HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2020
21. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

1134. BGH 1 StR 248/20 – Beschluss vom 19. August 2020 (LG Stuttgart)

Notwehr (Einschränkung des Notwehrrechts bei vorangegangener Provokation durch den Täter).

§ 32 Abs. 1 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalls den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen versuchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind

2. Darüber hinaus vermag ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht nur einzuschränken, wenn zwischen diesem und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren. Allerdings ist das Notwehrrecht auch in diesen Fällen nur eingeschränkt; ein vollständiger Ausschluss oder eine zeitlich unbegrenzte Ausdehnung der Beschränkung des Notwehrrechts ist damit nicht verbunden.


Entscheidung

1070. BGH 4 StR 419/19 – Urteil vom 30. Juli 2020 (LG Bochum)

Vorsatz (Abgrenzung und Feststellung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit); Anrechnung erlittener Untersuchungshaft (nur ausnahmsweise Berücksichtigung bei der Strafzumessung); Recht auf ein faires Verfahren (Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung: Anforderungen an die Feststellungen); Unerlaubter Umgang mit Abfällen (Nebenprodukte im Sinne des Kreislaufwirtschaftsgesetzes: keine Aussagekraft über die strafrechtliche Umweltgefährlichkeit des Stoffes oder Gegenstands).

Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 15 StGB; § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB; 326 Abs. 1 Nr. 4a StGB; § 4 KrWG; § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 KrWG

1. Bedingter Vorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn sich der Täter entweder des Risikos eines Erfolgseintritts nicht bewusst ist oder er mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.

2. Beide Elemente des bedingten Vorsatzes müssen in jedem Einzelfall umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung setzt eine Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls voraus, bei welcher die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Gegebenheiten zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung einen wesentlichen

Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement darstellt.

3. Die Einordnung als Nebenprodukt nach § 4 KrWG hat zur Folge, dass ein Stoff oder Gegenstand, so lange die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 KrWG, insbesondere eine weitere rechtmäßige Verwendung, vorliegen, nicht den abfallrechtlichen Regelungen unterliegt. Über die Umweltgefährlichkeit des Stoffes oder Gegenstands besagt die Einordnung nichts.


Entscheidung

1039. BGH 2 StR 64/20 – Beschluss vom 28. Juli 2020 (LG Aachen)

Beihilfe (Hilfeleisten: Begriffsbestimmung; psychische Beihilfe; Handeltreiben mit Betäubungsmitteln).

§ 27 Abs. 1 StGB; § 29 BtMG

1. Gemäß § 27 Abs. 1 StGB wird wegen Beihilfe bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe leistet. Als Hilfeleistung ist dabei grundsätzlich jede Handlung anzusehen, welche die Herbeiführung des Taterfolgs des Haupttäters objektiv fördert oder erleichtert, ohne dass diese für den Erfolg selbst ursächlich sein muss. Sie kann auch schon im Vorbereitungsstadium der Tat geleistet werden. Dabei setzt die Beihilfe durch positives Tun einen durch eine bestimmte Handlung erbrachten Tatbeitrag des Gehilfen voraus.

2. Allein das Wissen um die Begehung der Haupttat genügt den Anforderungen an die Beihilfe durch aktives Tun daher nicht. Ein „Dabeisein“ kann die Tatbegehung im Sinne eines aktiven Tuns jedoch fördern oder erleichtern, wenn die „Billigung der Tat“ gegenüber dem Täter zum Ausdruck gebracht wird, dieser dadurch in seinem Tatentschluss bestärkt wird und der Gehilfe sich dessen bewusst ist. Zum Beleg einer solchen psychischen Beihilfe bedarf es jedoch stets genauer Feststellungen, insbesondere zur objektiv fördernden Funktion der Handlung sowie zur entsprechenden Willensrichtung des Gehilfen.


Entscheidung

1056. BGH 2 StR 594/19 – Beschluss vom 28. Juli 2020 (LG Darmstadt)

Beihilfe (Konkurrenzen: Förderung mehrerer rechtlich selbständiger Taten des Haupttäters); schwere Brandstiftung (Dienen zur Wohnung: Entwidmung durch den besitzberechtigten Fremdbesitzer).

§ 27 StGB; § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB

1. Fördert der Gehilfe durch seine Tatbeiträge im Vorfeld gleichzeitig mehrere rechtlich selbständige Taten des Haupttäters, so liegt für ihn nur eine Tat vor.

2. Das Gesetz stellt in § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB auf die tatsächliche Nutzung des Gebäudes als Wohnung ab. Da die Zweckbestimmung „Dienen zur Wohnung“ nur ein tatsächliches Verhältnis umschreibt, kann sie ebenso tatsächlich wieder aufgehoben werden, wie sie begründet wurde, und zwar auch durch den nur besitzberechtigten Fremdbesitzer. Eine Aufgabe des Dienens zu dem genannten Zweck wird danach in der Regel anzunehmen sein, wenn das Gebäude – wie hier – von seinen alleinigen Bewohnern in Brand gesetzt wird. Denn mit dem Inbrandsetzen wird regelmäßig der Wille kundgetan, das Gebäude nicht mehr als Wohnung zu benutzen.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

1078. BGH 4 StR 678/19 – Beschluss vom 2. Juli 2020 (LG Halle)

BGHSt; sexuelle Nötigung (schutzlose Lage: objektive Bestimmung; Ausnutzen der schutzlosen Lage: Begriffsbestimmung).

§ 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB

1. Der Begriff der schutzlosen Lage ist rein objektiv zu bestimmen; einer subjektiven Zwangswirkung der Schutzlosigkeit auf das Tatopfer bedarf es nicht. (BGHSt)

2. Zum Begriff des „Ausnutzens“ im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB. (BGHSt)

3. Objektiv liegt eine schutzlose Lage in der Regel vor, wenn sich das Opfer dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn nach zusammenfassender Bewertung die Möglichkeiten des Täters, mit Gewalt auf das Opfer einzuwirken, größer sind als die Möglichkeiten des Tatopfers, sich solchen Einwirkungen des Täters mit Erfolg zu entziehen, ihnen erfolgreich körperlichen Widerstand entgegenzusetzen oder die Hilfe Dritter zu erlangen. Eine gänzliche Beseitigung jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten ist nicht vorausgesetzt. Erforderlich ist schließlich auch nicht, dass der Täter die schutzlose Lage des Opfers herbeigeführt hat. (Bearbeiter)

4. Zur Ausfüllung des objektiven Tatbestands kann auf die frühere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zurückgegriffen werden. Es bedarf zur Feststellung einer schutzlosen Lage weiterhin insbesondere einer Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischen äußeren Umstände und persönlichen Voraussetzungen von Täter und Opfer im Einzelfall. Weder einzelne äußere Umstände als solche (wie etwa die Abgeschiedenheit des Tatortes oder die Tatzeit) noch einzelne Gegebenheiten in der Person

des Täters oder des Tatopfers (wie etwa die körperliche Verfassung, Leistungsfähigkeit oder das Alter) erlauben für sich genommen die abschließende Beurteilung, ob die Lage des Opfers sich als schutzlos gegenüber möglichen Gewalteinwirkungen des Täters darstellt. (Bearbeiter)

5. Der Täter nutzt die schutzlose Lage im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB aus, wenn er diese erkennt und sich zur Begehung des sexuellen Übergriffs zunutze macht. Dabei genügt, dass der Täter die schutzlose Lage in dem Sinne zur Bedingung seines Handelns macht, dass er die (objektive) Schutzlosigkeit des Tatopfers in ihrer Bedeutung für sein Vorhaben erkennt, ihm also bewusst ist, dass die schutzlose Lage den sexuellen Übergriff ermöglicht oder jedenfalls erleichtert, und er sich dies bewusst zunutze macht. In subjektiver Hinsicht genügt insoweit bedingter Vorsatz. (Bearbeiter)


Entscheidung

1118. BGH 1 StR 118/20 – Beschluss vom 27. Mai 2020 (LG Heilbronn)

BGHSt; besonders schwere Brandstiftung (tätige Reue bei Beseitigung der konkreten Lebensgefahr für das Opfer; Konkurrenzverhältnis zur gefährlichen Körperverletzung mittels einer lebensgefährlichen Behandlung: Tateinheit zwischen besonders schwerer Brandstiftung und einfacher Körperverletzung)

§ 306 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 306e Abs. 1 StGB; § 223 Abs. 1 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 52 StGB

1. § 306e Abs. 1 StGB ist auf die Qualifikation des § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB analog anzuwenden, wenn der Täter – anstatt den Brand zu löschen – die (konkrete) Lebensgefahr für das Opfer freiwillig durch anderweitige Rettungshandlungen beseitigt. (BGHSt)

2. Im Falle einer konkret lebensgefährlichen Körperverletzung durch eine Brandstiftung wird die der Qualifikation des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu Grunde liegende abstrakte Lebensgefährdung durch die Qualifikation der vorsätzlichen konkreten Lebensgefährdung in § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB verdrängt. Dies gilt allerdings nicht für den Grundtatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB, dessen Tatvariante der Gesundheitsbeschädigung weder im Grundtatbestand des § 306a StGB noch in dem Qualifikationsmerkmal einer konkreten Todesgefahr gemäß § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB enthalten ist. Die vorsätzliche Körperverletzung steht in Tateinheit zur besonders schweren Brandstiftung gemäß § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB. (Bearbeiter)


Entscheidung

1079. BGH 3 StR 132/20 – Beschluss vom 4. August 2020 (LG Wuppertal)

BGHR; Zwangsprostitution (Veranlassen zur weiteren Ausübung der Prostitution; qualitativ intensivere oder quantitativ wesentlich umfangreichere Form der Ausübung; List; Irreführung in Bezug auf die Tatsache der Prostitutionsausübung; „Loverboy-Methode“).

§ 232a StGB

1. Der Täter veranlasst eine zur weiteren Ausübung der Prostitution bereite Person im Sinne des § 232a Abs. 1 Nr. 1 StGB zur Fortsetzung derselben, wenn er sie entgegen ihrem Willen zu einer qualitativ intensiveren oder quantitativ wesentlich umfangreicheren Form der Ausübung bewegt oder von einer weniger intensiven bzw. wesentlich weniger umfangreichen Form abhält. (BGHR)

2. List im Sinne des § 232a Abs. 3 StGB verlangt, dass sich die irreführenden Machenschaften auf die Tatsache der Prostitutionsausübung an sich beziehen. Das lediglich arglistige Schaffen eines Anreizes gegenüber einer Person, die sich frei für oder gegen eine Prostitutionsaufnahme oder -fortsetzung entscheiden kann, genügt nicht. Das Hervorrufen eines bloßen Motivirrtums wird deshalb regelmäßig von dem Tatbestandsmerkmal nicht erfasst. (BGHR)

3. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob auch derjenige mit List im Sinne des § 232a StGB handelt, der das Opfer zunächst über seine Absicht, es der Prostitution zuzuführen, täuscht und dadurch in eine Lage bringt, die für eine nachfolgende Verwirklichung dieser Absicht günstigere Voraussetzungen schafft. (Bearbeiter)


Entscheidung

1139. BGH 1 StR 368/19 – Urteil vom 12. Mai 2020 (LG Passau)

Körperverletzung (Einwilligung: Verstoß gegen die guten Sitten bei Eskalationsgefahr: Anwesenheit von Unterstützern bei einem Zweikampf; Körperverletzung mittels einer lebensgefährlichen Behandlung; Einwilligungsfähigkeit bei Jugendlichen); Körperverletzung mit Todesfolge (gefahrspezifischer Zurechnungszusammenhang: Unterbrechung durch vorsätzliches Handeln Dritter; mittäterschaftliche Zurechnung des Handelns Dritter; objektive Zurechnung und Kausalität); gefährliche Körperverletzung (generelle Lebensgefährlichkeit der Körperverletzungshandlung); Beteiligung an einer Schlägerei (Begriff der Schlägerei: aufeinanderfolgende Körperverletzungshandlungen von jeweils nur zwei Personen); Revision des Nebenklägers (Revisionsbegründung: Darlegung eines zulässigen Ziels der Revision).

§ 223 Abs. 1 StGB; § 228 StGB; § 227 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 231 Abs. 1 StGB; § 400 Abs. 1 StPO; § 344 StPO

1. Die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den „guten Sitten“ im Sinne von § 228 StGB trotz der Einwilligung des betroffenen Rechtsgutsinhabers hängt von der ex-ante zu bestimmenden Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des eingetretenen Körperverletzungserfolgs sowie des damit einhergehenden Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers ab (vgl. BGHSt 49, 166, 170 ff). Nach diesem Maßstab ist die Körperverletzung jedenfalls dann als sittenwidrig zu bewerten, wenn bei objektiver Betrachtung unter Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird (vgl. BGHSt 49, 34, 44). Findet indes die Tat unter Bedingungen statt, die den Grad der aus ihr hervorgehenden Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des Verletzten begrenzen, ist die Körperverletzung durch die erklärte Einwilligung gerechtfertigt, wenn das Vereinbarte in ausreichend sicherer Weise für die Verhütung gravierender, sogar mit der Gefahr des Todes einhergehender Körperverletzungen Sorge tragen kann; insoweit ist auch die Eskalationsgefahr zu berücksichti-

gen, die sich aus der Unkontrollierbarkeit gruppendynamischer Prozesse ergibt (vgl. zum Ganzen BGHSt 58, 140).

2. Die Hinzuziehung von Unterstützern bei einem Zweikampf führt nicht grundsätzlich zu einer Sittenwidrigkeit der Körperverletzung. Ein Eingreifen der Unterstützer bei einem aus ihrer Sicht ungünstigen Kampfverlauf ist zwar ein mögliches deliktstypisches Gruppenverhalten (Eskalationsgefahr). Dieser Aspekt darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden; denn die Anwesenheit von Unterstützern birgt die Möglichkeit eines deeskalierenden Eingreifens. Zwar kann die Gefahr bestehen, dass sich Anhänger im Rahmen eines gruppendynamischen Prozesses zu einem Eingreifen veranlasst sehen; die mit dem Zweikampf verbundene Gefahr kann aber auch gemindert werden, weil die Unterstützer die Kämpfer überwachen, das Einhalten der Kampfesregeln sicherstellen und andere zurückhalten könnten.

3. Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre ist einwilligungsfähig, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande ist, Bedeutung und Tragweite des konsentierten Rechtsgutsangriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen, wobei umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer seine Folgen abzusehen sind.

4. Die für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Schlägerei erforderlichen wechselseitigen Tätlichkeiten zwischen mehr als zwei Personen müssen nicht gleichzeitig begangen werden. Eine Schlägerei im Sinne des § 231 Abs. 1, 1. Alternative StGB kann vielmehr auch anzunehmen sein, wenn nacheinander jeweils nur zwei Personen gleichzeitig wechselseitige Tätlichkeiten verüben, aber insgesamt mehr als zwei Personen beteiligt sind, und zwischen diesen Vorgängen ein so enger innerer Zusammenhang besteht, dass eine Aufspaltung in einzelne „Zweikämpfe“ nicht in Betracht kommt und die Annahme eines einheitlichen Gesamtgeschehens mit mehr als zwei aktiv Beteiligten gerechtfertigt ist.

5. Eine tätliche Auseinandersetzung zwischen mehr als zwei Personen verliert erst dann den Charakter einer Schlägerei, wenn sich so viele Beteiligte entfernen, dass nur noch zwei Personen verbleiben, die aufeinander einschlagen oder in anderer Weise gegeneinander tätlich sind.

6. Der Tatbestand der Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) setzt nicht voraus, dass diese geeignet war, das Leben des Opfers konkret zu gefährden. Es genügt vielmehr, dass die Art der Behandlung durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls (generell) geeignet war, das Leben zu gefährden (st. Rspr.).

7. Die Begründung der Revisionen des Nebenklägers muss im Hinblick auf § 400 Abs. 1 StPO erkennen lassen, dass er mit seinen Rechtsmitteln ein zulässiges Ziel verfolgt, also einen bisher unterbliebenen Schuldspruch der Angeklagten (auch) wegen einer Straftat, die ihre Berechtigung zum Anschluss an das Verfahren begründet. Wird eine derartige Präzisierung nicht bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist vorgenommen, ist das Rechtsmittel unzulässig.


Entscheidung

1053. BGH 2 StR 552/19 – Beschluss vom 27. Mai 2020 (LG Aachen)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit: erschöpfende Beweiswürdigung; Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Mittäters bei vorformuliertem Formalgeständnis); Erpressung (kein Rückschluss auf Bereicherungsabsicht allein aus konspirativem Verhalten; Rechtswidrigkeit der Bereicherung: Anknüpfung an materielle Rechtslage, Vorsatz); Tatentschluss des Versuchs.

§ 261 StPO; § 253 StGB; § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 22 StGB

1. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch rechtmäßige Forderungen mit unrechtmäßigen Mitteln eingetrieben werden; dies nimmt weder der Forderung ihre Rechtmäßigkeit, noch kann aus konspirativem Verhalten zur Verdeckung der unrechtmäßigen Mittel auf eine rechtswidrige Bereicherungsabsicht geschlossen werden.

2. Für die Frage, ob ein Anspruch besteht, die Bereicherung also nicht im Sinne des § 253 StGB rechtswidrig ist, nicht auf dessen prozessuale Durchsetzbarkeit ankommt, sondern diese sich allein nach der materiellen Rechtslage bestimmt.

3. Beruht ein möglicher Irrtum auf einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung muss der Tatrichter in den Blick nehmen, dass die Annahme eines bedingten Vorsatzes ein normatives Verständnis der Angeklagten voraussetzt, das nicht ohne Weiteres unterstellt werden kann (vgl. BGH NStZ 2003, 663).

4. Hängt die Überzeugung des Tatgerichts entscheidend von der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Mittäters ab, sind die für die Richtigkeit der Angaben dieses (einzigen) Belastungszeugen sprechenden Gesichtspunkte umfassend zu prüfen, zu würdigen und dies im Urteil deutlich zu machen. Dies gilt insbesondere bei einem vom Verteidiger vorgetragenen Formalgeständnis.

5. Auf nicht zweifelsfrei festgestellte belastende Indizien darf ein Urteil nicht gestützt, sie dürfen zu dessen Begründung nicht einmal ergänzend herangezogen werden (vgl. BGH NJW 2005, 2322, 2325).


Entscheidung

1096. BGH 5 StR 219/20 – Urteil vom 19. August 2020 (LG Hamburg)

Möglichkeit einer ausnahmsweisen Strafmilderung beim Heimtückemord (Rechtsfolgenlösung; außergewöhnliche entlastende Umstände; Drucksituation; schuldhaftes strafbares Vorverhalten).

§ 211 StGB; § 213 StGB; § 49 StGB; § 32 StGB; § 33 StGB

1. Auf die vom Großen Senat für Strafsachen im Wege verfassungskonformer Rechtsanwendung eröffnete Möglichkeit, anstatt der an sich verwirkten lebenslangen Freiheitsstrafe im Falle eines heimtückisch begangenen

Mordes aufgrund von gleichzeitigen Entlastungsmomenten eine Strafe aus dem in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB bestimmten Strafrahmen zuzumessen (sog. „Rechtsfolgenlösung“), dürfen die Tatgerichte nicht voreilig ausweichen. Vielmehr gilt insofern ein strenger Maßstab. Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen hat nichts daran geändert, dass im Regelfall für eine heimtückisch begangene Tötung auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen ist. Durch die Entscheidung wurde nicht allgemein ein Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle eingeführt.

2. Die Anwendung des gemilderten Strafrahmens kommt grundsätzlich nur in solchen Fällen in Betracht, in denen das Täterverschulden soviel geringer ist, dass die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe das verfassungsrechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens missachten würde. Es müssen deshalb schuldmindernde Umstände besonderer Art vorliegen, die in ihrer Gewichtung gesetzlichen Milderungsgründen vergleichbar sind. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Tatrichter aufgrund einer umfassenden Würdigung der Tat sowie der zu ihr hinführenden Umstände zu prüfen.

3. Eine konkrete Drucksituation, in der der Angeklagte (jenseits einer tatsächlichen oder irrtümlich angenommenen Notwehrlage) eine körperliche Auseinandersetzung fürchtet, ist regelmäßig dann kein Anknüpfungspunkt für die ausnahmsweise Anwendung des milderen Strafrahmens, wenn dem ein Konflikt zu Grunde liegt, der wesentlich durch ein strafbares Vorverhalten des Angeklagten (hier: Beteiligung an einem Drogengeschäft) herbeigeführt wurde.


Entscheidung

1103. BGH AK 27/20 – Beschluss vom 3. September 2020

Dringender Tatverdacht wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung (Gründer; Mitglied; Rädelsführer; Konkurrenzen).

§ 129a StGB

1. Für die unterschiedlichen Tatvarianten der Bildung terroristischer Vereinigungen gilt:

a) Gründer im Sinne von § 129a Abs. 1 StGB sind solche Personen, die den Gründungsakt führend und richtungsweisend bewirken. Dies setzt keine organisatorische Führungsrolle voraus. Vielmehr wird nur eine wesentliche Förderung der Gründung verlangt, also ein für das Zustandekommen der Vereinigung weiterführender und richtungsweisender Beitrag, auch wenn dieser im Verhältnis zu den Beiträgen anderer Gründer von untergeordneter Bedeutung ist.

b) Als Mitglied beteiligt sich, wer die Vereinigung nicht nur von außen, sondern, getragen von einem einvernehmlichen Willen zu einer fortdauernden Teilnahme am Verbandsleben, von innen fördert, und damit eine Stellung innerhalb der Organisation einnimmt, die ihn als zum Kreis der Mitglieder gehörend kennzeichnet.

c) Rädelsführer im Sinne des § 129a Abs. 4 StGB ist, wer in der Vereinigung dadurch eine führende Rolle spielt, dass er sich in besonders maßgebender Weise für sie betätigt.

2. Das Gründen einer kriminellen Vereinigung nach § 129 Abs. 1 StGB steht zu der weiteren Tatbestandsalternative der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Vereinigung jedenfalls dann im Verhältnis der Tateinheit, wenn sich die Beteiligung als Mitglied wie hier unmittelbar an das Gründen der Vereinigung anschließt. Dies gilt auch, wenn der Täter jeweils als Rädelsführer handelt. Denn das Qualifikationsmerkmal normiert, wie dargelegt, bezogen auf beide Varianten des § 129a Abs. 1 StGB nur eine besonders intensive Form der Tatbestandsverwirklichung. Es berührt das Konkurrenzverhältnis zwischen den Delikten nicht.


Entscheidung

1129. BGH 1 StR 221/20 – Beschluss vom 10. Juli 2020 (LG Heidelberg)

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen durch eine Person über 21 Jahren (Ausnutzen der fehlenden Fähigkeit der sexuellen Selbstbestimmung: erforderliche konkrete Feststellungen zur fehlenden Fähigkeit der sexuellen Selbstbestimmung, Machtgefälle zwischen Täter und Opfer, Indizwirkung eines erheblichen Altersunterschieds).

§ 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Das vom Tatbestand des § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB vorausgesetzte Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung dem Täter gegenüber ergibt sich nicht schon aus dem Umstand allein, dass die betroffene jugendliche Person unter 16 Jahre alt ist. Einschränkungen der Selbstbestimmungsfähigkeit sind in dieser Altersstufe zwar möglich, werden aber, anders als bei Kindern unter 14 Jahren, vom Gesetz nicht als zwingend gegeben vorausgesetzt. Insoweit bedarf es dazu konkreter Feststellungen, die etwa nicht allein darauf gestützt werden können, dass die Nebenklägerin bis zu dem ersten Vorfall noch keine sexuellen Erfahrungen hatte.

2. Die Beurteilung, ob der Jugendliche nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug war, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln danach auszurichten, hängt damit vor allem davon ab, ob eine Beziehung auf sexuelle Beherrschung des jugendlichen Opfers angelegt ist oder der Täter sich – etwa durch dominantes oder manipulatives Auftreten – unlauterer Mittel der Willensbeeinflussung bedient. Ein erstes Indiz für das Bestehen eines solchen „Machtgefälles“ ist dabei ein erheblicher Altersunterschied zwischen Täter und Opfer.

3. Da für Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren ein noch nicht abgeschlossener Prozess der Entwicklung sexueller Reife typisch ist, liegt der Schwerpunkt des Tatbestandes – neben dem Altersunterschied – auf dem Merkmal des „Ausnutzens“, d.h. der Täter muss sich die Unreife des jugendlichen Opfers mit seinem unlauteren Verhalten bewusst zu Nutze machen, so dass das Opfer einen entgegenstehenden Willen nicht entwickeln oder verwirklichen kann. Echte, auf gegenseitiger Zuneigung beruhende Liebesbeziehungen werden daher vom Tatbestand nicht erfasst.


Entscheidung

1147. BGH 6 StR 7/20 – Urteil vom 15. Juli 2020 (LG Bückeburg)

Sexuelle Nötigung (Begriff der sexuellen Handlung; keine Verurteilung wegen versuchter Vergewaltigung).

§ 177 Abs. 1, Abs. 6 Nr. 1 StGB

1. Eine sexuelle Handlung im Sinne von § 177 Abs. 1 StGB liegt immer dann vor, wenn die Handlung objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, einen eindeutigen Sexualbezug aufweist (vgl. BGHSt 29, 336, 338). Für die Tatvollendung reicht es aus, dass der Täter mit einer sexuellen Handlung am Körper des Opfers begonnen hat (vgl. BGH NStZ-RR 2019, 223, 224). Das ist der Fall, wenn der Täter die Arme des Opfers festhält, dessen Beine auseinanderdrückt und damit beginnt, seine und die Hose des Opfers.

2. Eine Verurteilung wegen Versuchs des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB ist nicht möglich. Eine versuchte Vergewaltigung kommt bei Vollendung des Grundtatbestandes des § 177 Abs. 1 StGB aufgrund des auch nach der Neufassung der Vorschrift durch das Gesetz zur Verbesserung der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I, S. 2460) weiterhin als Strafzumessungsregel ausgestalteten § 177 Abs. 6 StGB) nicht in Betracht (vgl. NStZ-RR 1997, 293) Der Senat braucht daher nicht zu entscheiden, ob es den Versuch eines Regelbeispiels überhaupt gibt.


Entscheidung

1036. BGH 2 StR 57/20 – Beschluss vom 17. Juni 2020 (LG Bonn)

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (Selbstbestimmungsfähigkeit).

§ 182 Abs. 2 StGB

Die Strafbarkeit nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB setzt u.a. voraus, dass der Täter die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung kennt und ausnutzt. Ob dies der Fall ist, bedarf der konkreten Feststellung in jedem Einzelfall durch eine Gesamtbewertung aller objektiven Indiztatsachen.