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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2023
24. Jahrgang
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Von RAin Dr. Hellen Schilling, Frankfurt am Main[*]
"Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit – taugliche Argumente der Strafverteidigung ?" lautet der Titel meines Vortrags, als Frage formuliert. Auch der von den Veranstaltern gewählte Zusatz "Wenn Du gar nichts anderes mehr hast ...?" ist mit einem Fragezeichen versehen.
Stimmt das? Ist die Berufung auf die fehlende Bestimmtheit einer Strafnorm oder die Unverhältnismäßigkeit eines Gesetzes oder einer prozessualen Maßnahme in der Verteidigung ein Ausdruck von Verzweiflung und Kapitulation? "Wir könnten es allenfalls noch damit versuchen?" – "Aber nein!" möchte man rufen, sind doch die Grundsätze der Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit zwei der vornehmsten verfassungsrechtlichen Prinzipien, vor denen sich das Strafverfahren zu rechtfertigen hat.
In den Worten des Bundesverfassungsgerichts bedeutet das Bestimmtheitsgebot:
"Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Art. 103 Abs. 2 GG hat insofern freiheitsgewährleistende Funktion "[1].
Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 2 GG, dessen Verletzung mit einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) enthält – wie das Bundesverfassungsgericht formelhaft wiederholt – "für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Auslegung". Zugleich soll ein "strenger Gesetzesvorbehalt gewährleisten, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber abstrakt generell über Strafbarkeit entscheidet"[2]. Den Gerichten ist es verwehrt, die Entscheidungen des Gesetzgebers zu korrigieren,[3] der Wortlaut ist die äußerste Grenze der Auslegung.[4]
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat eine nicht minder gewichtige rechtsstaatliche Funktion. Das Bundesverfassungsgericht betont:
"Staatliches Strafen ist auf mehreren Ebenen der aus dem Rechtsstaatsprinzip geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen: Auf der Normebene die Strafbewehrung als solche und das angedrohte Strafmaß, auf der Ebene des Straferkenntnisses die Zumessung der Strafe nach dem Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit. Auch die dazwischenliegende Entscheidung über die Strafverfolgung ist einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen." [5]
Die "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn" verlangt als "Übermaßverbot" eine kritische Angemessenheitsprüfung: Als geeignet und erforderlich erkannte Maßnahmen sind
"einer gegenläufigen Kontrolle mit Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen
Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen." [6]
Das hört sich vielversprechend an. Und doch: Die Statistik lässt die Berufung auf diese Prinzipien – um zur Ausgangsfrage zurückzukommen – eher als einen letzten Versuch, denn als valide Verteidigungsposition erscheinen:
So führt eine Auswertung der auf "HRR-Strafrecht" veröffentlichten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der letzten 15 Jahre (also seit 2008), in denen ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG geltend gemacht wurde, zu 45 Entscheidungen. Nur in fünf Fällen stellte das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot bzw. das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG fest.[7] Bei einer sechsten wurde ein Verstoß zwar "jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen"[8], was zu einer mehrfach verlängerten einstweiligen Anordnung führte, letztlich wurde § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG jedoch für verfassungskonform erklärt.[9] Die Mehrheit dieser Verstöße wurde in den Jahren 2008 bis 2012 festgestellt. Danach erging nur noch eine Entscheidung, die einen Verstoß ausmachte, und zwar in einem Normenkontrollverfahren.[10]
Dass das Bundesverfassungsgericht eine Strafvorschrift des – den meisten von uns wahrscheinlich erst und nur in diesem Zusammenhang begegneten – "Rindfleischetikettierungsgesetzes" als verfassungswidrig "gekippt" hat,[11] war daher bemerkenswert und wurde teilweise als turning point gesehen.[12] Würden nun in einem Dominoeffekt die kaskadenartigen Strafnormen des sog. Nebenstrafrechts reihenweise umfallen? Ein solcher Trend ist nicht ersichtlich. Nicht zuletzt der Beschluss zum Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB), dessen – strukturell durchaus ähnliche[13] – Strafvorschrift als mit Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar angesehen wurde,[14] hat insoweit Ernüchterung gebracht.
Woran liegt das?
Zunächst einmal wird man einräumen müssen: Es "wimmelt" nicht von Verfassungsverstößen. Nicht jede Strafdrohung, die sich außerhalb des sog. Kernstrafrechts bewegt, ist zu unbestimmt und nicht bei jedem Mandanten, der sich "hart und ungerecht" behandelt fühlt, wird ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen. Um Verfassungsprinzipien nicht erodieren zu lassen und den Mandanten seriös zu beraten, muss auch und gerade in der Verteidigung genau hingesehen und kritisch geprüft werden.
In Bezug auf das Bestimmtheitsgebot lassen sich m.E. drei "Phänomene" ausmachen:
1. "Heilung" durch das "Präzisierungsgebot";
2. Etablierung von Erkundigungspflichten;
3. Hohe Zulässigkeitsanforderungen an Normenkontrollverfahren.
Im Leben kommt es oft anders, als man denkt. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von der "Vielgestaltigkeit des Lebens"[15] und sieht darin gleichsam den natürlichen Feind der Bestimmtheit – mit erheblichen Konsequenzen:
Um nicht der Gefahr zu erliegen, "dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem Wandel der Verhältnisse nicht mehr gerecht werden könnten"[16], wird das Bestimmtheitsgebot unter den Vorbehalt des Möglichen bzw. des Für-Möglich-Gehaltenen gestellt und Bestimmtheit als "größtmögliche Bestimmtheit" quantifiziert. Dabei soll sich auch der jeweilige Bestimmtheitsgrad nicht allgemein, sondern "nur im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung möglicher Regelungsalternativen"[17] bestimmen lassen. Dadurch wird bestimmte Bestimmtheit zu relativer Bestimmtheit.
Zugleich wird der Anspruch an die Vorhersehbarkeit von Strafbarkeit erheblich abgesenkt: In den sich selbstreferentiell wiederholenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts heißt es in diesem Zusammenhang, das Bestimmtheitsgebot verlange, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass "die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht"[18]. So wird der Grundsatz der Bestimmtheit zu grundsätzlicher Bestimmtheit – Ausnahmen impliziert.
Gesetzliche "Randunschärfen"[19] werden als unvermeidbar deklariert und toleriert. Zulässig sind etwa auch Begriffe, die allgemein, normativ und "wie unbestimmte Rechtsbegriffe wertausfüllungsbedürftig sind, und damit in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen", Generalklauseln und Verweise auf außerstrafrechtliche Normen, die ihrerseits nicht dem Bestimmtheitsgrundsatz unterliegen.[20]
Zu helfen ist die Rechtsprechung berufen. Sie treffe, wie das Bundesverfassungsgericht in der "Untreue-Entscheidung" Mitte 2010 erstmals in dieser Deutlichkeit ausgeführt hat, ein sog. Präzisierungsgebot, tatsächlich aber eine "Pflicht", die vor allem bei solchen Tatbeständen bestehe, "die der Gesetzgeber im Rahmen des Zulässigen (...) verhältnismäßig weit und unscharf gefasst hat" und von einer "besonderen Verpflichtung" in "Fallkonstellationen, in denen der Normadressat nach dem gesetzlichen Tatbestand nur noch die Möglichkeit einer Bestrafung erkennen kann und in denen sich erst aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung einer Norm gewinnen lässt"[21]. Damit geht das Bundesverfassungsgericht über frühere Ansätze hinaus, die Bestimmtheit mit Verweis auf eine "gefestigte" Rechtsprechung zu begründen.[22]
Ob der Gesetzgeber die Grenzen des Zulässigen eingehalten hat, soll sich wiederum danach bestimmen, ob der entsprechende Tatbestand eine "konkretisierende Auslegung zulasse"[23], welche die Rechtsprechung in "langjähriger Praxis umgesetzt" und die sich "in ihrer tatbestandsbegrenzenden Funktion als tragfähig erwiesen hat"[24]. Damit wird Bestimmtheit zu Bestimmbarkeit.
Abgesichert werden soll diese – unter Gewaltenteilungsaspekten durchaus fragwürdige – Aufgabenteilung zwischen Legislative und Judikative durch eine erhöhte verfassungsrechtliche Kontrolldichte: Das Bundesverfassungsgericht habe insofern, über eine bloße Vertretbarkeitsprüfung hinaus, sowohl die "Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes" als auch die "Konturierung und Präzisierung ihres Inhalts" durch die Fachgerichte zu überprüfen.[25]
Zudem formuliert der "Untreue-Beschluss" einen konkreten Arbeitsauftrag, der zugleich Prüfungsmaßstab ist: Die Bildung "fallgruppenspezifischer Obersätze"[26]. Was das Strafgesetz nicht kann, soll eine in Fallgruppen sortierte Kasuistik leisten, wobei offen bleibt, welchen Grad an Festigkeit die insoweit vorausgesetzte "gefestigten Rechtsprechung" aufweisen muss.[27] Ob eine "ständige Rechtsprechung" etwa – wie der Bundesgerichtshof in Zivilsachen einmal entschieden hat[28] – bereits beim Vorliegen einer abweichenden Entscheidung nicht mehr anzunehmen ist, lässt sich dem Beschluss nicht entnehmen. Maßstäbe, wie sie etwa im anglo-amerikanischen Case-law entwickelt worden sind,[29] gibt es nicht.
In dem Beschluss zum LFGB hat das Bundesverfassungsgericht einen anderen Weg gewählt, um die Norm vor der Verfassungswidrigkeit zu bewahren: Das "normative Leitbild eines sach- und fachkundigen Normadressaten", gekoppelt mit individuellen Erkundigungspflichten, "unter Umständen durch fachkundige Beratung".[30]
Sollen insoweit dieselben Maßstäbe gelten, wie bei der Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, sieht es für den Betroffenen meist "mau" aus. Als Beispiel aus meiner Praxis mag insoweit ein ungelernter Kraftfahrer dienen, der in Deutschland urheberrechtlich geschützte Designreplikate in Italien abgeholt und deutschen Kunden ausgeliefert hat. Der 1. Strafsenat sah sich nicht imstande, die damit verbundenen äußerst komplexen unionsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Auslegung der den freien Warenverkehr regelnden Art. 34, 36 AEUV selbst zu entscheiden und legte die Sache dem EuGH vor.[31] Nach der Entscheidung aus Straßburg wurde das einstweilen ausgesetzt Strafverfahren fortgesetzt und dem Betroffenen mitgeteilt, ein Verbotsirrtum sei vor allem deshalb vermeidbar gewesen, weil die einbezogenen Auskunftspersonen – darunter immerhin Fachanwälte für Urheberrecht – nicht die Gewähr für eine verlässliche Auskunft geboten hätten und das erstellte Gutachten lediglich eine "Feigenblattfunktion" erfüllt habe.[32]
Unabhängig von derartigen Einzelfällen begegnet es jedoch grundlegenden Bedenken, die Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm von individuellen Fähigkeiten und der Inanspruchnahme mehr oder weniger fachkundiger
Beratung abhängig zu machen. Während § 17 StGB im Rahmen individueller Schuld zu prüfen ist, sollte für die Maßgaben von Art. 103 Abs. 2 GG ein abstrakt-genereller Maßstab gelten.[33]
Fachgerichtlich erzwingen lässt sich ein konkretes Normenkontrollverfahren – etwa im Rahmen eines strafprozessualen Beschwerdeverfahrens – nicht. Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet jedoch Gerichte, zur Aussetzung des Verfahrens und zur Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wenn es ein entscheidungserhebliches Gesetz, für verfassungswidrig hält; ein Ermessen besteht insoweit nicht.[34]
Die Anforderungen an eine Vorlage sind allerdings denkbar hoch, in der verfassungsrechtlichen Literatur werden die Begründungsanforderungen auch als "bis an die Grenze der Unerfüllbarkeit verschärft", "verschiedentlich überzogen" oder "übersteigert" kritisiert.[35] Und tatsächlich hat die Vorlage hinsichtlich des LFGB durch das Landgericht Stade die vom Bundesverfassungsgericht errichteten Hürden, wie es in der Entscheidung heißt, "noch" – also: gerade so eben – genommen,[36] während in den letzten Jahren mehrere Vorlagen im Zusammenhang mit der Bestimmtheit von Strafnormen –§ 27 ChemG bzw. § 34, 33 AWG a.F. – daran gescheitert sind.[37]
Der praktische Umgang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lässt sich anhand der veröffentlichten Rechtsprechung wahrscheinlich weniger gut ablesen. Im prozessualen Bereich wird die Unverhältnismäßigkeit eher gegenüber der Staatsanwaltschaft bzw. im ermittlungsrichterlichen Kontext gerügt, wenn es um die Anordnung bzw. Aufrechterhaltung von Zwangsmaßnahmen geht, ggf. gefolgt von Beschwerdeverfahren.
Während sich – dies ist mein subjektiver Eindruck – in Haftsachen mit der Berufung auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip eher "kein Blumentopf gewinnen lässt", hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit vorläufigen Sicherungsmaßnahmen zur Vermögensabschöpfung das Gebot wiederholt betont.[38]
Und gerade in diesem Kontext lässt sich eine bemerkenswerte Entwicklung – vielleicht ist es auch nur eine Erscheinung – feststellen: Der "Ersatz" strafprozessualer Ermächtigungsgrundlagen durch volatile Maßstäbe.
So ist die – zu Recht – als "inkonsequent und wenig verständlich"[39] disqualifizierte Vorschrift zur Dauer der Aufrechterhaltung von Sicherungsmaßnahmen des früheren § 111b Abs. 3 StPO a.F. zugunsten von "allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen" aufgehoben worden.[40] Anstelle des – in der Tat wenig glücklich formulierten – zeitlich abgestuften Systems ist mit der Reform der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 keine alternative Vorschrift getreten. Vielmehr enthält lediglich die Gesetzesbegründung einen Verweis auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip,[41] nach anerkanntem verfassungsrechtlichem Verständnis also auf ein allgemeines Abwägungsprinzip zum möglichst schonenden Ausgleich kollidierender Interessen.
Das Vertrauen des Gesetzgebers auf die Wirkmacht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist bemerkenswert, m.E. aber verfassungsdogmatisch verfehlt:
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt die hohe Eingriffsintensität vorläufiger Vermögenssicherungsmaßnahmen betont, die sich vor der Unschuldsvermutung zu rechtfertigen haben.[42] Für solche Grundrechtseingriffe verlangt der Vorbehalt des Gesetzes eine klare Ermächtigungsgrundlage: Die Grenzen grundrechtsrelevanten staatlichen Handelns müssen – selbst, wenn man mit der Rechtsprechung der Einziehung jeden Strafcharakter abspricht[43] – trennscharf definiert sein, sie müssen vorhersehbar und kontrollierbar sein.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, für diese Aufgabe aber ungeeignet: Es ist Maßstab und Bezugspunkt für die Frage, ob eine Maßnahme zur Erreichung gerade dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist. Als Abwägungsprinzip hat es jedoch stets nur korrektive und befugnislimitierende, nicht jedoch befugnisbegründende Funktion.
Einen ähnlichen Mechanismus hat der Gesetzgeber in Bezug auf den Sicherungsgrund gewählt. Insoweit gibt es nunmehr in §§ 111b Abs. 1, 111e Abs. 1 StPO eigenständige strafprozessuale Regelungen. Dadurch entfällt der – aus verschiedenen Gründen unpassende – Verweis auf den "Arrestgrund" i.S.v. § 917 ZPO in § 111d Abs. 2 StPO a.F. Dies ist an sich begrüßenswert. Fraglich ist jedoch, ob sich das in der Gesetzesbegründung ausgesprochene Vertrauen darauf, das Merkmal "zur Sicherung der Vollstreckung" werde das Übermaßverbot absichern,[44] erfüllt. Auch insofern erscheint es im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes nicht unproblematisch, konkrete Tatbestands-
voraussetzungen durch allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen zu ersetzen.
Sicher leistet die Neuregelung einen Beitrag zu der vom Gesetzgeber begrüßten "flexiblen Handhabung der Sicherungsinstrumente"[45], doch die Kehrseite jeder Flexibilisierung ist offensichtlich: In einem Stadium, in dem sich jeder staatliche Eingriff vor der Unschuldsvermutung zu rechtfertigen hat, sollte das Interesse an flexibler Einzelfallgerechtigkeit m.E. hinter Rechtssicherheit und -kontrollierbarkeit zurücktreten.
Die Prinzipien der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit sind wesentliche Garantien eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens. Sie gelten nicht deshalb, weil wir in einem Rechtsstaat leben oder leben wollen. Vielmehr ist der Staat – so viel Pathos darf sein – nur dann ein Rechtstaat, wenn wesentliche Verfassungs- und Verfahrensgarantien eingehalten werden.
Kommt eine kritische und sorgfältige Prüfung zu dem Ergebnis, dass Verfassungsgarantien verletzt sind, sollte dies ernstgenommen, vorgetragen und – wiederum gründlich und im Ergebnis nicht unangemessen restriktiv – gerichtlich überprüft werden.
[*] Um Nachweise ergänzter und geringfügig angepasster Vortrag auf der 11. WisteV Herbsttagung am 30.9.2022 an der Bucerius Law School in Hamburg. Die Autorin ist Rechtsanwältin/Fachanwältin für Strafrecht und Partnerin der auf das Wirtschafts- und Steuerstrafrecht ausgerichteten Kanzlei kempf schilling + partner PartGmbB in Frankfurt am Main.
[1] BVerfGE 126, 170, Rn. 70 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[2] BVerfGE 126, 170, Rn. 69 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[3] BVerfGE 92, 1, 13.
[4] BVerfGE 126, 170, Rn. 77 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[5] BVerfGE 92, 277, 326.
[6] Vgl. etwa BVerfGE 90, 145, Rn. 156.
[7] BVerfG NJW 2013, 365 = HRRS 2012 Nr. 1043; BVerfGE 130, 1 = HRRS 2012 Nr. 27; BVerfGE 126, 170 = HRRS 2010 Nr. 656; BVerfG NJW 2010, 754 = HRRS 2010 Nr. 66; BVerfG NJW 2008, 3627= HRRS 2008 Nr. 830.
[8] BVerfG 2 BvR 542/09, Beschluss v. 23. Juli 2009 = HRRS 2009 Nr. 656, Rn. 10.
[9] Vgl. BGHSt 53, 45 = HRRS 2009 Nr. 178; BGH 1 StR 354/08, Beschluss v. 5. Februar 2009 = HRRS 2009 Nr. 227; BVerfG 2 BvR 542/09, Beschlüsse v. 14. Januar 2010, v. 14. Juli 2010, v. 15. Dezember 2010, v. 10. Juni 2011, v. 16. Juni 2011 = NJW 2011, 3778 = HRRS 2011 Nr. 1128.
[10] BVerfGE 143, 38 = HRRS 2016 Nr. 1112 (Rindfleischetikettierungsgesetz).
[11] BVerfGE 143, 38 = HRRS 2016 Nr. 1112; Anm. Cornelius NStZ 2017, 682 ff.
[12] Bülte BB 2016, 3075, hat dem Beschluss gar die Kraft zugesprochen, "einige Bereiche des Wirtschaftsstrafrechts aus den Angeln zu heben".
[13] Vgl. Herz NZWiSt 2020, 253 m.w.N.
[14] BVerfGE 153, 310, Rn. 69 = HRRS 2020 Nr. 549.
[15] Vgl. nur BVerfGE 4, 352, 357; 14, 245; 28, 175; BGHSt 30, 285, 287; weitere Rspr.-Nachw. etwa bei Krahl, Die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (1986), S. 266, 304 ff.; Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwK-StGB, 3. Aufl. (2020), § 1, Rn. 20.
[16] BVerfGE 126, 170, Rn. 72 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[17] BVerfGE 126, 170, Rn. 74 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[18] BVerfGE 126, 170, Rn. 71 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656 (ohne Hervorhebung im Original).
[19] BVerfGE 126, 170, Rn. 75 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[20] BVerfGE 126, 170, Rn. 73 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[21] BVerfGE 126, 170, Rn. 80 m.w.N. = HRRS 2010 Nr. 656.
[22] In BVerfGE 93, 266, 292 hat das BVerfG die Bestimmtheit des Beleidigungsbegriffs (auch) damit begründet, das Merkmal habe durch eine "über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rspr. einen hinreichend klaren Inhalt erlangt", ohne daraus jedoch einen Konkretisierungsauftrag abzuleiten; ähnlich auch BVerfGE 26, 41, 43; zu früheren Ansätzen vgl. auch Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwK-StGB, 3. Aufl. (2020), § 1, Rn. 20.
[23] Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht (2005), S. 449, und Kuhlen, in: Festschrift für Otto (2007), S. 89, 104, sehen in dieser Eignung bzw. im Bestehen einer gefestigten Rechtsprechung ein "Indiz für eine von Anfang an bestehende Bestimmtheit" der Norm.
[24] Vgl. BVerfGE 126, 170, Rn. 105 = HRRS 2010 Nr. 656.
[25] BVerfGE 126, 170, Rn. 81 = HRRS 2010 Nr. 656.
[26] BVerfGE 126, 170, Rn. 80 ff., 110 ff. = HRRS 2010 Nr. 656.
[27] Schulz, in: Festschrift für Roxin (2011), S. 305, 311, hält es für "pikant", dass das Gericht dem Umstand einer gefestigten Rechtsprechung methodologischen Charakter zuspreche, zumal die Festigkeit ihrerseits definitionsbedürftig sei.
[28] BGHZ 18, 81, 83; scharfe Ablehnung bei Neumann ZStW 1991, 331, 335 m.w.N.: "Mit anerkannten Prinzipien der Rechtsquellenlehre unvereinbar"; zu Rechtswirkungen geänderter Rechtsprechung in Zivilsachen vgl. Olzen JZ 1985, 155 ff.
[29] So verpflichtet etwa die sog. stare decisis-doctrine die Gerichte, ihre Entscheidungen auf die bisherige Rechtsprechungstradition aufzubauen und sich mit dieser argumentativ auseinander zu setzen; vgl. Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien (1986), S. 71; Coing JuS 1975, 279 ff.
[30] BVerfGE 153, 310, Rn. 97 = HRRS 2020 Nr. 549.
[31] EuGH C-5/11, Urteil v. 21. Juni 2012 = HRRS 2012 Nr. 1087.
[32] Vgl. BGHSt 58, 15, Rn. 74, zum Verbotsirrtum vgl. Rn. 63 ff. = HRRS 2012 Nr. 1046.
[33] Vgl. Herz NZWiSt 2020, 253, 255 m.w.N.
[34] Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 17. Aufl. (2022), Art. 100, Rn. 3.
[35] Vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, 8. Aufl. (2019), § 80, Rn. 31; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. (2020), Rn. 856.
[36] BVerfGE 153, 310, Rn. 54 = HRRS 2020 Nr. 549.
[37] Mit Beschluss v. 19. Juli 2017 – 2 BvL 4/17 = HRRS 2017 Nr. 988, hat das BVerfG eine Vorlage des AG Potsdam und mit Beschluss v. 5. Dezember 2017 – 2 BvL 12/17 = HRRS 2018 Nr. 1, eine Vorlage des KG als nicht hinreichend begründet und daher unzulässig verworfen.
[38] Vgl. etwa ThürOLG, Beschluss v. 27. Juli 2004 – 1 Ws 234-236/04, StV 2005, 90, 91 ff.; BVerfG 2 BvR 1822/04, Beschluss v. 7. Juni 2005 = HRRS 2005 Nr. 590, Rn. 39 f.; 2 BvR 1136/03, Beschluss v. 14. Juni 2004 = HRRS 2004 Nr. 546 Rn. 44 ff.
[39] Vgl. RegE, BT-Drucks. 18/9525, S. 49.
[40] Vgl. RegE, BT-Drucks. 18/9525, S. 75.
[41] Vgl. RegE, BT-Drucks. 18/9525, S. 75.
[42] Übersicht etwa bei Schilling StraFo 2011, 128, 130 ff.
[43] Grundl. BVerfGE 110, 1, Rn. 57 ff.; jüngst etwa BVerfGE 156, 354, Rn. 106 ff. = HRRS 2021 Nr. 280.
[44] RegE, BT-Drucks. 18/9525, S. 76.
[45] RegE, BT-Drucks. 18/9525, S. 49.