HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2022
23. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Kafkaeske Realität

Gedanken zu einem transnationalen Fall aus der Perspektive von Verfahrensbeteiligten

Von Prof. Dr. Karsten Fehn/Reg. Dir. a. D. Dr. Dr. Bernd Josef Fehn/Prof. Dr. Otto Lagodny[*]

I. Einleitung

Die Schutzgewährung als eine klassische Funktion von Grundrechten scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten und nicht mehr viel zu gelten. Das ist aus der Sicht der Strafverteidigung keine Besonderheit. Auf dem Rücken der Staatsraison wird der einzelne Grundrechtsträger aber oft zu schnell unter den Teppich des Rechts – oder eigentlich der Politik – gekehrt. Das hat uns der hier zu berichtende transnationale Fall gezeigt.

Der strafrechtlich Verfolgte wurde bei der Rückkehr aus dem Urlaub am 8. 8. 2019 beim Grenzübertritt von Kroatien nach Slowenien festgenommen und 30 Monate (bis zum 4. 2. 2022) in Slowenien inhaftiert. Die USA hatten ihn über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben und Slowenien um seine Auslieferung ersucht. Grundlage war der Auslieferungsvertrag zwischen der EU und den USA, kein Europäischer Haftbefehl. Der Fall betraf weder Mord noch Totschlag. Blut ist nicht geflossen. Es ging aus der Sicht der US-Anklagebehörde vielmehr um den Verdacht von Wirtschaftsstraftaten (Verstöße gegen US-amerikanische Importzölle) mit einem angenommenen "Gewinn" im mittleren zweistelligen Millionenbereich. Es handelte sich also durchaus um einen Strafrechtsfall von besonderer Bedeutung, bei dem de facto mehrfach lebenslange Freiheitsstrafen in den USA im Raum standen. Diese beliefen sich wegen des im US-Strafrecht geltenden Additionsprinzips bei den Konkurrenzen theoretisch auf bis zu absurden 385 Jahren. Das bedeutet nicht nur lebenslanger Strafvollzug in den USA, sondern zugleich auch die endgültige Trennung der Familie.

Wenn man die "Gewichte" der involvierten Interessen der USA und der Familie betrachtet, kann man den Fall emotional durchaus unterschiedlich bewerten. Was uns aber durch diesen Fall tragisch bewusst wurde: Die Interessen der betroffenen Menschen haben nicht viel – genauer gesagt: gar nichts – gezählt. Weil man das Leben nach Kierkegaard zwar vorwärts lebt, aber nur rückwärts versteht, kam uns nämlich erst am Ende des Verfahrens die starke Vermutung, dass es den beteiligten Staaten nur darum gegangen sein konnte, die Höchstfrist von 30 Monaten für die Auslieferungshaft ablaufen zu lassen, damit keine nationale Instanz in der Sache entscheiden und damit allseitige Verantwortung übernehmen muss. Dafür sind 30 Monate eindeutig viel zu viel.

Die Grundlage für eine solche Annahme gibt uns die letzte Argumentation der Bundesregierung im Verfahren nach § 123 VwGO vor dem OVG Berlin-Brandenburg: Das Auswärtige Amt selbst hat dort vorgetragen, es sei völlig unklar, ob die slowenische Regierung auf das mit der Klage und dem Eilantrag begehrte deutsche Ersuchen an Slowenien, den deutschen Verfolgten aus slowenischer Haft freizulassen, auch eingehe. Ein solches Argument kann indes überhaupt nur dann schlüssig sein, wenn die völkerrechtliche Willenserklärung auf etwas völkerrechtlich völlig Unmögliches oder Unzumutbares gerichtet gewesen wäre. Dafür gab es jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr kann man ein solch hypothetisches und absurdes Argument nur als Indiz für einen völlig fehlenden Willen der deutschen Bundesregierung ansehen. So wollen wir es auch hier handhaben und uns jedenfalls das Verfahren aus unserer Sicht als Empfänger solcher Argumente mit Hilfe von Denkfiguren der Kommunikationslehre erklären: Was die Bundesregierung nämlich als "Sender" mit ihrem Prozessverhalten gemeint haben will, können wir nicht (mehr) klären. Wir können uns nur als "Empfänger" fragen: Wie können wir uns das Empfangene erklären?

Wir müssen uns dazu klarmachen, dass es aus unserer Sicht nur ein einziges zentrales Motiv für das Schweigen und Nichtstun der deutschen Bundesregierung gegeben haben kann, eben den organisierten "zufälligen" Zeitablauf. Dann liegt die Annahme nicht fern, dass dieses Schweigen und Nichtstun auf einer bi- oder trinationalen Regierungsabsprache beruht haben muss.

Ob diese kommunikationstheoretisch naheliegende Annahme zutrifft oder nicht, kann jedoch dahinstehen. Fakt ist, dass die deutsche Bundesregierung sich gleichsam mit Händen und Füßen dagegen zu wehren versucht hat, was etwa die isländische Regierung in einem durchaus vergleichbaren Fall gemacht hat, ohne zuvor von irgendeinem

Gericht dazu gezwungen worden zu sein: Die isländische Regierung hat den ebenfalls in Slowenien festgenommen isländischen Staatsangehörigen, der von Slowenien in die USA ausgeliefert werden sollte, von Slowenien schlicht zurückgefordert, ohne in Island ein Strafverfahren gegen diesen eröffnen zu wollen. [1] Dieses Selbstverständnis hätten wir auch von der deutschen Regierung erwartet.

Nach einer kurzen Darstellung der Verfahrensgeschichte (unten I.) gehen wir auf solche Verfahrensspezifika ein, die uns unter diesen Aspekten aufgefallen sind (unten II.). Ob der Fall damit komplett ausgewertet ist, mögen andere beurteilen.

II. Verfahrensverlauf

Das slowenische Bezirksgericht Novo Mesto bat die Staatsanwaltschaft Hamburg am 11.12.2019, den "Standpunkt der Bundesrepublik Deutschland" mitzuteilen. Hintergrund war damals im Jahr 2019 wohl die Auffassung der slowenischen Seite, der Bundesrepublik Deutschland nach der Rechtsprechung des EuGH mitteilen zu müssen, dass slowenische Behörden einen deutschen Staatsangehörigen festgenommen haben, der in einen Nicht-EU-Staat ausgeliefert werden soll. Laut Schreiben des deutschen Bundesamtes für Justiz vom 03.02.2020 hatte "die Staatsanwaltschaft in Hamburg[diese Anfrage]zwischenzeitlich auf dem unmittelbaren Geschäftsweg negativ beantwortet."

In Slowenien wurde die Auslieferung in die USA am 11. 05. 2020 zunächst für zulässig erklärt. Im weiteren Verlauf führte dieses Verfahren dann über mehrere Wege, die hier nicht nachgezeichnet werden, zu einem rechtskräftigen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 29.09.2020 über die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Zu einem solchen Abschluss kam es indes bis zum Erreichen der Höchstdauer der Auslieferungshaft am 04. 02. 2022 nicht mehr, weil u. a. das slowenische Verfassungsgericht über eine Norm des Auslieferungsverfahrens befinden musste.

Unter dem 23.05.2020 wurde beim VG Berlin in der Hauptsache allgemeine Leistungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel der Gewährung diplomatischen Schutzes erhoben. Zugleich wurde ein entsprechender Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestellt. Zu einer Entscheidung in der Hauptsache kam es hier wegen Erreichens der Höchstdauer der slowenischen Auslieferungshaft nicht mehr.

Im Eilverfahren vom 23. 05. 2022 wurde dem Antrag des Betroffenen auf Gewährung diplomatischen Schutzes erst über einen Monat später, nämlich am 02.07.2020 stattgegeben. Hiergegen wandte sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Beschwerde, der das OVG Berlin-Brandenburg durch Beschluss vom 17.09.2020, also weitere anderthalb Monate nach der Erstentscheidung, stattgab. Hiergegen wiederum erhob der Betroffene am 21.10.2020 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Weil zu diesem Zeitpunkt aber der slowenische Rechtsweg noch nicht vollständig erschöpft und deshalb zu befürchten war, dass das Bundesverfassungsgericht den Subsidiaritätsgrundsatz trotz unserer rechtlichen Bedenken auch auf die slowenische Verfahrensordnung ausdehnen könnte, wurde insoweit beantragt, die Verfassungsbeschwerde zunächst nur in das Allgemeine Register einzutragen, die zuständige Kammer des Zweiten Senats hierüber zu informieren, die Verfassungsbeschwerde indes noch nicht zur Beschlussfassung vorzulegen. Zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde kam es wegen des oben bereits geschilderten Zeitablaufs ebenfalls nicht mehr.

Nachdem sodann der EuGH am 12.05.2021 in der Rechtssache WS ./. Bundesrepublik Deutschland [2] eine wegweisende Entscheidung fällte, aus der abzuleiten war, dass der Betroffene von Anfang an, also seit dem 08.08.2019, rechtswidrig in slowenischer Auslieferungshaft saß,[3] waren nach unserer Überzeugung die Voraussetzungen eines Abänderungsantrags gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog gegeben. Diesen wies das VG Berlin am 23.12.2021 jedoch als unbegründet zurück. Zu einer Sachentscheidung des OVG Berlin-Brandenburg über die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen kam es wegen der sodann nach 30 Monaten Freiheitsentzug erfolgten Entlassung aus der Haft nicht mehr.

Über die daneben vom Betroffenen über seine slowenischen Anwälte beim EGMR eingereichte Beschwerde hat dieser bis dato noch nicht entschieden.

III. Besonderheiten des Falles

1. Als Einstieg: "Wer will was von wem?"

Die dem Zivilrecht entstammende Standard-Frage für komplexe Fälle ("Wer will was von wem?") ist gerade auch in transnationalen Fällen oft sehr hilfreich. Im vorliegenden Fall möchte die USA den Verfolgten, der deutscher Staatsangehöriger ist, auf dem Territorium der USA strafrechtlich verfolgen und dort im Falle der Verurteilung auch die Strafe vollstrecken. Dazu bedarf es der Auslieferung aus einem fremden Staat an die USA. Von der Bundesrepublik Deutschland bekommen die USA den Verfolgten nicht, weil das nach Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG verboten ist. Ein "anderer" Staat kann den Verfolgten jedoch ohne dieses Verbot grundsätzlich an die USA ausliefern. Dann stellen sich "nur" noch die übrigen auslieferungsrechtlichen Probleme (z.B. drohende Strafhöhe; Leibesgefahr in bestimmten US-Vollzugsanstalten). Diese Fragen sollen hier aber bewusst ausgeblendet werden.

Im vorliegenden Fall ergab sich freilich das erste zusätzliche Problem, dass der "andere" Staat ein EU-Staat war wie die Bundesrepublik Deutschland, nämlich die Republik Slowenien. Insoweit stellte sich zunächst die Frage, ob das

Regime des Europäischen Haftbefehls "irgendwie" anwendbar war, obwohl es im gesamten Verfahren niemals einen Europäischen Haftbefehl gab.

Das zweite zusätzliche Problem lag darin, dass gegen den Verfolgten bereits in Deutschland ein Strafverfahren wegen derselben Tat geführt worden war. Es wurde wegen Verjährung durch Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO seitens der zuständigen deutschen Staatsanwaltschaft (und nicht durch ein Gericht) abgeschlossen. Die Akten wurden sogar vernichtet. Hier stellte sich die Frage, ob Art. 54 SDÜ bzw. Art. 50 EuGRCh einer zweiten (weiteren) Strafverfolgung durch Slowenien entgegenstand. Denn auch ein slowenisches Auslieferungsverfahren mit dem Ziel der Auslieferung an die USA kann ein "Strafverfahren" im Sinne dieser Normen sein.

Das Urteil des EuGH vom 12.05.2021 [4] hat aus unserer Sicht für diese beiden Rechtsprobleme auch in Deutschland Klarheit geschaffen. Jedenfalls bestand mehr als hinreichender Anlass für die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit, sich mit dem EuGH-Urteil auseinanderzusetzen. Das ist aus unserer Sicht jedoch in einer wirklich irritierenden Weise überhaupt nicht geschehen. Das zeigt die ständige Rechtsprechung des BVerfG (zuletzt Beschl. v. 30. 03. 2022 – 2 BvR 2069/21 = HRRS 2022 Nr. 465), wonach in solchen Fällen nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls eine Vorlagepflicht des Instanzgerichts besteht. Das gilt natürlich auch für höhere Instanzgerichte. Stattdessen haben sich das VG Berlin, das OVG Berlin-Brandenburg[5] und die beteiligten Ministerien auch nach dem EuGH-Urteil noch mit wiederholenden Ausführungen zu einem gar nicht möglichen Europäischen Haftbefehl abgemüht, anstatt auf die nur noch zu klärenden Rechtsfragen (nicht Sachverhaltsfragen) von Art. 54 SDÜ/50 EuGRCh einzugehen. Das waren für uns Scheingefechte als Ablenkungsmanöver vor deutschen Gerichten.

Der Gedanke liegt für uns nahe, dass die beteiligten deutschen Stellen möglicherweise auch deshalb eine Sachentscheidung vermeiden wollten, weil eine BVerfG-Entscheidung in der Luft lag. Jedenfalls hat die 1. Kammer des Zweiten Senates des BVerfG einer am 23. 06. 2021 – also kurz nach der zentralen EuGH-Entscheidung vom 12. 05. 2021 – erhobenen Verfassungsbeschwerde stattgegeben (BVerfG, Beschl. v. 19. 05. 2022 – 2 BvR 1110/21). In dem Beschluss hat sich das Gericht sehr ausführlich mit der auch hier einschlägigen EuGH-Rechtsprechung auseinandergesetzt. Das BVerfG hat darin mindestens angedeutet (RN 47- 54), dass es eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft als rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens im Sinne von Art 54 SDÜ/50 EuGRCh ansieht. Eine solche "Vermeidungsleistung" käme freilich schon einer aktiven Rechtsschutzverweigerung nahe. Sie soll deshalb hier ausdrücklich nicht unterstellt, aber als Denkmöglichkeit aus Empfängersicht in den Raum gestellt werden.

Dass das Verfahren vor der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit dann mit einem Erledigungsbeschluss im Abänderungsverfahren von wenigen Zeilen endete, war logische Konsequenz der Lustlosigkeit, sich mit der Entscheidung des EuGH vom 12. 5. 2021 eingehend und zutreffend auseinanderzusetzen.

2. Das Individuum als "Objekt" welchen Verfahrens?

Durch das gesamte Verfahren hindurch ergaben sich folgende Eindrücke:

- Keines der beteiligten deutschen oder slowenischen Ministerien oder eine andere staatliche Stelle erweckte den Eindruck, als ginge es zumindest auch um Individualinteressen.

- Eine Verantwortung für die Eingriffe in Individualrechtspositionen wurde nie übernommen.

- Im Konzert der beteiligten Staaten war unterschwellig immer ein "Bückling" vor der Großmacht der USA zu spüren, anders als etwa bei Island in dem bereits erwähnten EuGH-Fall. [6]

3. Strafverfahren vs. Verwaltungsverfahren? Rechtspflege vs. Rechtshilfe?

Der Fall zeigt in geradezu erschreckender Weise: Die deutsche Strafjustiz hat mit dem Fall eigentlich nichts mehr zu tun. Allein die Exekutive und die Verwaltungsgerichtsbarkeit sind zur Lösung berufen. Dort gelten aber Prämissen, die im vorliegenden Fall entweder "störten" (wie die Grundrechte) oder die nicht zu einer rechtsschutzwahrenden Befriedung taugten (zu langwieriger Eilrechtsschutz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit). Zusätzlich nahm sich die höhere Verwaltungsgerichtsbarkeit in keiner adäquaten Weise der strafprozessualen Grundfragen an. Das Individuum sitzt also zwischen den beiden Stühlen und bekommt keinen effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG.

Der Fall hat vor allem rein gar nichts mehr mit einem eigenen deutschen Strafverfahren zu tun. Dieses war schon längst, nämlich im Jahre 2014, durch Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO (wegen Eintritts der absoluten Verjährung) beendet worden. Zudem waren die zugehörigen Akten sogar vernichtet worden. Der Fall hätte in Deutschland also gar nicht weiterverfolgt werden können. Das Verfahren war damit bildlich gesprochen "mehr als rechtskräftig abgeschlossen", denn es war sogar völlig aus der deutschen Aktenwelt ausgeschieden. Und das will in Deutschland etwas heißen!

Wenn die deutsche Verfahrenseinstellung nichts mehr bedeuten sollte, weil Art. 54 SDÜ/50 EuGrCh gar nicht greifen, dann wäre es ein Fall gewesen, für den allein die Rechtsbeziehungen zwischen den USA und Slowenien eine Rolle spielen. Auf Konsequenzen aus dem gesamten Regelungsregime des Europäischen Haftbefehls, bestehend vor allem aus EU-Regelungen, EuGH-Rechtsprechung bis hin zu nationalen Umsetzungsregelungen, hätte es dann überhaupt nicht ankommen können. Ganz anders

waren jedoch die rechtlichen Erwägungen der deutschen Seite im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Hier wurde nachhaltig darauf bestanden, dass von deutscher Seite kein Europäischer Haftbefehl ausgestellt bzw. ein deutsches Überstellungsverlangen an Slowenien gestellt worden sei. Das war ein ersichtlich sinnloses Argument: Ein Europäischer Haftbefehl von deutscher Seite war nach dem Eintritt der absoluten Verfolgungsverjährung schlichtweg nicht mehr möglich und unzulässig. Mit ihm konnte es nur darum gehen, je nach Sichtweise weitere Zeit zu gewinnen oder zu "schinden".

Diese Vorgehensweise verstärkte bei uns den Eindruck, dass es um eine Art Hinhaltetaktik ging, die eines Rechtsstaates unwürdig war.

4. Verwaltungsverfahrensrechtlicher Eilrechtsschutz in Haftsachen?

Am 23. 05. 2020 wurde beim VG Berlin ein Eilantrag auf Gewährung diplomatischen Schutzes nach § 123 VwGO gestellt. Parallel wurde eine inhaltsgleiche allgemeine Leistungsklage erhoben.

Nachdem die Bundesrepublik Deutschland gegen den dem Eilantrag stattgebenden Beschluss des VG Berlin vom 02.07.2020 [7] erfolgreich Beschwerde zum OVG Berlin-Brandenburg[8] erhoben hatte, hat die Kanzlei aufgrund des zwischenzeitlich am 12.05.2021 ergangenen Urteils des EuGH in der Rechtssache C-505/19 am 28.09.2021 einen Abänderungsantrag im Eilverfahren nach § 123 VwGO eingereicht, den das VG Berlin am 23.12.2021 abschlägig beschied.[9] Über einen Eilantrag hat also das zuständige VG drei Monate – mithin 90 Tage – lang nicht entschieden. Das ist im Lichte der Freiheitsgarantie von Art. 104 GG völlig untragbar.

Über die hiergegen vom Betroffenen erhobene Beschwerde zum OVG Berlin-Brandenburg[10] war bis zum Zeitpunkt seiner Entlassung am 04.02.2022 noch nicht entschieden worden. Das sind weitere sechs Wochen. Ebenso stand zu diesem Zeitpunkt die erstinstanzliche Hauptsacheentscheidung des VG Berlin aus.

Vom 23. 05. 2021 bis 04. 02. 2022, also über acht Monate keine rechtskräftige Entscheidung? So lange über einen Eilantrag nicht zu entscheiden, obwohl sich der Antragsteller in Haft befindet, ist aus strafprozessualer Sicht völlig inakzeptabel. Deutlicher kann man Grundrechte nicht ignorieren – und das in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der die Grundrechte als herausragender Teil des öffentlichen Rechtes besonders vertraut sein müssten. Zudem spitzte sich das Verfahren in Slowenien immer mehr zu. Aus unserer Sicht war die Verfahrens- und Rechtslage in Slowenien mangels Rechts- und Sprachkenntnissen überhaupt nicht einschätzbar. Von einer ähnlichen "Gemächlichkeit" wie im Eilverfahren vor den deutschen Verwaltungsgerichten konnten und durften wir nicht ausgehen. Schon die zeitliche Verzögerung allein ist ein Grund, von einer grundrechtswidrigen Handhabung des Regelungsregimes im Verwaltungsprozessrecht in derartigen Fallkonstellationen auszugehen. Zwar handelt es sich beim vorliegenden Fall um einen wirklichen Sonderfall. Daraus schließen zu wollen, dass man eben im Verwaltungsprozess keine Veranlassung hätte, diesem Sonderfall Rechnung zu tragen und für ein effektiv beschleunigtes Verfahren zu sorgen, entbehrt jeglicher verfassungsrechtlichen Basis.

5.  Diplomatischer Schutz statt Regelungsregime des EU-Haftbefehls

Durch das Urteil des EuGH von 12. 5. 2021 wurde für uns – wie bereits angedeutet – völlig klar: In diesem Verfahren ging es überhaupt nicht um Rechtsfragen des Europäischen Haftbefehls und auch nicht um die hierzu ergangene EuGH-Rechtsprechung, sondern allein um einen Fall des Art. 54 SDÜ/50 EUGrCh und deshalb um einen "Standard"-Fall diplomatischen Schutzes für einen aus deutscher Sicht im Ausland unschuldig Inhaftierten. Damit stellten sich alle Ausführungen der Bundesregierung, dass z.B. immer noch ein deutscher EU-Haftbefehl fehle, für uns erst recht als völlig sinnentleert dar.

6. Grundrechte als übergreifende Klammer

Was uns schließlich völlig irritiert hat: Deutsche Grundrechte des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG, Art 14 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 GG) haben in diesem Verfahren keinerlei Rolle gespielt, ebenso wenig wie das europäische Grundrecht des Art. 50 EUGrCh. Dabei sind Grundrechte in jedem Fall diplomatischen Schutzes von zentraler Bedeutung und stellen regelmäßig einen "Rettungsanker" dar.

Aber hierauf sind weder das OVG Berlin-Brandenburg noch die Bundesregierung eingegangen. Selbst das Wort des "diplomatischen Schutzes" wurde verbal nur mit "sterilen Einmalhandschuhen" angefasst. Deutlicher kann man rechtliches Desinteresse nicht zum Ausdruck bringen.

Wäre der vorliegende Fall in abgeschwächter Form zum Gegenstand einer Klausur in einer Juristischen Staatsprüfung gemacht worden, so wäre eine Lösung ohne Berücksichtigung der Grundrechte in ihrer inzwischen ganz üblichen Schutzfunktion wohl kaum noch als "genügend" anzusehen gewesen.

7. Fachbereichsübergreifendes Denken in Justiz und Rechtswissenschaft erforderlich

Der Fall zeigt letztlich, wie wichtig es ist, gerichtsübergreifend und damit zugleich auch fachübergreifend zu denken. Dazu genügt die Vorstellung, 30 Monate inhaftiert zu sein, nur damit die Zeit abläuft. Das trägt schon kafkaeske Züge in der Realität. Der Fiktion eines Romans bedarf es dazu nicht. Ob man dabei an Nietzsche und sein

Wort vom Staat als das "kälteste aller kalten Ungeheuer"[11] oder gleich an Macchiavelli denkt, ist unerheblich.

Politisches Handeln geschieht hiernach nicht aus moralischer Überzeugung oder nach moralischen Grundsätzen, sondern ist sinnvoll, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel zweckmäßig gebraucht werden. Die Zweckmäßigkeit unterliegt dergestalt einem Primat der Politik. Selbstverständlich verfügen Regierung und Verwaltung außerhalb gebundener Entscheidungen über einen – zumeist weiten – Gestaltungs- bzw. Ermessensspielraum. Schon in der Vertiefungsübung zum öffentlichen Recht lernen Studierende jedoch, dass ein solcher Spielraum durch Grundrechte eingeengt und auf null reduziert werden kann. In der deutschen Außenpolitik und in der Berlin-Brandenburger Verwaltungsgerichtsbarkeit scheint diese Erkenntnis indes nicht angekommen zu sein. Nach unserer festen Überzeugung stand hier jedenfalls die Außenpolitik über dem (Europa- und Verfassungs-) Recht. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig. Sich stattdessen auf die – vorliegend völlig irrelevante – Argumentationsebene eines Europäischen Haftbefehls herab zu begeben, der zu keinem Zeitpunkt von deutscher Seite hätte beantragt werden können, weil das Verfahren gegen den deutschen Staatsbürger wegen absoluter Verfolgungsverjährung endgültig eingestellt war und die Akten gemäß den Aufbewahrungsvorschriften vernichtet waren, ist für eine Referatsleitung im Auswärtigen Amt ebenso beschämend wie für eine Kammer und einen Senat der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Folge war, dass ein in Deutschland und Europa unbescholtener deutscher Staatsbürger rechtswidrig 30 Monate lang in Auslieferungshaft saß.

Man fühlt sich ständig an Kafkas "Prozess" erinnert.


[*] Die Verfasser Prof. Dr. Karsten Fehn und Dr. Dr. Bernd Josef Fehn waren Prozessbevollmächtigte im deutschen Verwaltungsrechtsstreit, der Verfasser Prof. Dr. Otto. Lagodny ist Universitätsprofessor an der Paris Lodron Universität Salzburg und war als wissenschaftlicher Berater für die beiden anderen Autoren tätig.

[1] EuGH, Urteil vom 02.04.2020, Rechtssache C-897/19PPU (Strafverfahren gegen I.N.) – RN 20.

[2] Rechtssache C-505/19 (ECLI:EU:C:2021:376).

[3] Siehe Lagodny, HRRS 2021, 252 – 254 und Lagodny, Rechtsschutz im deutschen Auslieferungsverfahren: mahnende Nachhilfe durch den EuGH, in: Claudia Seitz/Ralf Straub/Robert Weyeneth (Hrsg.), Rechtsschutz in Theorie und Praxis, Festschrift für Stephan Breitenmoser, Basel 2022.

[4] S. o Fn. 2.

[5] Beschluss vom 17. 9. 2020. Az. OVG 10 S 48/20 (juris).

[6] S. o. Fn 2.

[7] Az.: VG 34 L 197/20.

[8] Az.: OVG 10 S 48/20.

[9] Az.: VG 34 L 351/21.

[10] Az.: OVG 9 S 69/21 .

[11] Friedrich Nietzsche , Also sprach Zarathustra, Bd. 1, Chemnitz 1883.