HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2022
23. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

671. BGH 1 ARs 13/21 – Beschluss vom 4. Mai 2022

Anfrageverfahren zur Einziehung des durch eine verjährte Straftat erlangten Wertes des Tatertrages im subjektiven Verfahren (selbständige Einziehung; objektives Verfahren; Antrag der Staatsanwaltschaft).

§ 76a StGB; § 435 StPO; § 132 Abs. 3 GVG

Auf den Anfragebeschluss des 3. Strafsenats vom 10. August 2021 – 3 StR 474/19 – erklärt der Senat, dass er an seiner Rechtsprechung festhält, wonach die selbstständige Einziehung von Taterträgen – auch beim Übergang vom subjektiven in das objektive Verfahren – einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Einziehung im selbstständigen Verfahren erfordert.


Entscheidung

709. BGH 5 StR 74/22 – Beschluss vom 10. Mai 2022 (LG Kiel)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (feststehende Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit; Darstellung in den Urteilsgründen; Beruhen der Tatbegehung; Anschluss an sachverständigen; Gefährlichkeitsprognose).

§ 63 StGB

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat schuldunfähig oder erheblich vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Dabei muss es sich um einen länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekt handeln, der zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

2. Schließt sich das Gericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.

3. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass von dem Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt.


Entscheidung

696. BGH 3 StR 238/21 – Beschluss vom 8. März 2022 (LG Wuppertal)

Einziehung (erweiterte Einziehung; Surrogat; Wertersatz; selbständige Einziehung; Subsidiarität).

§ 73 StGB; § 73a StGB; § 73c StGB; § 76a Abs. 4 StGB

1. Die Anwendung des § 73a Abs. 1 StGB in Verbindung mit § 73c Satz 1 StGB setzt voraus, dass der Gegenstand oder sein Surrogat bei Begehung der Anknüpfungstat noch im Vermögen des betroffenen Täters oder Teilnehmers vorhanden war. Abgeschöpft werden kann im Wege der erweiterten Einziehung von Wertersatz nur dasjenige illegal Erlangte, das der Angeklagte zur Tatzeit der abgeurteilten Delikte in seiner Verfügungsgewalt hatte. Das zuvor Verbrauchte oder erst später Erworbene unterfällt den §§ 73a, 73c StGB nicht.

2. Die erweiterte selbständige Einziehung nach § 76a Abs. 4 StGB hat Auffangfunktion und ist gegenüber den §§ 73 ff. StGB subsidiär. Gibt es eine Anklage wegen einer Katalogtat, geht grundsätzlich die erweiterte Einziehung nach § 73a StGB vor.

3. Für die Einziehung nach § 76a Abs. 4 StGB muss der sichergestellte Gegenstand aus (irgend-)einer Straftat herrühren, die sich nicht konkretisieren lässt. Hier gilt insoweit nichts anderes als bei der ebenfalls subsidiären erweiterten Einziehung nach § 73a Abs. 1 StGB.


Entscheidung

733. BGH 2 StR 64/22 – Beschluss vom 11. April 2022 (LG Aachen)

Einziehung des Wertes von Taterträgen (Berechnung: Umrechnungskurs, Zuflusszeitpunkt); erweiterte Einziehung von Taterträgen (Voraussetzungen: Überzeugung von der deliktischen Herkunft der erlangten Gegenstände; zur Zurechnung außerstande Sehen).

§ 73 StGB; § 73a StGB; § 73c StGB

Die erweiterte Einziehung ist nur möglich ist, wenn es sich nach Ausschöpfung sämtlicher prozessual zulässiger Mittel von der deliktischen Herkunft der erlangten Gegenstände überzeugt hat, sich aber zugleich außerstande sieht, diese Gegenstände eindeutig den abgeurteilten oder anderen rechtswidrigen Taten zuzurechnen.


Entscheidung

706. BGH 3 StR 412/21 – Urteil vom 5. Mai 2022 (LG Koblenz)

Eingeschränkte revisionsgerichtliche Überprüfung bei Strafzumessung und Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung; keine zwingende Unwirksamkeit der Revisionsbeschränkung bei fehlerhaftem Schuldspruch; Hang zum übermäßigen Konsum von Rauschmitteln.

§ 46 StGB; § 56 StGB; § 64 StGB; § 318 StPO

1. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Angeklagten gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind oder von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des eingeräumten Spielraums liegt. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen.

2. Das Gewicht der Strafzumessungstatsachen bestimmt in erster Linie das Tatgericht, dem hierbei von Rechts wegen ein weiter Entscheidungs- und Wertungsspielraum eröffnet ist. In Zweifelsfällen muss das Revisionsgericht die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen. Dabei ist dieses lediglich verpflichtet, die für die Strafzumessung bestimmenden Umstände darzulegen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); eine erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen ist weder vorgeschrieben noch möglich. Die Begründung des Urteils muss erkennen lassen, dass die wesentlichen Gesichtspunkte gesehen und in ihrer Bedeutung sowie ihrem Zusammenwirken vertretbar gewürdigt wurden; nur in diesem Rahmen kann das Gesetz verletzt sein. Entsprechendes gilt, soweit die tatrichterliche Annahme oder Verneinung eines minder schweren Falles oder das Absehen von der Regelwirkung bei besonders schweren Fällen zur revisionsgerichtlichen Prüfung steht.

3. Die Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 StGB ist ebenso wie die Strafzumessung Aufgabe des Tatgerichts. Diesem kommt auch insoweit ein weiter Beurteilungsspielraum zu, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat. Hat das Tatgericht die für und gegen die Aussetzung sprechenden Umstände gesehen und gewürdigt, ist dessen Entscheidung auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Bewertung denkbar gewesen wäre.

4. Das Revisionsgericht hat im Fall eines auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsmittels die revisionsrechtliche Prüfung der Rechtsfolgenentscheidung auf der Basis des Schuldspruchs des angefochtenen Urteils vorzunehmen, auch wenn dieser auf einer rechtsfehlerhaften Subsumtion und damit unzutreffenden rechtlichen Einordnung des Tatgeschehens beruht. Dies gilt unabhängig davon, ob sich eine fehlerhafte rechtliche Einordnung einer festgestellten Tat zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten auswirkt. Lediglich dann, wenn auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen zu dem nicht angefochtenen Schuldspruch überhaupt keine Strafe hätte verhängt werden dürfen, führt der dann fehlerhafte Schuldspruch zur Unwirksamkeit einer Revisionsbeschränkung.

5. Ein übermäßiger Konsum (vgl. § 64 StGB) setzt weder ein Abhängigkeitssyndrom noch eine erhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit voraus. Vielmehr hat eine solche Beeinträchtigung lediglich indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs; ihr Fehlen steht diesem nicht notwendig entgegen. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist vielmehr bereits dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint; soziale Gefährlichkeit liegt typischerweise im Falle von Beschaffungskriminalität vor.


Entscheidung

687. BGH 6 StR 191/22 – Beschluss vom 1. Juni 2022 (LG Saarbrücken)

Grundsätze der Strafzumessung (bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt: erheblicher Zeitablauf bis zum Urteil).

§ 46 StGB

Berücksichtigt das Tatgericht den erheblichen Zeitablauf von der Tat bis zum Urteil nicht, stellt dies einen Erörterungsmangel dar, weil es sich insoweit um einen bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkt handelt. Dies gilt vor allem dann, wenn der Angeklagte seither nicht mehr straffällig geworden ist.


Entscheidung

749. BGH 2 StR 541/21 – Beschluss vom 2. März 2022 (LG Köln)

Strafzumessung (Strafmilderungsgründe: zeitlicher Abstand zwischen Tat und Aburteilung, lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten, Darstellung in den Urteilsgründen); Verfahrensverzögerung (Art und Ausmaß der Verzögerung; Ursache; Ausführungen in den Urteilsgründen; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Kompensationsentscheidung).

§ 46 Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Der große zeitliche Abstand zwischen Tat und Aburteilung sowie eine lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten stellen regelmäßig gewichtige Strafmilderungsgründe nach § 46 Abs. 2 StGB bei der Zumessung der Einzelstrafen dar, die im Urteil nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO anzuführen sind.

2. Der Tatrichter ist verpflichtet, Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Das Revisionsgericht muss anhand der Ausführungen in den Urteilsgründen jedenfalls im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen können, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen, und ob sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eröffneten Bewertungsspielraums hält.


Entscheidung

722. BGH 2 StR 21/22 – Beschluss vom 11. April 2022 (LG Frankfurt am Main)

Strafzumessung (minder schwerer Fall des Totschlags: Prüfungsreihenfolge, strafschärfende Berücksichtigung von Tatmodalitäten, Vorwerfbarkeit, geistigseelische Beeinträchtigung des Täters).

§ 46 StGB

Tatmodalitäten dürfen einem Angeklagten strafschärfend nur zur Last gelegt werden, wenn sie vorwerfbar sind, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer vom Täter nicht zu vertretenden geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt.


Entscheidung

698. BGH 3 StR 71/22 – Beschluss vom 3. Mai 2022 (LG Kleve)

Gesamtstrafenbildung (Vorverurteilung; Zäsurwirkung; Berücksichtigung des Gesamtstrafenübels); Zusammentreffen mehrerer vertypter Milderungsgründe.

§ 49 StGB; § 55 StGB

Nötigt die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Verurteilung zur Bildung mehrerer Gesamtstrafen, muss das Gericht einen sich daraus möglicherweise für den Angeklagten ergebenden Nachteil infolge eines zu hohen Gesamtstrafenübels ausgleichen. Es muss also darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist und erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen gehalten hat.


Entscheidung

740. BGH 2 StR 337/21 – Beschluss vom 24. November 2021 (LG Bonn)

Notwehr (Angriff; Erforderlichkeit); Täter-Opfer-Ausgleich (Wiedergutmachung: Vorliegen, kommunikativer Prozess zwischen Täter und Opfer, umfassender Ausgleich, Leichtmachen des Ausgleiches durch das Opfer).

§ 32 StGB; § 46a StGB

Eine Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, die Tat „ganz oder zum überwiegenden Teil“ wiedergutgemacht oder dieses Ziel jedenfalls ernsthaft erstrebt hat. Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein und das Opfer die Leistung des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptieren muss. Die Wiedergutmachung muss auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen gerichtet sein Einer Wiedergutmachung in diesem Sinne steht es grundsätzlich nicht entgegen, dass ein Opfer dem Täter den Ausgleich in der Weise leichtmacht, dass es an das Maß der Wiedergutmachungsbemühungen keine hohen Anforderungen stellt und schnell zu einer Versöhnung bereit ist.