Nr. 868

Von RA Sina Aaron Moslehi, Hamburg[*]

A. Einleitung

Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss des 2. Strafsenats vom 17.01.2023 erstmals über die Frage entschieden, ob § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB durch Unterlassen – zweier Garanten – begangen werden kann. Wenige Monate später hat der 6. Strafsenat mit Urteil vom 17.05.2023 über dieselbe Frage – betreffend drei Garanten – entschieden. Die Entscheidungen stehen sich diametral entgegen: Während der 2. Strafsenat die Möglichkeit der Verwirklichung einer "mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich" begangenen Körperverletzung durch Unterlassen verneint, bejaht der 6. Strafsenat eine solche. Beide Entscheidungen sind zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen. Das – auf den Tag genau vier Monate später ergangene – Urteil des 6. Strafsenats nimmt allerdings keinen Bezug auf den Beschluss des 2. Strafsenats. Zu einem Anfrageverfahren oder einer Divergenzvorlage (§ 132 Abs. 2, Abs. 3 GVG) ist es nicht gekommen. Dieser Umstand wird mit einem Kommunikationsversehen zwischen den Strafsenaten zu erklären sein, welches daran abzulesen ist, dass das später verkündete Urteil des 6. Strafsenats früher in die Online-Entscheidungsdatenbank des Bundesgerichtshofs eingespielt wurde als der früher gefasste Beschluss des 2. Strafsenats.[1] In Leipzig wusste man offenbar nichts von der Karlsruher Entscheidung über dieselbe Rechtsfrage.

B. Sachverhalte und Entscheidungen

I. BGH 2 StR 459/21, Beschluss v. 17. Januar 2023 = HRRS 2023 Nr. 771

1. Das Landgericht hat die Angeklagten A. und F. wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen (§ 225 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1 StGB, § 13 Abs. 1 StGB) und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, § 13 Abs. 1 StGB) verurteilt. Es hat im Wesentlichen Folgendes festgestellt: Die Angeklagten richteten ihren Alltag nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes nicht nach dessen Bedürfnissen, sondern nur nach ihren eigenen Interessen aus. Die Entwicklung des Kindes war zunächst unauffällig; später

war es leicht untergewichtig, worauf die Kinderärztin die Angeklagten hinwies. Dennoch wurde das Kind vernachlässigt, vor allem hinsichtlich der Ernährung. Dessen Körpergewicht nahm stetig ab, die Angeklagten bemerkten dessen Verfall. Das Kind befand sich sodann in einem lebensbedrohlichen Zustand. Als das Kind vom Angeklagten A. reglos vorgefunden wurde, fuhren die Angeklagten es zu einer Rettungswache. Das Kind war klinisch tot und wurde von einem Rettungssanitäter reanimiert. Es wurde in eine Klinik verbracht, wo es erneut reanimiert werden musste. Dort wurde unter anderem ein "Hungerdarm" festgestellt, der durch lange Mangelernährung entsteht.

2. Der 2. Strafsenat hat auf die Revisionen der Angeklagten den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen entfallen lassen. Er hat im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: "[…]Nach der Rechtsprechung kommt eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB[…]nicht in Betracht, wenn neben dem aktiv handelnden Täter der Körperverletzung dem Opfer nur eine weitere Person gegenübersteht, die sich rein passiv verhält[…]. […]Reicht aber die bloße Anwesenheit einer weiteren Person am Tatort neben einem aktiv handelnden Täter zur Erfüllung des Tatbestandes von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht aus, kann die Untätigkeit eines weiteren Garanten bei einer allein durch Unterlassen begangenen Körperverletzung erst recht nicht zur Erfüllung des Qualifikationstatbestandes führen. Diese Auslegung ergibt sich maßgeblich aus Sinn und Zweck der Vorschrift.[…]Die Materialien zum[…]6. StrRG[…]haben sich zur Auslegung des damals neu gefassten Qualifikationstatbestands nicht geäußert.[…]Der Normzweck spricht gegen eine Qualifikation der Körperverletzung durch alleiniges Unterlassen zweier Garanten […].[…]Der Grund für die Qualifikation der Körperverletzung in Fällen, in denen ein Täter (‚Wer‘) die Körperverletzung ‚mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich‘ begeht, besteht in der besonderen Gefahr für das Opfer, dass es bei der Konfrontation mit einer Übermacht psychisch oder physisch in seinen Abwehr- oder Fluchtmöglichkeiten beeinträchtigt wird[…], ferner in der Gefahr der Verursachung erheblicher Verletzungen infolge der Beteiligung mehrerer Personen an der Körperverletzung[…]. Diese Gefahren bestehen in einer Weise, welche die Erhöhung des Strafrahmens rechtfertigt, nur dann, wenn bei der Begehung der Körperverletzung zwei oder mehr Beteiligte am Tatort anwesend sind und bewusst durch aktive Tatbeiträge mitwirken[…].[…]Die bloße Anwesenheit von Personen, die passiv bleiben, rechtfertigt daher die erhöhte Strafdrohung nicht. Das Unterlassen entspricht nicht einer Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes durch ein Tun (§ 13 Abs. 1 StGB).[…]"[2]

II. BGH 6 StR 275/22, Urteil v. 17. Mai 2023 = HRRS 2023 Nr. 868

1. Das Landgericht hat die Angeklagten K., Kr. und H. u. a. wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, § 13 Abs. 1 StGB) verurteilt. Es hat im Wesentlichen Folgendes festgestellt: Die zur Tatzeit 19-jährige, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte und unter Betreuung stehende Geschädigte ging der Prostitution nach. Ihr damaliger Zuhälter beabsichtigte die Geschädigte an einen anderen Zuhälter zu "veräußern". Der Angeklagte K. signalisierte Interesse und übernahm die Geschädigte zunächst "probehalber". Er beabsichtigte, die Geschädigte "anzukaufen" und sie einer intensivierten Prostitutionsausübung zuzuführen. Er unterrichtete den Angeklagten Kr. und seine Lebensgefährtin, die Angeklagte H., darüber. Diese erklärten sich zur Unterstützung des Vorhabens bereit.

Die Geschädigte erklärte sich zu keinem Zeitpunkt damit einverstanden, sexuelle Handlungen an anderen Personen vorzunehmen oder an sich zu dulden. Dennoch mietete K. ein Hotelzimmer und bot die Dienste der Geschädigten auf einer Internetplattform an. Krankheitsbedingt reagierte die Geschädigte nicht auf Ansprachen und verhielt sich häufig nicht situationsadäquat, lachte und weinte scheinbar grundlos.

Später erfolgte vonseiten des Angeklagten K. eine "endgültige Übernahme" der Geschädigten vom vormaligen Zuhälter.

Zwischen der Geschädigten und der Angeklagten H., die an einem Abend auf die Geschädigte aufpassen sollte, kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Am frühen Morgen des Folgetages rief H. den Angeklagten K. zur Hilfe. Gemeinsam verbrachten sie die Geschädigte in die Garage. Der Angeklagte K. verließ die Garage mehrmals, um zu rauchen; die Angeklagte H. begab sich häufiger in das Wohnhaus; der hinzugekommene Angeklagte Kr. kehrte nach stundenlanger Abwesenheit einige Male zurück. Alle erkannten, dass sich die Geschädigte aufgrund ihrer akut psychotischen Symptomatik in Not befand und fachärztlicher Hilfe bedurfte. In der Hoffnung, die "Einnahmequelle" für den Angeklagten K. erhalten zu können, entschieden sie sich jedoch gemeinsam dazu, keine fachärztliche Hilfe zu organisieren, sondern sich selbst um den Zustand der Geschädigten zu kümmern. Dabei nahmen sie eine Verlängerung ihres Leidens in Kauf, das durch die Gabe von Medikamenten nach kurzer Zeit hätte gelindert werden können. Aufgrund ihrer akuten Psychose schrie die Geschädigte wiederholt laut auf, nässte sich ein, übergab sich und krampfte. Später verstarb die Geschädigte; todesursächlich war entweder ein Würgen oder die Einwirkung einer zu großen Menge Salz auf den Organismus. Wer ihren Tod verursacht hatte, vermochte das Landgericht nicht festzustellen.

2. Der 6. Strafsenat hat u. a. entschieden, dass der Schuldspruch wegen (mit-)täterschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen revisionsgerichtlicher Überprüfung standhält. Er hat im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: "[…]Die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann durch Unterlassen begangen werden. Der Gesetzeswortlaut lässt insoweit keine Einschränkung erkennen, sodass die allgemeinen Regeln einschließlich des Begehens durch Unterlassen nach § 13 StGB Anwendung finden. Zu diesem

Normverständnis drängen insbesondere auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Deren Neufassung[…]sollte zuvörderst dem Anliegen Rechnung tragen, dem Schutz körperlicher Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen[…]. Eingedenk dieses erstrebten effektiven Rechtsgüterschutzes ist bei der Anwendung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in den Blick zu nehmen, dass auch einer Tatbeteiligung durch Unterlassen – nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls – die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten innewohnen kann. Für die Annahme einer gesteigerten Gefährlichkeit bei gemeinschaftlicher Begehung mit einem anderen aktiv handelnden Beteiligten genügt allerdings die Anwesenheit einer sich lediglich passiv verhaltenden Person ebenso wenig[…]wie das bloße gleichzeitige Agieren von Beteiligten an einem Ort, wenn jedes Opfer nur einem Angreifer ausgesetzt ist[…]. Dementsprechend kann allein das gleichzeitige Unterlassen mehrerer Garanten im Sinne einer reinen Nebentäterschaft den Tatbestand nicht erfüllen. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit wird aber regelmäßig gegeben sein, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden[…]und mindestens zwei handlungspflichtige Garanten zumindest zeitweilig am Tatort präsent sind. Denn die getroffene Vereinbarung und die damit einhergehende Verbundenheit verstärken wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss, die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringert, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtung gerecht wird.[…]"[3]

C. Entscheidungsanmerkung

I. Der 2. Strafsenat und der 6. Strafsenat argumentieren beide mit dem Sinn und Zweck der Norm, gelangen allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zu Recht führt der 2. Strafsenat aus, dass "[d]ie Materialien zum Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts[…]sich zur Auslegung des damals neu gefassten Qualifikationstatbestands nicht geäußert[haben]."[4] Er unterschlägt allerdings – worauf der 6. Strafsenat zu Recht explizit und zentral abhebt – die Darlegung des historischen Gesetzgebers: Die Neufassung "sollte zuvörderst dem Anliegen Rechnung tragen, dem Schutz körperlicher Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen[…]."[5]

II. Zwar stellt sich die Entscheidung des 2. Strafsenats zunächst als überzeugend dar, denn "[i]ntuitiv stellt sich[…]ein Störgefühl ein, das den[…]Senat möglicherweise dazu bewogen hat, die Frage mit der[herrschenden Meinung]zu verneinen."[6] Bei Lichte besehen ist diese Intuition allerdings fehlleitend.

1. Die wesentliche Frage ist jene, ob sich durch die Beteiligung die Gefährlichkeit der konkreten Tatsituation erhöht.[7] Eine solche Gefahrerhöhung liegt – bereits – dann vor, wenn das Tatopfer durch die Präsenz mehrerer Personen auf der Verletzerseite insbesondere auch wegen des erwarteten Eingreifens des oder der anderen Beteiligten in seinen Chancen beeinträchtigt wird, dem Täter Gegenwehr zu leisten, auszuweichen oder zu flüchten.[8] Ist die Verteidigungsmöglichkeit des Tatopfers durch die Anwesenheit mehrerer Beteiligter auch nur vermeintlich – also aus der subjektiven Warte des Tatopfers – eingeschränkt, liegt ein Fall der Gefahrerhöhung vor.[9]

2. Der 2. Strafsenat stützt seine Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass schließlich "die bloße Anwesenheit einer weiteren Person am Tatort neben einem aktiv handelnden Täter zur Erfüllung des Tatbestandes von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht aus[reiche]." Dann könne "die Untätigkeit eines weiteren Garanten bei einer allein durch Unterlassen begangenen Körperverletzung erst recht nicht zur Erfüllung des Qualifikationstatbestandes führen."[10] Zwar ist dem Senat zuzugeben, dass die bloße Anwesenheit einer weiteren Person – d. h. das bloße Danebenstehen – nicht ausreicht. Ist die weitere Person allerdings unterstützungsbereit[11] und wird vom Tatopfer dergestalt wahrgenommen,[12] wird eine gemeinschaftliche Begehung bejaht.[13] Hierbei handelt es sich wohl um Grenzfragen, die sich eher auf der Ebene der tatgerichtlichen Feststellungen als auf derjenigen der Rechtsfragen abspielen.[14] Plakativ gesprochen: Steht eine weitere Person neben dem Aktivtäter und verschränkt mit böser Miene seine Arme, liegt der Qualifikationstatbestand nicht mehr weit.

3. Auf diese Vorgaben der Rechtsprechung – Unterstützungsbereitschaft, Wahrnehmung durch das Tatopfer – kommt es allerdings in einer Unterlassenskonstellation nicht an. Grund hierfür ist die Entsprechungsklausel (§ 13 Abs. 1 Hs. 2 StGB), nach der das Unterlassen einem Tun entsprechen muss: Das Unterlassen muss demnach im konkreten Fall dem Unrechtsgehalt aktiver Tatbestandsverwirklichung so nahe kommen, dass es sich dem

Unrechtstypus des Tatbestands einfügt.[15] Dies ist bei einer Verabredung von Garanten zu einem Nichtstun zu bejahen. Denn der (Unterlassens)Vorwurf ist in einem solchen Fall gerade das – gemeinsame – Nichtstun trotz Handlungsverpflichtung, zugespitzt formuliert: Die Passivität. Eine über die Verabredung hinausgehende Unterstützungsbereitschaft, die nach außen – zusätzlich zum Nichtstun – erkennbar wird, verkennt den Sinn des Unterlassensvorwurfes. Aus diesem Grunde kann der vom 2. Strafsenat gebildete "Erst-recht-Schluss" nicht verfangen: Denn natürlich sind Tun und Unterlassen typverschieden, die Bildung eines "sinnvolle[n]komparative[n]Verhältnis[ses]"[16] – der für einen "Erst-recht-Schluss" zwingend ist – ist hier schlicht nicht gelungen.

III. Die Ausführungen des 6. Strafsenats hingegen überzeugen, wenngleich sie stellenweise an der Oberfläche bleiben.

1. Ebenso wie der 2. Strafsenat konzentriert sich der 6. Strafsenat auf die Frage nach der Gefahrerhöhung. Er hebt darauf ab, dass sich "die getroffene Vereinbarung[der Garanten]und die damit einhergehende Verbundenheit[…]wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss[verstärken], die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringert, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtung gerecht wird."[17] Dem ist zuzustimmen, gerade vor dem Hintergrund des – ebenfalls vom Senat ins Feld geführten – Bestrebens des historischen Gesetzgebers nach effektivem Rechtsgüterschutz.

2. Lediglich kurz angesprochen wird die Rechtsprechung zur am Tatort anwesenden sich passiv verhaltenden Person; vor allem tiefergehende Ausführungen zur Entsprechungsklausel werden ausgespart. Das ist bedauernswert, weil gerade dies die entscheidenden Fragen sind – zumal die Erörterung des Sinnes und Zweckes von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in der Unterlassenskonstellation nur vor dem Hintergrund von § 13 Abs. 1 StGB eine Rolle spielt.

3. Nähere Ausführungen zum – nicht selbsterklärenden – Erfordernis, mindestens zwei Garanten müssten zumindest zeitweilig am Tatort anwesend sein, trifft der 6. Strafsenat nicht. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Verabredung der Garanten "als maßgeblicher Grund für die Strafschärfung[…]ja[grundsätzlich] unabhängig davon[bestehe], wo sich die Garanten jeweils aufhalten."[18] Möglicherweise wollte der Senat – mit Blick auf § 13 Abs. 1 Hs. 2 StGB – auf die Voraussetzung des Zusammenwirkens mindestens zweier Beteiligter am Tatort[19] auch für die Begehung durch Unterlassen hinweisen.

IV. Man könnte sich möglicherweise auf den Standpunkt stellen, dass sich die Sachverhalte – über die die Senate zu entscheiden hatten – in einem Punkt maßgeblich unterscheiden: Während der Entscheidung des 6. Strafsenats ein Sachverhalt zugrunde liegt, in dem sich die Angeklagten zu einem Nichtstun verabredet haben, enthält die Entscheidung des 2. Strafsenats keinerlei Hinweise darauf, dass das Tatgericht eine solche Verabredung festgestellt hat.

Allerdings schließt der 2. Strafsenat die Möglichkeit einer "mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich" begangenen Körperverletzung durch Unterlassen kategorisch aus[20] – mit der Konsequenz, dass für eine mögliche (Ausnahme)Konstellation der Verabredung zu einem Nichtstun kein Raum bleibt. Möglicherweise hätte dies – also die ausdrückliche oder konkludente Verabredung von Garanten zu einem Nichtstun – aber der "kleinste gemeinsame Nenner" zwischen den Strafsenaten werden können.

V. Sollte der Bundesgerichtshof in der Zukunft (erneut) vor der Rechtsfrage stehen, ob eine Körperverletzung "mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich" durch das Unterlassen mehrerer Garanten begangen werden kann, wird ein Anfrageverfahren und ggfs. eine Divergenzvorlage (§ 132 Abs. 2, Abs. 3 GVG) erfolgen müssen.[21] Das Ergebnis bleibt abzuwarten. Derzeit stellt sich lediglich der Befund dar, dass die Frage – vermeidbarerweise – rechtlich weiterhin ungeklärt ist.


[*] Der Verfasser ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Strate und Ventzke Rechtsanwälte in Hamburg und Redakteur der HRRS.

[1] Auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs sind als sog. "Einspieldaten" angegeben: 09.06.2023 betreffend das Urteil des 6. Strafsenats und 30.06.2023 betreffend den Beschluss des 2. Strafsenats.

[2] BGH NJW 2023, 2209, 2209 f. = HRRS 2023 Nr. 771 Rn. 11 ff.

[3] BGH NJW 2023, 2060, 2061 = HRRS 2023 Nr. 868 Rn. 43 f.

[4] BGH NJW 2023, 2209, 2209 = HRRS 2023 Nr. 771 Rn. 14.

[5] BGH NJW 2023, 2060, 2060 = HRRS 2023 Nr. 868 Rn. 44.

[6] Lichtenthäler, FD-StrafR 2023, 458302.

[7] Vgl. nur BGH NJW 2017, 1894, 1894 = HRRS 2017 Nr. 495 Rn. 8.

[8] BGHSt 47, 383, 386.

[9] BGH NStZ 2015, 584, 585 = HRRS 2015 Nr. 705 Rn. 8 ("in seiner Verteidigungsmöglichkeit tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt").

[10] BGH NJW 2023, 2209, 2209 = HRRS 2023 Nr. 771 Rn. 12.

[11] BGH 1 StR 447/11, Urteil v. 20. März 2012 = HRRS 2012 Nr. 627 Rn. 12; BGH 3 StR 261/15, Beschluss v. 21. Juli 2015 = HRRS 2015 Nr. 862 Rn. 4; BGH 3 StR 278/16, Beschluss v. 10. Januar 2017 = HRRS 2017 Nr. 414 Rn. 5; vgl. auch BGHSt 47, 383, 387 ("wegen des erwarteten Eingreifens") sowie Hardtung, MüKo-StGB, 4. Aufl. (2021), § 224 Rn. 37 m. w. N.

[12] Das – beim Bundesgerichtshof nur vom 1. Strafsenat aufgestellte – Erfordernis von der Wahrnehmung der Unterstützungsbereitschaft der weiteren Person durch das Tatopfer (BGH 1 StR 447/11, Urteil v. 20. März 2012 = HRRS 2012 Nr. 627 Rn. 12) überzeugt allerdings nicht: Denn gleichzeitig wird – was widersprüchlich ist – nicht vorausgesetzt, dass das Tatopfer von der Beteiligung der weiteren Person weiß, vgl. nur BGH NStZ 2006, 572, 573 = HRRS 2006 Nr. 114 Rn. 19.

[13] BGH 1 StR 447/11, Urteil v. 20. März 2012 = HRRS 2012 Nr. 627 Rn. 12.

[14] Ähnlich Hardtung, MüKo-StGB, 4. Aufl. (2021), § 224 Rn. 38 ("bedarf[…]stets der konkreten positiven Feststellung").

[15] BGH NJW 2015, 3047, 3048 = HRRS 2015 Nr. 944 Rn. 39; Fischer, StGB, 70. Aufl. (2023), § 13 Rn. 83 f. m. w. N.

[16] Lichtenthäler, FD-StrafR 2023, 458302.

[17] BGH NJW 2023, 2060, 2061 = HRRS 2023 Nr. 868 Rn. 44.

[18] Lichtenthäler, FD-StrafR 2023, 458302.

[19] Vgl. nur Fischer, StGB, 70. Aufl. (2023), § 224 Rn. 23.

[20] Ähnlich Eisele, JuS 2023, 881, 882 ("Dass das bloße Unterlassen nie den Qualifikationstatbestand verwirklichen kann und daher keinem Tun entspricht, ist freilich zu pauschal[…]").

[21] Vgl. Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. (2018), § 132 Rn. 16 und § 121 Rn. 24.