HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2023
24. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

121. BVerfG 2 BvR 2697/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 9. Januar 2023 (LG Lüneburg / AG Soltau)

Entkräftung einer Postzustellungsurkunde über die Zustellung eines Strafbefehls (Überzeugung des Gerichts vom Beginn der Einspruchsfrist; keine überspannten Anforderungen; erster Zugang zum Gericht; Beweiskraft der Zustellungsurkunde; Gegenbeweis eines anderen Geschehensablaufs; Nachforschungspflicht bei substantiierter Darlegung; Pflicht zur Erhebung angebotener Beweise; keine Beschränkung auf präsente Beweismittel; Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis einer Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 45 Abs. 2 StPO; § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 418 Abs. 2 ZPO

1. Bei der Prüfung, ob ein Einspruch gegen einen Strafbefehl rechtzeitig erhoben worden ist, haben sich die Strafgerichte von Verfassungs wegen mit besonderer Sorgfalt die erforderliche Überzeugung vom Beginn der Einspruchsfrist zu verschaffen, die eine wirksame Zustellung des Strafbefehls voraussetzt. Dabei dürfen bei der Anwendung und Auslegung prozessualer Vorschriften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen gestellt werden, zumal insoweit der erste Zugang zum Gericht infrage steht.

2. Der durch die Zustellungsurkunde begründete volle Beweis der Zustellung zu einem bestimmten Zeitpunkt kann nur durch den Gegenbeweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs entkräftet werden, der eine Falschbeurkundung belegt. Allerdings kann bereits die

hinreichend substantiierte Darlegung von Umständen, die gegen die Richtigkeit der Zustellungsurkunde sprechen, den Gerichten Anlass zu weiteren Nachforschungen bieten. Sie haben dem Betroffenen Gelegenheit zu geben, Beweis anzutreten; die angebotenen Beweise sind sodann zu erheben, ohne dass insoweit eine Beschränkung auf präsente Beweismittel gilt.

3. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist ein Beschwerdeführer gehalten, eine unter Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör ergangene Entscheidung zunächst mit einer Anhörungsrüge anzugreifen. Die Nichtberücksichtigung eines als sachdienlich und erheblich anzusehenden Beweisangebots verletzt auch in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, das Recht auf rechtliches Gehör, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet.


Entscheidung

120. BVerfG 2 BvR 1343/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Januar 2023 (KG / LG Berlin / AG Tiergarten)

Fortdauer der Untersuchungshaft bei verzögerter Aktenvorlage an das Beschwerdegericht (keine zwingende Aufhebung des Haftbefehls bei Verstoß gegen gesetzliche Pflicht zur sofortigen Vorlage einer Haftbeschwerde; Abwägung; Berücksichtigung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und des Freiheitsgrundrechts; Kriterium der Verlängerung der Untersuchungshaft; Überschreitung der Sechsmonatsfrist im besonderen Haftprüfungsverfahren).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 121 StPO; § 122 StPO; § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO

1. Die um rund einen Monat verspätete Vorlage einer Haftbeschwerde an das Beschwerdegericht zwingt von Verfassungs wegen nicht zur Aufhebung des Haftbefehls, wenn zwar kein sachlicher Grund für die erkennbar versehentlich verursachte Verzögerung besteht, wenn diese jedoch im Ergebnis nicht zu einer Verlängerung der Untersuchungshaft geführt hat und sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Ausgangsgericht, welches nach Feststellung des Versäumnisses umgehend die Nichtabhilfeentscheidung getroffen und die Sache dem Beschwerdegericht zugeleitet hat, die Eilbedürftigkeit grundlegend verkannt hätte.

2. Nicht jeder Verstoß gegen die in § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO normierte Verpflichtung zur umgehenden Vorlage einer Haftbeschwerde an das Beschwerdegericht führt bereits für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft. Allerdings hat das Beschwerdegericht bei der Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und des Freiheitsgrundrechts in seine Abwägung miteinzubeziehen.

3. Ebenso begründet eine verzögerte Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der Sechsmonatsfrist im besonderen Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung.


Entscheidung

119. BVerfG 2 BvQ 1/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 12. Januar 2023 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Erfolgloser Antrag eines Sicherungsverwahrten auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Disziplinarmaßnahme (Darlegungsanforderungen; Vorlage von Dokumenten; Recht auf effektiven Rechtsschutz und Aussetzung der Vollstreckung einer Disziplinarmaßnahme durch die Justizvollzugsanstalt; materielle Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; verspätete Kenntnis von einem Schriftsatz).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG; § 56 Abs. 3 Satz 2 HSVVollzG

1. Der Antrag eines Sicherungsverwahrten auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Disziplinarmaßnahme genügt nicht den Begründungsanforderungen, wenn der Betroffene weder die schriftliche Dokumentation der Disziplinarentscheidung noch die gegen ihn ergangenen weiteren Disziplinarbescheide vorlegt, hinsichtlich derer er im Wege einer Gesamtschau eine Unverhältnismäßigkeit der aktuellen Maßnahme geltend macht.

2. Unbeschadet der Möglichkeit einer vorläufigen Aussetzung der Vollstreckung einer Disziplinarmaßnahme durch die Justizvollzugsanstalt haben die Fachgerichte im Rahmen des (einstweiligen) Rechtsschutzes grundsätzlich eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen.

3. Die Äußerung eines Rechtsbeschwerdegerichts im Rahmen eines obiter dictum, die Vollstreckungsaussetzung künftiger Disziplinarmaßnahmen durch die Justizvollzugsanstalt sei „eher kritisch zu bewerten“, belegt eine drohende (künftige) Verkürzung des gerichtlichen Rechtsschutzes insbesondere dann nicht, wenn bisherige Anträge umfassend geprüft worden sind.

4. Erhält ein Gefangener erst am Tage des Ablaufs einer gerichtlichen Äußerungsfrist Kenntnis von einem Schriftsatz, auf welchen er erwidern möchte, so ist er gehalten, das Gericht unmittelbar zu kontaktieren und auf den späten Zugang aufmerksam zu machen – wobei die Vollzugsanstalt angesichts der besonderen Umstände regelmäßig verpflichtet ist, den Kontakt zu ermöglichen. Anderenfalls wahrt seine anschließend erhobene Verfassungsbeschwerde, mit welcher er die unterbliebene Berücksichtigung seiner Erwiderung geltend macht, nicht den Grundsatz der materiellen Subsidiarität.