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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 872

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 491/23, Beschluss v. 26.06.2023, HRRS 2023 Nr. 872


BVerfG 1 BvR 491/23 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 26. Juni 2023 (AG Tiergarten)

Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch den Ermittlungsrichter (unterlassene Bescheidung eines Eilantrags auf Versiegelung nach Sicherstellung eines Datenträgers; Recht auf effektiven Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit; Verhinderung der Schaffung vollendeter Tatsachen im Eilverfahren).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 103 StPO; § 110 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 110 Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Ermittlungsrichter verletzt den Anspruch des von einer Durchsuchung betroffenen Betreibers eines Online-Nachrichtenportals auf effektiven Rechtsschutz, wenn er dessen unter Berufung auf den journalistischen Quellenschutz gestellten Eilantrag auf sofortige Versiegelung des Umschlags, in dem ein bei der Durchsuchung sichergestellter digitaler Datenträger (USB-Stick) verwahrt wird, selbst nach Ablauf mehrerer Monate nicht bescheidet.

2. Die durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgte Garantie effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutzes gewährleistet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daher muss Eilrechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorkommen, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei endgültiger richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Entscheidungstenor

1. Das Unterlassen des Amtsgerichts Tiergarten, den Antrag der Beschwerdeführerin in dem Ermittlungsverfahren 237 Js 536/22 auf sofortige Versiegelung (Schriftsatz vom 1. November 2022, Seite 2) seiner Dringlichkeit als Eilantrag entsprechend zu behandeln, verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren der einstweiligen Anordnung und die Hälfte ihrer notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ermittlungsrichterliche Untätigkeiten.

1. Die Beschwerdeführerin betreibt ein Online-Nachrichtenportal, das über tagespolitische Geschehnisse berichtet.

Wegen des Vorwurfs von strafbewehrten Verstößen gegen das Parteiengesetz führt die Staatsanwaltschaft gegen zwei Beschuldigte jeweils ein selbstständiges Ermittlungsverfahren (geführt unter den Aktenzeichen 276 Js 739/19 und 237 Js 536/22). Im Rahmen dieser Verfahren erwirkte die Staatsanwaltschaft im August 2022 gestützt auf § 103 StPO ermittlungsrichterliche Beschlüsse, in denen die Durchsuchung näher bezeichneter Räumlichkeiten angeordnet wurde, für die der Geschäftsführer der Beschwerdeführerin als Verantwortlicher eines Vereins zuständig war.

Am 28. September 2022 wurden die Durchsuchungsbeschlüsse vollzogen. Teile des durchsuchten Objekts nutzt die Beschwerdeführerin nach ihren Angaben als Redaktionsraum. Im Rahmen der Durchsuchung stellten die Beamten ein Kuvert mit darin enthaltenem digitalen Datenträger (USB-Stick) sicher, der sich zuvor in einem Safe befand. Diesen öffnete der Geschäftsführer der Beschwerdeführerin nach Ankündigung durch die Beamten, diesen anderenfalls aufzubrechen.

Mit Schriftsätzen vom 1. November 2022 beantragte die Beschwerdeführerin in beiden Ermittlungsverfahren beim Amtsgericht eine ermittlungsrichterliche Entscheidung, wonach die Sicherstellung aufzuheben und das bezeichnete Kuvert inklusive des USB-Sticks an sie herauszugeben sei (fortan der „Hauptantrag“). Darüber hinaus beantragte sie die sofortige Versiegelung des Kuverts inklusive des USB-Sticks bis zur Herausgabe an sie, jedenfalls bis zur richterlichen Entscheidung (fortan der „Eilantrag“). Zur Begründung führte sie aus, dass die Durchsuchung des Redaktionsraums von den Durchsuchungsbeschlüssen nicht gedeckt gewesen sei. Zudem sei nicht beachtet worden, dass die Daten auf dem USB-Stick dem journalistischen Quellenschutz unterlägen. Der sichergestellte Datenträger sei bei alledem noch nicht einmal versiegelt worden, was umgehend nachzuholen sei.

Telefonische Nachfragen der Beschwerdeführerin vom 9. November 2022 blieben nach ihrem Vortrag ergebnislos. Auf Sachstandsanfragen, die sie schriftlich unter dem 4. Januar 2023 in beiden Ermittlungsverfahren anbrachte, erfolgte keine Antwort. Eine unter dem 23. Januar 2023 erhobene und unter Verweis auf eine ermittlungsrichterliche Untätigkeit begründete Dienstaufsichtsbeschwerde wurde dahingehend beantwortet, dass diese bearbeitet werde.

2. Mit ihrer beim Bundesverfassungsgericht am 15. März 2023 eingegangenen und mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Das Amtsgericht habe trotz der ersichtlichen und auch ausdrücklich geltend gemachten Eilbedürftigkeit nicht über die gestellten Anträge vom 1. November 2022 entschieden.

3. Mit Beschluss vom 20. März 2023 hat die Kammer eine einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG erlassen und die ermittlungsführende Staatsanwaltschaft angewiesen, das sichergestellte Kuvert inklusive des darin enthaltenen USB-Sticks einstweilen versiegelt bei dem Amtsgericht zu hinterlegen und von einer Auswertung oder sonstigen Verwertung der sichergestellten Gegenstände und der Datensicherung einstweilen Abstand zu nehmen.

4. Unter dem 5. April 2023 hat das Amtsgericht die Anträge der Beschwerdeführerin vom 1. November 2022 auf ermittlungsrichterliche Entscheidung in einem der beiden in Rede stehenden Ermittlungsverfahren (276 Js 739/19) beschieden. In dem weiteren Ermittlungsverfahren (237 Js 536/22) steht eine Entscheidung über die unter dem 1. November 2022 gestellten Anträge der Beschwerdeführerin weiterhin aus.

5. Das Land Berlin (Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung) hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten der Ermittlungsverfahren haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit der Ermittlungsrichter den Eilantrag der Beschwerdeführerin in dem Verfahren 237 Js 536/22 nicht beschieden hat. Ihre Annahme ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen insoweit vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerden maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig ist.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zum Teil unzulässig.

a) Soweit die Beschwerdeführerin weiterhin auch im Hinblick auf das Verfahren 276 Js 739/19 eine verfassungswidrige Untätigkeit rügt, obwohl das Amtsgericht zwischenzeitlich in diesem Verfahren über ihre Anträge vom 1. November 2022 entschieden hat, fehlt ihr das in jeder Lage des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu prüfende Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 2017 - 1 BvR 571/16 -, Rn. 17). Ein solches liegt (nur) vor, solange der Rechtsschutzsuchende (noch) gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann (vgl. BVerfGE 104, 220 <232>; BVerfGK 7, 87 <104>; 11, 262 <266>). Daran fehlt es hier, nachdem das Amtsgericht den Beschluss vom 5. April 2023 gefasst hat. Ein trotz Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis an einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 2022 - 1 BvR 1072/17 -, Rn. 12, m.w.N.) hat die Beschwerdeführerin nicht in einer den § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise geltend gemacht.

b) Im Hinblick auf das Verfahren 237 Js 536/22 besteht das Rechtsschutzbedürfnis zwar fort, eine mögliche Grundrechtsverletzung hat die Beschwerdeführerin aber nicht aufgezeigt, soweit sie eine Nichtbescheidung ihres Hauptantrags rügt. Dieser auf § 110, § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO gestützte Antrag lässt anders als der Eilantrag weder aufgrund des Vorbringens der Beschwerdeführerin noch aufgrund der Umstände eine besondere Eilbedürftigkeit erkennen, die das Amtsgericht in einer Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzenden Weise missachtet haben könnte.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die fortbestehende ermittlungsrichterliche Untätigkeit betreffend den Eilantrag in dem Verfahren 237 Js 536/22 verletzt die Beschwerdeführerin in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgt effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Verletzungen der Individualsphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 51, 176 <185>; 67, 43 <58>; 101, 106 <122 f.>). Dieser Rechtsschutz darf sich dabei nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (vgl. BVerfGE 101, 106 <123>). Hierbei bedeutet wirksamer Rechtsschutz auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass Eilrechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 <151 ff.>; 65, 1 <70>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Februar und 25. Mai 2022 - 2 BvR 167/22 -, Rn. 2 bzw. Rn. 20, m.w.N.).

b) Diesen Anforderungen wird der Ermittlungsrichter im Ermittlungsverfahren 237 Js 536/22 nicht gerecht. Sein Umgang mit dem Eilantrag der Beschwerdeführerin verletzt deren Anspruch auf effektiven Rechtschutz.

In ihrem Schriftsatz vom 1. November 2022 hat sie ausdrücklich folgenden Antrag gestellt: „Ich beantrage ferner die sofortige Versiegelung des „Kuverts […]“ inkl. des darin enthaltenen USB-Sticks (1 TB) bis zur Herausgabe an meine Mandantin, jedenfalls bis zur richterlichen Entscheidung.“

In der Antragsbegründung kritisierte die Beschwerdeführerin, dass die Durchsuchungsbeamten „noch nicht einmal“ den sichergestellten Datenträger versiegelt hätten, was nunmehr - so ausdrücklich - umgehend nachgeholt werden müsse.

Unbeschadet dieser unmissverständlichen Formulierungen musste sich dem Ermittlungsrichter auch deshalb die Eilbedürftigkeit dieses Antrags aufdrängen, weil dieser erkennbar darauf ausgerichtet war, vollendete Zustände zu verhindern. Mit ihrem Hauptantrag auf ermittlungsrichterliche Entscheidung bezweckte die Beschwerdeführerin - wie ebenfalls von ihr ausdrücklich benannt - die Aufhebung der Sicherstellung und Herausgabe des Kuverts inklusive des darin befindlichen USB-Sticks. Sie berief sich im Weiteren auf ihre besondere Stellung als Presseorgan, weshalb jede Einsichtnahme der Ermittlungsbehörden in die auf dem USB-Stick gespeicherten Daten verhindert werden soll.

Vor diesem Hintergrund war klar, dass der Entscheidung über den Hauptantrag und damit dem durch das Fachrecht vorgesehenen Rechtsbehelf nach § 110 Abs. 4, § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO praktisch keine Bedeutung mehr zukommt, sobald die Ermittlungsbehörden den USB-Stick ausgewertet haben. Um daher einem solchen irreversiblen Zustand zuvorzukommen, hat die Beschwerdeführerin einen Eilantrag formuliert. Damit hatte sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf dessen seiner Dringlichkeit entsprechenden Bescheidung.

Ein Zurückstellen der Entscheidung über den Eilantrag seit nunmehr über acht Monaten ist hiermit unvereinbar. Ein dies rechtfertigender Grund folgt auch - worauf das Land Berlin in seiner Stellungnahme gedrungen hat - nicht daraus, dass der Ermittlungsrichter zunächst vor Entscheidung über die Anträge der Beschwerdeführerin vom 1. November 2022 abwarten durfte, wie über eine durch den Geschäftsführer der Beschwerdeführerin im eigenen Namen angebrachte Beschwerde entschieden wird. Ein solches am Gedanken der Prozessökonomie ausgerichtetes Vorgehen kann allenfalls rechtfertigen, dass die Entscheidung über den Hauptantrag vom 1. November 2022 zurückgestellt wird, um divergierende Sachentscheidungen zu vermeiden. Dies gilt für den Eilantrag vom 1. November 2022 hingegen nicht, weil die Beschwerdeführerin mit diesem keine Entscheidung in der Sache, sondern nur eine vorläufige Sicherung ihrer geltend gemachten Rechtsposition begehrt.

III.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Hierbei war zu ihren Gunsten zu berücksichtigen, dass ihre Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die grundrechtswidrig hinausgezögerte Bescheidung des Eilantrags, den die Beschwerdeführerin auch in dem Verfahren 276 Js 739/19 gestellt hat, ohne deren Erledigung auf Grundlage der getroffenen Feststellungen (dazu Rn. 17 ff.) offensichtlich erfolgreich gewesen wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 <115 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 2100/11 -, Rn. 20).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 872

Bearbeiter: Holger Mann