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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 120

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1343/22, Beschluss v. 23.01.2023, HRRS 2023 Nr. 120


BVerfG 2 BvR 1343/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Januar 2023 (KG / LG Berlin / AG Tiergarten)

Fortdauer der Untersuchungshaft bei verzögerter Aktenvorlage an das Beschwerdegericht (keine zwingende Aufhebung des Haftbefehls bei Verstoß gegen gesetzliche Pflicht zur sofortigen Vorlage einer Haftbeschwerde; Abwägung; Berücksichtigung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und des Freiheitsgrundrechts; Kriterium der Verlängerung der Untersuchungshaft; Überschreitung der Sechsmonatsfrist im besonderen Haftprüfungsverfahren).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 121 StPO; § 122 StPO; § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die um rund einen Monat verspätete Vorlage einer Haftbeschwerde an das Beschwerdegericht zwingt von Verfassungs wegen nicht zur Aufhebung des Haftbefehls, wenn zwar kein sachlicher Grund für die erkennbar versehentlich verursachte Verzögerung besteht, wenn diese jedoch im Ergebnis nicht zu einer Verlängerung der Untersuchungshaft geführt hat und sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Ausgangsgericht, welches nach Feststellung des Versäumnisses umgehend die Nichtabhilfeentscheidung getroffen und die Sache dem Beschwerdegericht zugeleitet hat, die Eilbedürftigkeit grundlegend verkannt hätte.

2. Nicht jeder Verstoß gegen die in § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO normierte Verpflichtung zur umgehenden Vorlage einer Haftbeschwerde an das Beschwerdegericht führt bereits für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft. Allerdings hat das Beschwerdegericht bei der Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und des Freiheitsgrundrechts in seine Abwägung miteinzubeziehen.

3. Ebenso begründet eine verzögerte Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der Sechsmonatsfrist im besonderen Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung..

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den im Haftbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des Kammergerichts vom 5. Juli 2022 wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

1. Zwar hat das Kammergericht zutreffend einen Verstoß des Landgerichts gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO angenommen. Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

2. Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft (vgl. KG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 - 2 Ws 360/14 -, NStZ-RR 2015, S. 18; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12. Juni 2019 - 18 Qs 20/19 -, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; OLG Naumburg, Beschluss vom 8. August 2000 - 1 Ws 359/00 -, juris, Rn. 6; KG, Beschluss vom 15. März 2019 - 4 Ws 24/19 - 121 AR 47/19 -, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39). Die Ausführungen des Kammergerichts lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie „strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts“. Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die Generalstaatsanwaltschaft am Tag der verspäteten Nichtabhilfeentscheidung und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot „bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände“ noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte „um schnellstmögliche Weiterleitung“ auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

3. In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht, wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im - parallel zum Haftbeschwerdeverfahren durchgeführten - Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

4. Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21 -, Rn. 39; OLG Hamm, Beschluss vom 21. August 2007 - 3 OBL 86/07 <42> <3 Ws 486/07> -, NJW 2007, S. 3220 <3221>; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen (vgl. BVerfGE 42, 1 <9 f.>). Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO im Haftbeschwerdeverfahren strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 StPO).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 120

Bearbeiter: Holger Mann