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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 698

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 71/22, Beschluss v. 03.05.2022, HRRS 2022 Nr. 698


BGH 3 StR 71/22 - Beschluss vom 3. Mai 2022 (LG Kleve)

Gesamtstrafenbildung (Vorverurteilung; Zäsurwirkung; Berücksichtigung des Gesamtstrafenübels); Zusammentreffen mehrerer vertypter Milderungsgründe.

§ 49 StGB; § 55 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nötigt die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Verurteilung zur Bildung mehrerer Gesamtstrafen, muss das Gericht einen sich daraus möglicherweise für den Angeklagten ergebenden Nachteil infolge eines zu hohen Gesamtstrafenübels ausgleichen. Es muss also darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist und erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen gehalten hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kleve vom 25. November 2021

aufgehoben

in den Aussprüchen über die Einzelfreiheitsstrafe für die Tat zu Ziffer II. 5. der Urteilsgründe und die Gesamtfreiheitsstrafe sowie insoweit, als eine Entscheidung über die Bildung einer Gesamtstrafe aus den Einzelstrafen für die unter Ziffern II. 4. und 5. der Urteilsgründe aufgeführten Taten unterblieben ist; jedoch bleiben die jeweils zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten; soweit die im Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 angeordnete Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis aufrechterhalten wurde; diese entfällt.

dahin geändert, dass die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.570 € angeordnet wird und der Ausspruch über die Aufrechterhaltung der durch Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 angeordneten Einziehung von 2.570 € entfällt. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 17. Oktober 2019 und Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 verhängten Strafen und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung (Ziffer II. 4. der Urteilsgründe) zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten sowie wegen versuchter schwerer Brandstiftung (Ziffer II. 5. der Urteilsgründe) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Zudem hat es den Wert von Taterträgen in Höhe von 1.000 € eingezogen und Anordnungen aus dem Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 betreffend die Bestimmung einer Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis und die Einziehung eines Betrages von 2.570 € aufrechterhalten. Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf die ausgeführte Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen das Urteil. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Während die Überprüfung des Urteils hinsichtlich des Schuldspruchs und der Anordnung der Wertersatzeinziehung von Taterträgen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt hat, halten der Strafausspruch und die Aussprüche über die Aufrechterhaltung der Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis sowie der Einziehungsentscheidung aus der Vorverurteilung sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht in vollem Umfang stand.

Insoweit hat der Generalbundesanwalt das Folgende ausgeführt:

Der „Einzelstrafausspruch hinsichtlich der unter Ziff. 5 aufgeführten Tat (UA Bl. 14 ff.), der versuchten schweren Brandstiftung gemäß §§ 306a Abs. 1 Nr. 1 Var. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB, (begegnet) durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht jedenfalls nicht hinreichend deutlich den vertypten Milderungsgrund des Versuchs berücksichtigt hat (vgl. Senat, NStZ-RR 2014, 136). So ist … (es) zwar unter näherer Darlegung vom Vorliegen eines minder schweren Falles gemäß § 306a Abs. 3 StGB ausgegangen und hat hierbei unter anderem auch berücksichtigt, dass 'die Gefahr eines tatsächlichen Übergreifens des Brandes auf die Wohnung' lediglich gering bzw. 'theoretisch' gewesen sei (UA Bl. 35 f.). Selbst wenn darin jedoch eine Berücksichtigung des vertypten Strafmilderungsgrundes erkannt werden könnte, hat die Strafkammer die Prüfungsreihenfolge beim Zusammenfall eines minder schweren Falls mit einem vertypten Milderungsgrund nicht erkennbar eingehalten, weshalb unerörtert blieb, ob schon allein aufgrund der unbenannten Milderungsgründe ein minder schwerer Fall hätte angenommen werden können, so dass aufgrund des vertypten Milderungsgrundes des § 23 Abs. 2 StGB eine nochmalige Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 2 StGB in Betracht gekommen wäre. Obschon die Wahl des Strafrahmens revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist, muss das Tatgericht im Urteil offenbaren, dass es die unterschiedlichen Möglichkeiten gesehen und aufgrund einer Gesamtschau seine Wahl getroffen hat (Schäfer/Sander/Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. 2017, Rn. 928 und 1031 mwN). Das ist vorliegend nicht der Fall. Weil die verhängte Einzelstrafe von zwei Jahren (UA Bl. 3) nicht am unteren Strafrahmenrand liegt, kann auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass der erstmals wegen eines Brandstiftungsdelikts verurteilte (UA Bl. 5 ff.) Angeklagte hierdurch beschwert ist.

Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet zudem, dass es die Strafkammer unter Annahme einer Zäsurwirkung der zweiten Vorverurteilung durch das Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 (UA Bl. 8 ff.) unterlassen hat, aus den für die Tat Ziff. 4 (UA Bl. 13 f.) vom 29. Oktober 2019 (Widerstandshandlung) und für die Tat Ziff. 5 (UA Bl. 14 ff.) vom 14. Mai 2020 (versuchte schwere Brandstiftung) verhängten Einzelstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden (UA Bl. 36). Denn da die Taten, die Gegenstand der zweiten Vorverurteilung waren, allesamt vor der früheren ersten Vorverurteilung durch das Amtsgericht Mühlheim an der Ruhr vom 17. Oktober 2019 (UA Bl. 6 ff.) begangen wurden und somit in diese einzubeziehen sind, kann die zweite Vorverurteilung keine Zäsurwirkung mehr entfalten (vgl. Senat, Urteil vom 12. August 1998 - 3 StR 537/97 = NJW 1998, 3725, BGH, Beschluss vom 22. Juli 1997 - 1 StR 340/97; Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 55 Rn. 12c). Die zweite Vorverurteilung ist vielmehr 'gesamtstrafenrechtlich verbraucht', weil aus den drei ihr zugrundeliegenden Taten (UA Bl. 8 ff.) und den Einzelstrafen aus der ersten Vorverurteilung durch das Amtsgericht Mühlheim an der Ruhr vom 17. Oktober 2019 zu Recht gemäß § 55 StGB eine nachträgliche Gesamtstrafe (UA Bl. 33 f.) gebildet worden war (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2007 - 4 StR 431/07).

Schließlich hat die Strafkammer das Gesamtstrafübel nicht erkennbar berücksichtigt (vgl. RB S. 15 f.). Nötigt die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Verurteilung zur Bildung mehrerer Gesamtstrafen, muss das Gericht einen sich daraus möglicherweise für den Angeklagten ergebenden Nachteil infolge eines zu hohen Gesamtstrafenübels ausgleichen. Es muss also darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist und erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen gehalten hat (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 16. Februar 2021 - 2 StR 233/20 und vom 17. April 2008 - 4 StR 118/08). Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht, weil die Strafkammer die Gesamthöhe des ausgesprochenen Freiheitsentzugs von immerhin vier Jahren und sechs Monaten nicht erkennbar auf ihre Schuldangemessenheit überprüft hat. Einer entsprechenden Erörterung hätte es hier aber bedurft, weil sich die Schuldangemessenheit des Gesamtstrafübels, welches mehr als das Doppelte der höchsten verhängten Einzelstrafe (zwei Jahre) beträgt, auch unter Berücksichtigung der Einzelstrafen jedenfalls nicht von selbst versteht. Da über das Gesamtstrafübel nach rechtsfehlerfreier Bildung einer Einzelstrafe für die Tat Ziff. 5 (s.o. unter 3.a)) und sodann einer (zweiten) Gesamtstrafe mit der Tat Ziff. 4 (s.o. unter 3.b)) insgesamt erneut verhandelt und entschieden werden muss, ist auch der Ausspruch über die (erste) Gesamtfreiheitsstrafe i.H.v. einem Jahr und neun Monaten aufzuheben.

Im Übrigen (Einzelstrafaussprüche hinsichtlich der Taten Ziff. 1 bis Ziff. 4) begegnet die Strafzumessung keinen rechtlichen Bedenken.

Die beantragte Aufhebung hinsichtlich der Strafaussprüche zieht die Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs auch insoweit nach sich, als das Landgericht dem Angeklagten jeweils die Aussetzung der verhängten (Gesamt-)Freiheitsstrafen zur Bewährung versagt hat (UA Bl. 34 ff.; RB S. 16 f.). Denn über die Bewährungsfrage kann nur befunden werden, wenn die verhängten (Gesamt-)Freiheitsstrafen feststehen, über deren Vollstreckung oder Vollstreckungsaussetzung zu entscheiden ist (vgl. BeckOK StPO/Wiedner, 42. Ed. 1.10.2021, § 353 Rn. 25).

Der Ausspruch, die Anweisung an die Verwaltungsbehörde aus dem Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020, dem Angeklagten vor Ablauf von 16 Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen (UA Bl. 8), aufrechtzuerhalten, hat zu entfallen, weil eine frühere (isolierte) Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB nur dann aufrecht zu erhalten ist, wenn sie noch nicht durch Zeitablauf erledigt ist (BGH, Beschlüsse vom 14. Februar 2008 - 1 StR 542/07, 19. Februar 2002 - 1 StR 5/02, vom 15. Mai 1996 - 1 StR 197/96; Fischer, 69. Aufl. 2022, § 69a Rn. 26). Das Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 ist seit dem 22. Juni 2020 rechtskräftig (UA Bl. 8). Mithin waren die 16 Monate im Zeitpunkt der Urteilsfindung bereits abgelaufen, wie auch das Landgericht erkannt hat (UA Bl. 37), ohne allerdings darzulegen, weshalb es die durch Zeitablauf erledigte Maßregel gleichwohl aufrechterhalten hat.

Die Einziehungsentscheidung ist dahin zu ändern, dass ein einheitlicher Betrag i.H.v. 3.570 € festzusetzen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 - 3 StR 203/21, Rn. 6). Dem Zusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, dass die durch die Tat vom 17. Juli 2019 erlangten 2.570 € durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 als Wert von Taterträgen gemäß § 73c StGB eingezogen wurden (UA Bl. 8 f., 37). Dieser Betrag ist mit der Summe der erlangten Beträge aus den drei Diebstahlstaten (Ziff. 1 bis Ziff. 3 der Urteilsgründe [UA Bl. 12 f.]), also insgesamt 1.000 €, bezüglich derer das Landgericht die Einziehung des Wertes von Taterträgen gemäß § 73c StGB angeordnet hat (UA Bl. 3, 36), zusammenzuzählen, wie das Landgericht zwar zutreffend ausgeführt hat, ohne dem allerdings nachzukommen (UA Bl. 36 f.). Damit wird die Einziehungsentscheidung aus dem Urteil des Amtsgerichts Moers vom 14. Januar 2020 gegenstandslos im Sinne des § 55 Abs. 2 StGB und bedarf daher keiner Aufrechterhaltung.“

Dem schließt sich der Senat an.

Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, weil diese von den Gesetzesverletzungen nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Neue, den bisherigen nicht widersprechende Feststellungen sind möglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 698

Bearbeiter: Christian Becker