HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2020
21. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Künast, "taz" und die (neuen) Grenzen der Meinungsfreiheit

Von RiAG Dr. Lorenz Leitmeier, Starnberg[*]

I. Meinungsfreiheit in der digitalen Welt

Im digitalen Zeitalter sind die Grenzen der Meinungsfreiheit unsicherer und zugleich umkämpfter geworden. Eine Kolumne in der "taz" vom 15.6.2020[1], in der eine mehr oder weniger direkte Verbindung zwischen ehemaligen Polizisten ("Cops") und "Abfall" hergestellt wurde, schlug hohe Wellen: Nachdem Bundesinnenminister Horst Seehofer öffentlichkeitswirksam erwog, wegen der "menschenverachtenden Sprache gegenüber Polizisten" Strafanzeige gegen die Kolumnistin zu stellen, verwarf er dieses Vorhaben dann zwar, seiner (geäußerten) Überzeugung nach seien aber durch den Artikel Straftatbestände erfüllt, die von den Ermittlungsbehörden zu ermitteln seien.[2] Kurz darauf meldete sich Jan Böhmermann zu Wort, der bekanntlich seinerseits 2016 mit einem satirischen Gedicht über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan die Grenzen der Meinungs-und Kunstfreiheit ausgetestet hatte[3]. Er sah in Seehofers Ankündigung wenig überraschend einen Angriff auf die Pressefreiheit, der einer liberalen Demokratie unwürdig sei.

Am 8.7.2020 schlugen wiederum 153 Intellektuelle in einem offenen Brief Alarm und beklagten eine gesellschaftliche "At-

mosphäre von Zensur", in der weltweit die öffentliche Debatte eingeschränkt werde. Die Grenzen dessen, was ohne Repressalien gesagt werden dürfe, würden immer enger gezogen, in dieser "stickigen Atmosphäre" zahle einen hohen Preis, wer vom Konsens abweiche.[4] Dieses Phänomen wird gegenwärtig als "Cancel Culture" erfasst: Menschen mit missliebigen politischen Ansichten werden ausgegrenzt, bis hin zur Vernichtung ihrer beruflichen Existenz. Die Meinungsfreiheit scheint also rechtlich und gesellschaftlich stark unter Druck geraten.

Am anderen Ende der Skala findet sich hingegen ein zivilrechtlicher Beschluss des LG Berlin vom 9.9.2019[5], der in die andere Richtung für Aufsehen sorgte[6]: Nachdem Renate Künast, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, auf der Social-Media-Plattform "Facebook" verbal massiv angegriffen worden war ("Stück Scheisse", "Geisteskranke"), beantragte sie die Herausgabe der personenbezogenen Daten von 22 nicht namentlich bekannten Nutzern[7]. Das LG Berlin wies die Anträge zunächst insgesamt zurück, weil die Online-Kommentare noch Sachbezug aufwiesen. Im Beschwerdeverfahren revidierte das LG Berlin seine Entscheidung dann teilweise und stufte sechs Äußerungen "im Lichte höchstrichterlicher und verfassungsrechtlicher Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit" doch als rechtswidrig ein.[8] Diesen Beschluss wiederum korrigierte auf erneute Beschwerde Künasts hin das KG Berlin und entschied, dass die Daten von weiteren sechs Nutzern herauszugeben seien, da auch deren Äußerungen jeweils eine Beleidigung gem. § 185 StGB darstellten.[9]

Welche Äußerungen auf den "sozialen Medien" also noch rechtmäßig sind, welche hingegen eine strafbare Beleidigung – darüber herrscht offensichtlich starke Unsicherheit.

Von strafrechtlich großer Bedeutung in diesem Zusammenhang sind vier Beschlüsse des BVerfG vom 19.5.2020, die es am 19.6.2020 veröffentlichte[10]. In diesen Verfahren nahm es Verfassungsbeschwerden zum Anlass, "die Rechtsprechung des BVerfG zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen"[11] – insbesondere auch zu Äußerungen in "sozialen Netzwerken" gegenüber Politikern. Was also ist noch zulässige "Machtkritik", ab wann ist die Grenze zur strafbaren Beleidigung überschritten? Welche Kriterien sind für das BVerfG maßgeblich?

Sehr aufschlussreich ist es, an die medienwirksamen Fälle "Künast" und "taz" den Maßstab des BVerfG anzulegen und sie strafrechtlich einzuordnen sowie anhand dieser Blaupause die verfassungsrechtlichen Räume der Meinungsfreiheit und die Grenze zur Strafbarkeit nachzuzeichnen.

II. Künast als "Sondermüll" und Polizisten "auf der Mülldeponie"

Renate Künast wollte sich gerichtlich gegen eine Vielzahl massiver Kommentare auf "Facebook" wehren, unter anderem war sie als "Stück Scheisse", "Krank im Kopf", "altes grünes Drecksschwein", "Geisteskrank", "kranke Frau", "Schlampe", "Gehirn Amputiert", "Drecks Fotze", "Sondermüll", "Alte perverse Dreckssau" bezeichnet worden. Die Kommentare bezogen sich darauf, dass Künast 1986 als Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus einen Zwischenruf im Zusammenhang mit der damaligen Pädophilie-Debatte bei den Grünen tätigte. Als eine Abgeordnete der Grünen eine Rede über häusliche Gewalt hielt, stellte ihr ein CDU-Abgeordneter die Zwischenfrage, wie sie zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, wonach die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle. Künast rief seinerzeit dazwischen: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!" Dieser Zwischenruf vor etlichen Jahren wurde erneut Thema einer öffentlichen Diskussion, weil er in einem Artikel der "Welt am Sonntag" vom Mai 2015 zitiert war. In diesem Artikel wurde die Frage gestellt: "Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?" Künast hatte das als Missverständnis zurückgewiesen, ihr sei es um die korrekte Wiedergabe des Beschlusses der Grünen gegangen.

Das LG Berlin hielt die drastischen Äußerungen der Nutzer zunächst sämtlich für rechtmäßig: Sie stellten keine Schmähung dar, weil sie im "Kontext einer Sachauseinandersetzung"[12] stünden. Wegen dieses Sachbezugs handle es sich um "keine Diffamierung der Person der Antragstellerin und damit keine Beleidigungen", sondern um zulässige Meinungsäußerungen. Zudem müsse Künast als Politikerin mehr hinnehmen als andere Nutzer. Auf eine Beschwerde Künasts hin wurde dieser Beschluss teilweise abgeändert, demnach seien einige Ausdrücke doch eine strafbare Beleidigung, nämlich "Stück Scheisse", "Schlampe", "Drecks Fotze", "Drecksau". Auch die Äußerung, Renate Künast gehöre auf der "Mülldeponie entsorgt" ("aber man darf ja dort keinen Sondermüll entsorgen"), sei doch nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die übrigen sechzehn Kommentare hätten hingegen einen Sachbezug gehabt. Es handle sich deshalb bei diesen Kommentaren um Äußerungen, die das Verhalten der Antragstellerin oder den Aussagegehalt des von ihr im Jahre 1986 getätigten Einwurfs im Berliner Abgeordnetenhaus kritisierten und sich nicht in der persönlichen Herabsetzung der Antragstellerin erschöpften, sodass sie im Ergebnis noch keine Beleidigung darstellten.

In der nächsten Instanz entschied dann wiederum das KG Berlin, dass weitere sechs Äußerungen rechtswidrig seien, nämlich: "Knatter sie doch mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird”, "Wurde diese "Dame” vielleicht als Kind ein wenig viel gef… und hat dabei etwas von ihren Verstand eingebüßt.”, "Pfui, du altes grünes Dreckschwein…”, "Der würde in den Kopf geschi… War genug Platz da kein Hirn vorhanden war/ist”, "Die will auch nochmal Kind sein weil sonst keiner an die Eule ran geht!”, "Sie alte perverse Drecksau!!!!! Schon bei dem Gedanken an sex mit Kindern muss das Hirn wegfaulen!!!!! Ich glaube, das ist bei den Grünen auch so!!!!!”

Diese Äußerungen seien so massiv diffamierend, dass sie als Schmähkritik bzw. Formalbeleidigung einzuordnen seien und auch angesichts der strengen Anforderungen des BVerfG an Eingriffe in das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Beleidigungen gem. § 185 StGB darstellten.

Diese Schwelle hingegen überschritten nach Ansicht des KG Berlin, das eine Verrohung bis hin zu einer Radikalisierung des gesellschaftlichen Diskurses (insbesondere unter Ausnutzung der Anonymität im Internet) feststellte, noch nicht folgende Äußerungen: "Pädophilen-Trulla”, "Die alte hat doch einen Dachschaden die ist hol wie Schnittlauch man kann da nur noch”, "Mensch…was bist Du Krank im Kopf!!!”, "Die ist Geisteskrank”, "Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren”, "Sperrt diese kranke Frau weck sie weiß nicht mehr was sie redet”, "Die sind alle so krank im Kopf”, "Gehirn Amputiert”, "Kranke Frau”, "Sie wollte auch Mal die hellste Kerze sein, Pädodreck.”

Zwar seien dies ebenfalls "erheblich ehrenrührige Bezeichnungen und Herabsetzungen", allerdings sei "unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben" der Straftatbestand des § 185 StGB noch nicht erfüllt. Bei der konkreten Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht (das im Übrigen natürlich auch die Nutzer haben) sei der Bezug zur Sachdebatte noch ausreichend.

In der "taz" vom 15.6.2020 wiederum nahm die Autorin Hengameh Yaghoobifarah die formale Auflösung des Polizeiapparats in Minneapolis (als Konsequenz nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd) zum Anlass, um der Frage nachzugehen, was nach einer "Abschaffung der Polizei" eigentlich mit all den Menschen passiere, die gegenwärtig bei der Polizei seien?

Da der "Anteil an autoritären Persönlichkeiten und solchen mit Fascho-Mindset in dieser Berufsgruppe überdurchschnittlich hoch" sei, fielen letztlich alle beruflichen Optionen weg: Machtpositionen und soziale Tätigkeiten kämen nicht in Frage, da die ehemaligen Polizisten diese missbrauchen würden, in techniknahen Berufen könnten sie "Bomben und Brandsätze" bauen, und Nähe zu Menschen sei generell zu riskant. Die Kolumne läuft auf eine Schlusspointe hinaus, die die Frage "Wohin also mit den über 250.000 Menschen, die dann keine Jobs mehr haben?" wörtlich wie folgt beantwortet: "Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten."

Der Text führte auch innerhalb der Redaktion der "taz" zu Kontroversen, in der Folge wurden "in eigener Sache" mehrere Artikel veröffentlicht, die die innerredaktionelle Debatte für und gegen den umstrittenen Artikel offenlegten ("Ringen um einen Text")[13]: Der Text sei "keine Satire" und "mehr als grenzwertig"[14], die Autorin habe "Polizeibeamte und Abfall gleichgesetzt" und damit "die Menschenwürde verletzt"[15]. Eine andere Stimme verteidigte die Kolumne als eine "polemische und satirisch-groteske Kritik an einer Machtstruktur"[16], der Anwalt der Kolumnistin sprach von einem "satirisch geformten Gedanken", da nicht einmal in Minneapolis die Polizei ersatzlos aufgelöst werde, und fragte: "Wieso soll das verboten sein?"[17]

III. BVerfG: Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen

Bei dieser Frage, ob eine Äußerung verboten ist oder nicht, hilft der Blick ins Strafgesetzbuch bekanntlich nur wenig weiter, die entscheidenden Weichen werden im Verfassungsrecht gestellt: Es geht um das Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Von großer Hilfe ist dabei, dass das BVerfG aus Anlass von vier Verfassungsbeschwerden seine Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen "klarstellend zusammenfasste". In vier Beschlüssen vom 19.5.2020[18] stellte es die wesentlichen Kriterien dar, die entscheidend seien bei der erforderlichen Abwägung zwischen persönlicher Ehre und Meinungsfreiheit – und damit für (oder gegen) eine Strafbarkeit gem. § 185 StGB. Dabei sei eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen einer Äußerung und der Situation erforderlich, in der die Äußerung falle. Eine strafbare Beleidigung liege nur dann vor, wenn das Gewicht der persönlichen Ehre in der konkreten Situation die Meinungsfreiheit des Äußernden überwiege.

Zunächst formuliert das BVerfG die bekannten Grundlagen: "Art. 5 I 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Dass eine Aussage polemisch oder

verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts.(…)[19]

Nach Art. 5 II GG findet das Grundrecht der Meinungsfreiheit seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Dazu gehört auch § 185 StGB.

Auf dieser Basis gibt das BVerfG dem Rechtsanwender (Richter) dann ein genaues Vorgehen an die Hand.

1. Erster Schritt: Sinn der Äußerung?

"Bei Anwendung dieser Strafnorm auf Äußerungen im konkreten Fall verlangt Art. 5 I 1 GG zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung. "[20] Natürlich ist dabei der Kontext der Äußerung zu berücksichtigen, das gesamte Spektrum der Auslegung zu bemühen.

Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. Die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils wird daher den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht.[21]

Wer die Meinungsfreiheit hochhält (oder auch nur eine Strafbarkeit gem. § 185 abzuwehren sucht), zitiert an dieser Stelle gerne auch eine frühere Entscheidung des BVerfG, wonach Art. 5 I GG verletzt sei, wenn "bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind."[22] Allerdings besagt dieses Zitat natürlich nicht, dass jede hypothetische, nicht ernsthaft in Betracht kommende Deutungsvariante zu berücksichtigen ist und eine Strafbarkeit verhindert.[23]

Wendet man diese Formel des BVerfG auf die "taz"-Kolumne an, muss es als abseitig durchfallen, wenn nach einer Deutung die Passage "umgeben von Abfall, unter ihresgleichen" nicht bedeute, Polizisten seien Müll: "Das Wort ´ihresgleichen´ lässt sich auf Gegenstände, zu denen ´Abfall´ gehört, sprachlich ja gar nicht korrekt beziehen. ´Ihresgleichen´ gilt nur für Personen und dass die Autorin vorher den Abfall zu Personen aufgewertet hätte, ließe sich nicht belegen. Und dass zuvor eine Verdinglichung der Polizisten, also ein klar erkennbarer Entzug des Menschseins in der Bewegung des Textes stattgefunden hätte, wäre auch nicht schlüssig zu behaupten. Innerhalb der Logik und Idee der Kolumne könnte dies sogar eine böse, aber folgerichtige und eben nicht menschenfeindliche Pointe sein: Die Polizei muss dahin, wo alles schon kaputt und nutzlos ist und sie keinen anderen Menschen mehr schaden kann (´Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern´), weil auf einer Müllkippe keine Menschen sind, sondern sie die einzigen wären (´Man will sie ja nicht in die Nähe von Tieren lassen´). Dort sähen Polizisten nur noch Polizisten, ihresgleichen also, in der Einsamkeit einer Deponie, in Gegenwart von Müll."[24]

Entgegen einer solch gekünstelten Interpretation ist für den unbefangenen Leser die Gleichsetzung von Müll und Polizisten zwingend: "In dieser Anordnung gibt es nur zwei Parteien: ´Sie´ (Polizisten) und ´Abfall´. ´Sie´ und ´Polizisten´ sind dasselbe; der Satz bedeutet also nicht etwa, dass Polizisten sich unter Polizisten am wohlsten fühlen. Dazu bräuchte man sie nicht auf die Halde bringen. Sondern sie fühlen sich da am wohlsten, wo sie ´wirklich nur von Abfall umgeben´ sind, denn der Abfall ist ´ihresgleichen´. Wenn Worte noch Bedeutungen haben sollen, ist dieser Sinn des Satzes  offenkundig; da beißt kein chefredaktionelles oder kolumnistisches oder sonstiges Mäuschen ein Fädchen ab."[25]

Auch die politische Korrespondentin der "taz" bezog klar in dieser Richtung Stellung: "Journalismus, wie seriös oder unseriös auch immer, hat stets ein Ziel: von einem möglichst breiten Teil des Publikums verstanden zu werden. Es geht in unserem Beruf nicht um Textexegese, und wir befinden uns nicht in einem germanistischen Proseminar. Deshalb fasse ich zusammen: Polizeibeamte wurden in dem Manuskript, um das es hier geht, mit Abfall gleichgesetzt."[26]

2. Zweiter Schritt: Schmähung, Formalbeleidigung oder Angriff auf die Menschenwürde?

Ist der (mögliche) Sinn des Textes erfasst (und jeder abwegige ausgeschlossen), gilt es in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Ausnahme von der Regel gegeben und die Äußerung ohne Weiteres strafbar ist. In der Regel setzt die Strafbarkeit eine Abwägung voraus, "abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer

Einzelfallabwägung bedarf."[27] Dies ist aber – eng begrenzt – nur dann der Fall, wenn die Äußerung keinen Bezug zur Sache aufweist. Einen solchen Sachbezug zu erkennen, war das BVerfG bereits bisher sehr großzügig: So durfte es etwa nicht als Schmähkritik gewertet werden, wenn ein Prozessbeteiligter die Verhandlungsführung eines Richters mit nationalsozialistischen Sondergerichten und Hexenprozessen verglich, solange es sich nicht um eine reine Herabsetzung des Betroffenen handelte, sondern ein sachlicher Bezug zu dem vom Betroffenen geführten Prozess bestand.[28]

Auch nach den jetzt veröffentlichten Beschlüssen sind an den Begriff der "Schmähkritik" strenge Kriterien anzulegen.

a) "Schmähkritik" als qualitativer Begriff

Eine "Schmähung" oder "Schmähkritik" ist kein gradueller Begriff, also nicht bloß eine gesteigerte Ehrbeeinträchtigung, auch ausfällige Kritik ist nicht per se eine Schmähung. "Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung vielmehr erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht."[29]

Wegen Art. 5 I 1 GG darf Kritik auch "grundlos, pointiert, polemisch und überspitzt" sein. Für eine Einordnung als "Schmähkritik" sind regelmäßig Anlass und Kontext der Äußerung zu berücksichtigen. "Schmähung im verfassungsrechtlichen Sinn ist gegeben, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht."[30] Eine vorherige Auseinandersetzung wird dabei erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen, um über andere Personen "herzuziehen oder sie niederzumachen", auf eine persönliche Kränkung abzuzielen. Dafür eignen sich die Kommunikationsbedingungen des Internets, unter denen Personen "im Schutz der Anonymität des Internets ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen heraus verunglimpft und verächtlich gemacht werden".

Diese Fälle bezugsloser Diffamierungen sind indes enge Ausnahmen: "Herabsetzungen in der Ehre (sind), auch wenn sie besonders krass und drastisch sind, nicht als Schmähung anzusehen, wenn sie ihren Bezug noch in sachlichen Auseinandersetzungen haben."[31]

In der Regel geht es nicht um die Diffamierung als Selbstzweck, sondern sind ehrverletzende und damit unsachliche Äußerungen noch Teil einer "anlassbezogenen Auseinandersetzung" und damit (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes.

b) "Formalbeleidigung" als tabuisierte Begrifflichkeit

Die "Formalbeleidigung" wiederum kann unabhängig von den konkreten Umständen allein durch die isolierte Betrachtung eines Begriffs erfüllt sein: "Um solche Fälle kann es sich etwa bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern - etwa aus der Fäkalsprache - handeln." Der Sprecher benutzt hier eine "kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit."[32]

Wie die Schmähkritik ist auch die Formalbeleidigung regelmäßig ohne Grundrechtsabwägung strafbar. Entsprechend sind auch an diese Kategorie strenge Maßstäbe anzulegen, die Fälle gehen über Formalbeleidigungen im Sinne des § 192 StGB hinaus, die ihrerseits im Normalfall eine Grundrechtsabwägung (zwischen Art. 5 I und Art. 2 I GG) erfordern.

c) Angriff auf die Menschenwürde

Einen dritten Ausnahmefall stellt es dar, wenn "der Gebrauch der Meinungsfreiheit auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt", wenn eine Äußerung also "einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht".[33]

Nimmt ein Gericht in diesem zweiten Schritt einen der drei Ausnahmefälle an, ist dies "auf die konkreten Umstände des Falls bezogen, gehaltvoll und verfassungsrechtlich tragfähig"[34] zu begründen, Formelbegründungen reichen hier (natürlich) nicht aus.

Bereits hier lassen sich einige Äußerungen aus dem Fall "Künast" einordnen:

Die Ausdrücke "Stück Scheisse", "Schlampe", "Drecks Fotze", "Drecksau", "alte perverse Drecksau", "in den Kopf geschi…", "…weil keiner an die Eule ran geht", "Knatter sie doch mal einer so richtig durch", "Wurde…als Kind ein wenig viel gef…" sind jeweils Formalbeleidigungen und eine Schmähkritik, die ohne Abwägung strafbar sind. Ein sachlicher Bezug zu einem Streit in der Sache ist hier selbst bei weitester Auslegung nicht mehr gegeben. Mangelnde Bildung entlastet nicht: Auch wer nicht weiß, dass nach zwei Vokalen (Diphthong) ein "scharfes s" folgt und kein "Doppel-s", und dass man zusammengesetzte Wörter (Komposita) nicht getrennt schreibt, kann sich anders ausdrücken als durch Fäkalsprache.

Die Äußerung, Renate Künast gehöre auf der "Mülldeponie entsorgt", spricht ihr die Menschenwürde ab, da es auf die Vernichtung von Menschenleben im Nationalso-

zialismus anspielt. Diese Äußerung ist also ebenfalls ohne Notwendigkeit einer Abwägung strafbar.

Als Gegenbeispiele dienen die Formulierungen, die das BVerfG zu würdigen hatte: Die Ausdrücke "hinterhältig" und "asozial" sind nicht tabuisiert und auch nicht bezugslos, sodass hier weder eine Formalbeleidigung noch eine Schmähkritik gegeben sind.[35] Auch stellt es keine Schmähkritik dar, einen (Landes-)Finanzminister als "Rote Null" zu bezeichnen und über ihn zu sagen: "Genosse dilettiert", da ein hinreichender Sachbezug (zum Rundfunkbeitrag) gegeben war.[36] Auch gehören die Begriffe "Null" und "dilettieren" offensichtlich nicht zum kleinen Kreis sozial absolut tabuisierter Schimpfwörter, deren einziger Zweck es ist, andere Personen herabzusetzen. Je nach Kontext sind sie "durchaus geläufige Ausdrucksmittel von Kritik".[37]

Keine Formalbeleidigung ist es schließlich, wenn jemand in seinem Internetblog seinen Unmut über Gerichtsverfahren kundtut, indem er Richter namentlich nennt und sie als "asoziale Justizverbrecher", "Provinzverbrecher", "Kindesentfremder" und "Rechtsbeuger" bezeichnet: Dies sind Begriffe, mit denen in einem anderen Kontext durchaus sachliche Kritik an Personen und deren Verhalten zum Ausdruck gebracht werden könnte.[38]

Auch ist das keine Schmähkritik, da der Sachbezug vorhanden ist, also eine Auseinandersetzung mit Entscheidungen eines Gerichts, die als rechtswidrig angesehen werden. Die Ausdrücke erschöpfen sich nicht in einer Diffamierung der Amtsträger, losgelöst von jedem Bezug.

3. Dritter Schritt: Meinungsfreiheit oder Ehre?

Ist eine Äußerung (wie in aller Regel) keine Schmähung, keine Formalbeleidigung und auch kein Angriff auf die Menschenwürde, erfolgt nach den Vorgaben des BVerfG in einem dritten Schritt eine "abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen."[39]

Und hier gibt es eine Überraschung, die das BVerfG aber nicht als solche kennzeichnet: Bei dieser Abwägung gilt nämlich "keine Vorfestlegung dahingehend, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht bei der dann gebotenen Abwägungsentscheidung zurückzutreten habe. Eine solche Vorfestlegung ergibt sich auch nicht aus der Vermutung zugunsten der freien Rede. Diese Vermutung zielt insbesondere darauf, der Meinungsfreiheit dann zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn es sich bei einer Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt. (…) Eine Asymmetrie zwischen den Grundrechten bei der Abwägung insgesamt ergibt sich hieraus jedoch nicht."[40]

Dies ist äußerst bemerkenswert, nach den bisherigen Vorgaben des BVerfG galt für die Abwägung folgende Maxime: "Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede. Abweichungen davon bedürfen folglich einer Begründung, die der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie, in der die Vermutungsregel wurzelt, Rechnung trägt."[41]

Bei einem Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung hatte also die Meinungsfreiheit das rechtliche Prä gegenüber dem Persönlichkeitsrecht, die Argumentationslast trug, wer die Meinungsfreiheit zurücktreten lassen wollte. In Grenz- und Zweifelsfällen setzte sich also die Meinungsfreiheit durch, rechtlich ist das eine klassische Vermutungsregel – also per definitionem die Herstellung von Asymmetrie zwischen zwei Normen(komplexen).

Nunmehr aber lässt das BVerfG "keine Asymmetrie zwischen den Grundrechten bei der Abwägung" gelten, die (immer noch gültige) "Vermutung zugunsten der freien Rede" schrumpft zusammen darauf, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit eine Begründung erfordern, die der "konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung tragen"[42] – eine Selbstverständlichkeit, die mit einer Vermutungsregel nicht mehr viel gemein hat. Weiter formuliert das BVerfG, aus der "Vermutung der freien Rede" könnten sich "für die Konfliktbewältigung im Einzelnen Vorrangregeln ergeben"[43], und verweist auf seinen berühmten Beschluss "Soldaten sind Mörder" aus dem Jahr 1995.[44] In diesem Beschluss allerdings wurde aber auf einer der Abwägung vorgelagerten Stufe bestimmt, dass bei der Auslegung der Äußerung eine Deutung zugrunde gelegt werden muss, die den objektiven Sinn der Äußerung erfasst. Der Kern dieser Vorrangregel findet sich in dem Satz: "Lassen Formulierung oder Umstände (…) eine nicht ehrenrührige Deutung zu, so verstößt ein Strafurteil, das diese übergangen hat, gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG."[45] Hierbei geht es allerdings zum Einen noch gar nicht um die Abwägung zwischen den Grundrechten selbst, sodass nicht von einer "Vorrangregel" im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Zum anderen ist die objektive, den Sinn der Äußerung erfassende Deutung auch kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit.

Und somit schrumpft die vormalige Vorrangregel zusammen darauf, dass bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit des Sprechers und Persönlichkeitsrecht des Angegriffenen die "konstitutive Bedeutung der Meinungsfreiheit" zu würdigen ist. In Grenzfällen kann sich der Sprecher jedoch nicht (mehr) darauf berufen, dass sich die Meinungsfreiheit "im Zweifel" durchsetzt, die Abwägung erfolgt streng symmetrisch. Welche Abwägungskriterien gelten nun aber im Einzelnen? Vorauszuschicken ist, dass es sich bei den folgenden Gesichtspunkten nicht um einen "Katalog" handelt, der in Gänze abzuarbeiten wäre, vielmehr überträgt das BVerfG den Fachgerichten die Aufgabe, im Einzelfall die je abwägungsrelevanten Gesichtspunkte herauszuarbeiten und miteinander abzuwägen.[46]

a) Abwägungskriterien

Da der Tatbestand der Beleidigung bekanntlich (wertungs-)offen formuliert ist, muss sich das entscheidende (Zivil- oder Straf-)Gericht in jedem einzelnen Fall umfassend mit den konkreten Umständen sowie der Situation auseinandersetzen, in der die Äußerung erfolgte.

Abzustellen ist auf "Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten"[47]. Ohne Bedeutung ist es hingegen, dass eine polemische Zuspitzung der Kritik nicht erforderlich gewesen wäre.[48]

aa) Konkreter ehrschmälernder Gehalt

Erster und sehr wichtiger Gesichtspunkt für die inhaltliche Abwägung ist der "konkrete ehrschmälernde Gehalt" einer Äußerung, ob also die Äußerung grundlegende, allen Menschen gleichermaßen zukommende Achtungsansprüche betrifft oder ob sie eher das jeweils unterschiedliche soziale Ansehen des Betroffenen schmälert, und ob eine abschätzige Äußerung die Person als ganze oder nur einzelne ihrer Tätigkeiten und Verhaltensweisen betrifft.[49] Auch ist zu prüfen, ob eine Strafbarkeit dem Äußernden die Freiheit nimmt, bestimmte Inhalte und Wertungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, ob also alternative Äußerungsmöglichkeiten selben oder ähnlichen Inhalts bleiben. Hierbei sind auch Grenzen des Sprechers in seiner Ausdrucksfähigkeit oder soziale Aspekte zu berücksichtigen, da alle am Diskurs teilnehmen dürfen.

Stark zu Lasten der Meinungsfreiheit fällt es ins Gewicht, wenn die Äußerung Elemente enthält, die bewusst falsch wiedergegeben sind, da verleumderische Elemente nicht den Schutz durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG genießen.[50]

bb) Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung?

Wurzel und Grund der Meinungsfreiheit ist der Schutz der Machtkritik, weiteres wichtiges Abwägungskriterium ist damit das Verhältnis der Äußerung zur öffentlichen Meinungsbildung: Die Meinungsfreiheit ist umso höher zu gewichten, "je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht."[51]

Geschützt sind die Bürger vor allem darin, Machtkritik zu üben und ohne Angst vor Sanktionen "als verantwortlich angesehene Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen (zu) können".[52] Sie dürfen straflos zum Ausdruck bringen, dass sie eine bestimmte Person für ungeeignet zur Führung der von ihnen bekleideten öffentlichen und politischen Ämter halten, was auch harsche, nicht näher begründete Fundamentalkritik einschließt, insbesondere gegenüber Amtsträgern in Regierungsfunktion. Die Fähigkeit einer Person zur sachgemäßen Führung höchster öffentlicher oder politischer Ämter ist nicht Teil des grundlegenden sozialen Achtungsanspruchs und kommt dem auch nicht nahe. Insoweit für ungeeignet erklärt zu werden, schmälert das Ansehen nicht in derselben Weise wie es bei elementaren gesellschaftlichen Geltungsansprüchen der Fall wäre. Umgekehrt stellt es einen wichtigen Gesichtspunkt zugunsten des Ehrschutzes dar, wenn die Äußerungen die berufliche Integrität der betroffenen Richter grundsätzlich infrage stellen. Als Beispiel dient hier die Äußerung, die das BVerfG in einem der Beschlüsse[53] als rechtswidrig kennzeichnete: Wer einer Amtsträgerin eine krankhafte Neigung zu schweren Straftaten nachsagt und zugleich die Fähigkeit und den Anspruch abspricht, in zurechnungsfähiger und verantwortlicher Weise mit anderen Menschen umzugehen und sich ihnen gegenüber sozial und in rechtmäßiger Weise zu verhalten, tätigt eine drastische, den grundlegenden sozialen Geltungsanspruch der Betroffenen deutlich berührende Äußerung,

Da sich Machtkritik im öffentlichen Bereich abspielt, ist auch entscheidend, in welcher Rolle der Angegriffene getroffen wird: "In die Abwägung ist daher einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken mit seinen - unter Umständen weitreichenden - gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können."[54]

Auf Basis der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 Abs. 2 EMRK sind die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen, da Politiker bewusst in die Öffentlichkeit treten. Hierbei gibt es graduelle Abstufungen: Einem Bundesminister

gegenüber können insoweit härtere Äußerungen zuzumuten sein als etwa einem Lokalpolitiker. Auch Amtswalter haben nicht so viel hinzunehmen wie Politiker, da ihnen die Aufgabe mit Bürgerkontakt ohne ihr besonderes Zutun im Rahmen ihrer Berufsausübung übertragen wurde. Auch spielt es eine Rolle, wenn der oder die Geschmähte keine einschneidenden Entscheidungsbefugnisse hat.[55]

Aber auch gegenüber Politikern gibt es natürlich Grenzen: "Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträger nicht aus."[56] Auch im "Kampf um das Recht" hat die Ehre Vorrang, wenn die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen weitgehend überlagert. Der Schutz ist auch demokratietheoretisch wichtig, da ohne hinreichenden Schutz der Persönlichkeitsrechte schwerlich eine Mitwirkung in Staat und Gesellschaft erwartet werden kann.

cc) Begleitumstände der Äußerung?

Art. 5 GG schützt die menschliche Subjektivität und damit auch Emotionalität und Erregbarkeit. Von Bedeutung ist daher, ob die Äußerung ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist: "Denn für die Freiheit der Meinungsäußerung wäre es besonders abträglich, wenn vor einer mündlichen Äußerung jedes Wort auf die Waagschale gelegt werden müsste."[57] Demgegenüber kann bei schriftlichen Äußerungen im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden. Dies gilt - unter Berücksichtigung der konkreten Kommunikationsumstände - grundsätzlich auch für textliche Äußerungen in den "sozialen Netzwerken" im Internet.

Abwägungsrelevant kann dabei auch sein, ob dem, der sich äußert, aufgrund seiner beruflichen Stellung, Bildung und Erfahrung zuzumuten ist, auch in besonderen Situationen - beispielsweise gerichtlichen und behördlichen Verfahren - die äußerungsrechtlichen Grenzen zu kennen und zu wahren.

In diesem Zusammenhang ist ebenfalls erheblich, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand oder ob sie aus nichtigen oder vorgeschobenen Gründen getätigt wurde. In rechtlichen Auseinandersetzungen etwa ist es im "Kampf um das Recht" grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen.

Von großer Bedeutung ist die Reichweite der Äußerung, ihre konkrete Verbreitung und Wirkung: "Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall. Demgegenüber ist die beeinträchtigende Wirkung einer Äußerung beispielsweise gesteigert, wenn sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird. Ein solches die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung verstärkendes Medium kann insbesondere das Internet sein, wobei auch hier nicht allgemein auf das Medium als solches, sondern auf die konkrete Breitenwirkung abzustellen ist."[58] Aus der spezifischen Verbreitungswirkung durch das Internet können sich besonders schwerwiegende Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und spiegelbildlich auch besondere Grenzen für die rechtliche Zulässigkeit von Äußerungen ergeben.[59]

Bei den Begleitumständen der Äußerung ist schließlich auch zu berücksichtigen, ob der verbal Attackierte möglicherweise selbst einen Anlass dafür gegeben hatte, sich mit ihm auseinanderzusetzen ("Verursacherprinzip") – so etwa bei einem der vom BVerfG entschiedenen Fälle, in denen sich der Finanzminister mit einem personalisierten Schreiben selbst zu Wort gemeldet, einen allgemeinpolitischen Appell an die Bürger gerichtet und damit einen konkreten Anlass für die verbale Reaktion eines Angeschriebenen gesetzt hatte.

Im "Fall Künast" spielt also eine Rolle, dass die damalige Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus durch eine Wortmeldung ihrerseits einen Debattenbeitrag leistete, auf den politisch Interessierte natürlich reagieren dürfen – aufgrund des emotionalen Themas grundsätzlich auch durch eine zugespitzte, polemische Wortwahl. Dennoch sind die letztlich vom KG Berlin noch für rechtmäßig erachteten Ausdrücke ("Gehirn Amputiert", "Geisteskrank", Pädodreck") zu massiv in ihrer ehrabschneidenden Wirkung, als dass sie noch unter Art. 5 I GG zu subsumieren sind. Hier dürfte die Grenze zur Beleidigung ebenfalls überschritten sein.

Bei der Einordnung der "taz"-Kolumne wiederum ist weiter zu klären, ob die Abwägung anhand der vom BVerfG vorgegebenen Kriterien noch unter besonderen Bedingungen steht, da die Äußerung (wohl) satirisch intendiert war.

b) Sonderfall Satire?

Die Kolumne in der "taz" war überschrieben mit "All cops are berufsunfähig", die Anordnung der ersten Buchstaben spielte also offensichtlich mit dem Akronym "ACAB". Damit war für den ganzen Text eine ironische Brechung angelegt, die Kolumne kann damit als Satire gelesen werden – als einer Gattung zugehörig, die durch Spott, Ironie oder Übertreibung bestimmte Personen, Anschauungen, Ereignisse oder Zustände kritisieren oder lächerlich machen will. Als wesentliche Merkmale der Satire gelten der Angriff auf ein erkennbares reales Ob-

jekt, die nicht rein private Motivation und die Indirektheit dieses Angriffs, mit dem Stilmittel der Übertreibung wird bewusst ein Spott- oder Zerrbild der Wirklichkeit vermittelt.[60]

Fraglich ist, was rechtlich daraus folgt? Dies ist zunächst einmal deutlich weniger als das tot-zitierte "alles", das Kurt Tucholsky (unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel) der Satire zugestand.[61] Zunächst einmal kann Satire Kunst sein, es ist aber nicht jede Satire immer Kunst.[62] Zwar steht die Kunstfreiheit gem. Art. 5 III GG nicht unter Gesetzesvorbehalt, sodass bekanntlich nur die verfassungsimmanenten Schranken greifen. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem (formalen) Kunstbegriff[63] kann an dieser Stelle allerdings unterbleiben, da das Persönlichkeitsrecht des Zielobjekts der Satire natürlich ein solches Verfassungsgut und damit schrankentauglich ist, zudem die immens hohe Bedeutung der Meinungsfreiheit[64] letztlich zu einem weitgehend parallelen Prüfungsmaßstab wie bei der Kunstfreiheit führt.[65]

Das BVerfG gibt bei einer satirischen Äußerung zunächst einmal vor, dass entsprechend einer auf das RG zurückführenden Rechtsprechung[66] bei der Deutung "werkgerechte Maßstäbe" anzulegen seien: Die Satire müsse in ihrem Gesamtkontext gesehen werden, alle in Betracht kommenden Deutungen seien zu berücksichtigen, vor allem also auch dem Werk günstige, d.h. verfassungsgemäße. Zudem muss nach den Vorgaben des BVerfG der Aussagekern der satirischen Äußerung freigelegt, sie also ihrer Verzerrung "entkleidet" werden.[67] Im Anschluss sind der Aussagekern und seine Einkleidung gesondert daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Beleidigung darstellen; bei der "Einkleidung" sind großzügigere Maßstäbe anzulegen, da die Verfremdung zum Wesen der Satire gehört: "Eine Satire oder ähnliche Übersteigerung darf als Stilmittel der Kommunikation grundsätzlich nicht schon selbst als Kundgabe der Missachtung gewürdigt werden. Der Aussagekern und seine Einkleidung sind vielmehr gesondert daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Kundgabe der Missachtung gegenüber der betroffenen Person enthalten."[68]

Enthält die Äußerung einen ehrkränkenden Inhalt, so dass ein Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht besteht, muss eine Abwägung unter Berücksichtigung der Schwere der Beeinträchtigung vorgenommen werden, die jedem der beiden Rechtsgüter droht.[69] Die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht im Einzelfall erfolgt im Übrigen nach den Maßstäben, die das BVerfG in den aktuellen Beschlüssen darstellte, wobei das BVerfG bereits in der Vergangenheit sehr zurückhaltend war, die äußersten Grenzen als überschritten anzusehen.[70]

Geht man an eine "werkgerechte Deutung" der "taz"-Kolumne, ist davon auszugehen, dass es sich um ein Gedankenexperiment handelt, nämlich um eine "Zukunft ganz ohne Polizei". Der Grundton ist also ein irrealer, da es eine Zukunft "ganz ohne Polizei" absehbar nicht geben wird. Die (irreale) Frage ist dann, was mit den nicht mehr benötigten Polzisten geschehen soll. "Die Perspektive dieser Kolumne folgt einem kenntlich zugespitzten Gedanken: dass Polizisten und Polizistinnen aufgrund etlicher interner, bekannter Skandale und Enthüllungen sowie mutmaßlich und weniger mutmaßlich rechtsradikaler Beamter in ihren Reihen nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln seien. Die Autorin wendet nun die Verdachts- und Profilingmechanik mancher Polizisten gegen die Polizei selbst. Aus den Enthüllungen über einzelne Polizisten und Sondereinheitsstrukturen strickt sie satirisch einen Generalverdacht in Bezug auf den sehr unsatirischen, sehr realen Generalverdacht, dem Migranten und manche Minderheiten oft von der Polizei unterworfen werden."[71]

Da die Polizisten insgesamt nirgendwo einsetzbar seien, da sie überall eine Gefahr darstellten, bleibe letztlich nur die Mülldeponie. Der Text schließt dann mit dem Satz, der das ganze Aufsehen erregte: "Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten." Diese Zuspitzung setzt – auch und gerade bei "werkgerechter Deutung" und aktueller zeitgeschichtlicher Einbindung – die Polizisten in ihrer Gesamtheit mit Müll gleich. Diese Gleichsetzung ist jedenfalls nicht (vergleichbar dem "Fall Böhmermann"[72]) derart übertrieben, dass jedem Leser sofort die fehlende Ernstlichkeit und das Fehlen eines ernst gemeinten Bezuges zur persönlichen Ehre von Polizisten unmittelbar erkennbar wäre und sofort klar würde, dass es sich um einen Witz oder Unsinn handle. Zwar finden sich viele Übertreibungen in der Kolumne, es handelt sich aber aus Sicht eines verständigen Lesers ("objektiver Empfängerhorizont") unter Beachtung der Begleitumstände und des Gesamtzusammenhangs nicht um eine völlig absurde Anhäufung vollkommen übertriebener, abwegiger Zuschreibungen negativer Eigenschaften und

Verhaltensweisen, sodass offensichtlich jeder Bezug zu tatsächlichen Gegebenheiten fehle und ein ernstlicher Angriff auf den personalen oder sozialen Achtungs- und Geltungsanspruch von Polizisten ausscheide.

c) Kollektivbeleidigung

Mit dem Objekt der Satire, "den Polizisten", ist allerdings ein anderes Rechtsproblem berührt, nämlich die Frage, wie das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurteilen ausgestaltet ist, ab wann eine Kollektivbeleidigung gegeben ist.

Wegweisend hierfür ist der bekannte BVerfG-Beschluss aus dem Jahr 1995[73] zur Äußerung "Soldaten sind Mörder"[74], auf dessen Grundlage das BVerfG explizit zur Verwendung des Akronyms "ACAB"[75] Stellung bezog, das ja – satirisch – auch in der "taz"-Kolumne angelegt ist: "Dabei kann eine herabsetzende Äußerung, die weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfasst, unter bestimmten Umständen auch ein Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein. Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht. Auf der imaginären Skala, deren eines Ende die individuelle Kränkung einer namentlich bezeichneten oder erkennbaren Einzelperson bildet, steht am anderen Ende die abwertende Äußerung über menschliche Eigenschaften schlechthin oder die Kritik an sozialen Einrichtungen oder Phänomenen, die nicht mehr geeignet sind, auf die persönliche Ehre des Individuums durchzuschlagen."[76]

Bei einer Kollektivbeleidigung namentlich unter Verwendung des Akronyms "ACAB" ist eine Konkretisierung in Bezug auf einzelne Personen erforderlich: Ausreichend ist das "ostentative" und "nachgerade paradierende" Zur-Schau-Stellen eines mit "A.C.A.B" bedruckten Stoffbeutels vor Polizeikräften. Daraus ergebe sich, dass sich der Beschuldigte bewusst in die Nähe der Polizeibeamten begeben und sich auf sie individualisiert bezogen habe, was für eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB ausreiche.[77]

Hingegen ist es mit Art. 5 I GG nicht vereinbar, eine allgemein gegen Angehörige einer Gruppe gerichtete Äußerung " allein deswegen als auf eine hinreichend überschaubare Personengruppe bezogen zu behandeln, weil eine solche Gruppe eine Teilgruppe des nach der allgemeineren Gattung bezeichneten Personenkreises bildet." [78]

Das negative Werturteil muss sich im konkreten Fall auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe beziehen, hierfür genügt es noch nicht, dass die die Parole wahrnehmenden Polizeikräfte eine Teilgruppe aller Polizisten und Polizistinnen bilden. So genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Personalisierung nicht der bloße Aufenthalt in einem Fußballstadion mit dem Westenaufdruck "ACAB" im Bewusstsein, dass die Polizei präsent ist, weil die Parole nicht von vornherein offensichtlich inhaltlos ist, sondern eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck bringt.[79]

Im Fall der "taz"-Kolumne ist die Ablehnung, die die Autorin den Polizeibeamten in ihrer Gesamtheit und damit der Institution insgesamt gegenüber zum Ausdruck bringt, so generell, dass keine Individualisierung ersichtlich ist. Damit sind – unabhängig davon, dass es sich um Satire handelt – die Vorgaben des BVerfG an eine Kollektivbeleidigung nicht erfüllt.

Genau darin zeigt sich der Unterschied zwischen der Äußerung, wonach Renate Künast "entsorgt" gehöre, und der Kolumne, die Polizei mit "Müll" gleichsetzt: Wird eine Person individuell angegriffen durch die Äußerung, sie gehöre "entsorgt", verstärkt durch die Bezeichnung als Müll, ist das (im konkreten Fall) "für den unbefangenen Durchschnittsleser" eine "Anspielung an die Vernichtung von Menschen während des Nationalsozialismus" und damit ein Angriff auf die Menschenwürde in dem Sinne, dass der Person die personale Würde abgesprochen, sie als unterwertiges Wesen beschrieben werden soll.[80] Wer hingegen "die Polizisten" als "Müll" bezeichnet, kritisiert (wenig geistreich) eine Institution.

IV. Fazit

Mit seinen am 19.6.2020 veröffentlichten vier "klarstellenden Beschlüssen" gibt das BVerfG dem Rechtsanwender griffige Kriterien an die Hand, mit denen sich die Grenzen der Meinungsfreiheit ausloten lassen. Zwar bewegen sich die Beschlüsse in den gewohnten Bahnen: Wenig überraschend muss der Rechtsanwender einzelfallbezogen die Umstände jeder Äußerung genau prüfen, unzulässig sind schablonenhafte Wendungen, die nicht auf die besonderen Umstände eingehen. Und doch bleibt nicht alles beim Alten, das BVerfG hat die jahrzehntelange "Vermutung zugunsten der freien Rede", auf die sich Beiträge zur öffentlichen Meinungsbildung stützen konnten, von einer juristischen Vorrangregel zu einer rhetorischen Figur ohne rechtlichen Gehalt zurückgestuft: Bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persön-

lichkeitsrecht – die häufig zulasten des Ehrschutzes ausging und dementsprechend kritisiert wurde[81] – gibt es keine "Asymmetrie" (mehr), beide Grundrechte gelten im Zweifel gleich viel. Diese neue Gewichtung ist sehr wahrscheinlich der Digitalisierung geschuldet, insbesondere der Verrohung der Kommunikation im Internet, und insgesamt zu begrüßen: Auch (und gerade) wer Beiträge zur öffentlichen Meinungsbildung beisteuert, hat in Zeiten der (vorgeblich) "sozialen" Netzwerke nicht im Zweifel Vorrang vor der Persönlichkeit der Angegriffenen. Aufgrund dieser Vorgaben müssten alle von Renate Künast monierten Äußerungen als Beleidigung gem. § 185 StGB eingestuft werden, die "taz"-Kolumne hingegen ist als unspezifische Institutionenkritik nicht strafbar.

Das höchstrichterlich neu – und zutreffend – austarierte "symmetrische Verhältnis" zwischen Art. 5 I GG und Art. 2 I GG wird sicherlich auch den Gesetzgeber leiten, wenn er das seit 1.10.2017 geltende NetzDG reformiert und entscheiden muss, ob er die Rechtsfolgen für ehrverletzende Äußerungen im Internet verschärft.


[*] Der Autor ist hauptamtlicher Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern (HföD), Fachbereich Rechtspflege.

[1] https://taz.de/Abschaffung-der-Polizei/!5689584/.

[2] https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Seehofer-zu-Gewalt-gegen-Polizei-Brauchen-harte-Hand-und-starken-Staat-id57630076.html.

[3] https://www.merkur.de/politik/horst-seehofer-stuttgart-taz-autorin-journalistin-anzeige-polizei-drohung-klage-presse-berlin-zr-13806341.html

[4] https://www.zeit.de/2020/29/cancel-culture-liberalismus-rassismus-soziale-gerechtigkeit/komplettansicht.

[5] LG Berlin, Beschluss vom 9.9.2019 – 27 AR 17/19 = MMR 2019, 754.

[6] Scharfe Kritik daran übt Sajuntz, NJW 2020, 583 (" Tiefpunkt des Äußerungsrechts", "der Verrohung des öffentlichen Diskurses Vorschub geleistet (…) in Verkennung der höchstrichterlichen Rechtsprechung").

[7] 27 AR 17/19 = MMR 2019, 754.

[8] MMR-Aktuell 2020, 424505.

[9] 10 W 13/20 = BeckRS 2020, 4264.

[10] 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652; 1 BvR 1094/19 = HRRS 2020 Nr. 653; 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654; 1 BvR 2459/19 = HRRS 2020 Nr. 655.

[11] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-049.html.

[12] LG Berlin, Beschluss vom 9.9.2019 – 27 AR 17/19 = MMR 2019, 754 Rn. 12; zum Problem, Hasskriminalität im Internet einzudämmen, vgl. Künast/Winkelmeier-Becker, DRiZ 2019, 296.

[13] https://taz.de/In-eigener-Sache/!5696448/.

[14] https://taz.de/Die-taz-die-Polizei-und-der-Muell/!5696446/.

[15] https://taz.de/Die-Achtung-der-Menschenwuerde/!5691619/.

[16] https://taz.de/taz-Debatte-ueber-Muell-Kolumne/!5690982/.

[17] https://taz.de/Verteidigung-taz-Kolumne/!5696661/.

[18] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652; BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 1094/19 = HRRS 2020 Nr. 653; BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654; BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2459/19 = HRRS 2020 Nr. 655.

[19] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652 Rn. 12, unter Verweis auf BVerfGE 54, 129, 138 f.; 61, 1, 7 f.; 93, 266, 289 ff.

[20] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 15, unter Verweis auf BVerfGE 93, 266, 295 f.; BVerfGK, Beschluss vom 29.6.2016 – 1 BvR 2732/15 = HRRS 2016 Nr. 734, Rn. 13 f.

[21] BVerfG , Beschluss vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92 u. 1 BvR 221/92 = NJW 1995, 3303.

[22] BVerfGK, Beschluss vom 28.3.2017 – 1 BvR 1384/16 = HRRS 2017 Nr. 480, Rn. 18. Sehr ähnlich formuliert ist es in BVerfG, Beschluss vom 12.05.2009 – 1 BvR 2272/04 = HRRS 2009 Nr. 507, Rn. 32, den das LG Berlin in seinem Abhilfebeschluss zitierte.

[23] Vgl. Fischer/Gärditz, StV 2018, 491, 492.

[24] https://www.zeit.de/kultur/2020-06/taz-polizei-hengameh-yaghoobifarah-satire-seehofer.

[25] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/horst-seehofer-und-die-taz-kolumne-die-anzeige-kolumne-a-5a48d344-b5d9-4f49-b638-a01f3ad1e881.

[26] https://taz.de/Die-Achtung-der-Menschenwuerde/!5691619/.

[27] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 15, unter Verweis auf BVerfGE 82, 43, 51; 85, 1, 16; 90, 241, 248; 93, 266, 293 f.; 99, 185, 196.

[28] BVerfGK, Beschluss vom 14.6.2019 – 1 BvR 2433/17 = HRRS 2019, Nr. 745.

[29] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 18 m. zahlr. Nachw.

[30] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 19.

[31] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 20.

[32] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 21.

[33] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 22 mit zahlr. Nachw.

[34] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 23.

[35] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652.

[36] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 1094/19 = HRRS 2020 Nr. 653.

[37] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 1094/19 = HRRS 2020 Nr. 653, Rn. 34.

[38] BVerfG Beschl. v. 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654.

[39] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 15, unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 212; 85, 1, 16; 93, 266, 293.

[40] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 16.

[41] BVerfG , Beschluss vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92 u. 1 BvR 221/92 = NJW 1995, 3303, unter Verweis auf BVerfGE 7, 198 (208, 212) = NJW 1958, 257 ; BVerfGE 61, 1 (11) = NJW 1983, 1415.

[42] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 16.

[43] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 16.

[44] BVerfG , Beschluss vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92 und 1 BvR 221/92 = NJW 1995, 3303.

[45] BVerfG , Beschluss vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92 und 1 BvR 221/92, Rn. 126 = NJW 1995, 3303.

[46] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 27.

[47] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 28-35.

[48] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 - 1 BvR 362/18 = HRRS 2020 Nr. 652, Rn. 18, unter Verweis auf BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16.

[49] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 28.

[50] Vgl. BVerfGE 61, 1, 8; 85, 1, 15.

[51] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 29.

[52] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 30.

[53] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2459/19 = HRRS 2020 Nr. 655.

[54] 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 30.

[55] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2459/19 = HRRS 2020 Nr. 655, Rn. 28.

[56] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2459/19 = HRRS 2020 Nr. 655, Rn. 22, unter Verweis auf BVerfGE 42, 143, 153.

[57] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 33.

[58] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 34.

[59] BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 = HRRS 2020 Nr. 654, Rn. 43.

[60] Vgl. von Becker, GRUR 2004, 908 mit weiteren Nachweisen.

[61] Vgl. Ignaz Wrobel, "Was darf die Satire?", Berliner Tageblatt vom 27.1.1919, abgedruckt in Gerold-Tucholsky/Raddatz, Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden, 1975, Band 2, S. 42ff.; zitiert nach Faßbender, NJW 2019, 705.

[62] Vgl. etwa BVerfGE 86, 1 (9) = NJW 1992, 2073 und BVerfG , N JW 2002, 3767. Auch BGH, Urteil vom 30.9.2003 – VI ZR 89/02 =NJW 2004, 596 .

[63] Vgl. etwa BVerfGE 67, 213 (226f.) = NJW 1985, 261.

[64] Grundlegend BVerfGE 7, 198 (208) = NJW 1958, 257.

[65] Vgl. Faßbender, NJW 2019, 705, 707.

[66] RGSt 62, 183.

[67] Vgl. einerseits zur Kunstfreiheit BVerfGE 75, 369, 376) = NJW 1987, 2661, und andererseits zur Meinungsfreiheit BVerfG , NJW 2002, 3767; dazu Faßbender, NJW 2019, 705 (705).

[68] BVerfG, Beschluss vom 10. 7. 2002 - 1 BvR 354/98 = NJW 2002, 3767.

[69] BVerfG , Beschluss vom 10.7.2002 – 1 BvR 354/98 = NJW 2002, 3767 mit zahlr. Nachw.

[70] Dazu Faßbender, NJW 2019, 705, 705, mit weiteren Nachweisen.

[71] https://www.zeit.de/kultur/2020-06/taz-polizei-hengameh-yaghoobifarah-satire-seehofer/seite-2.

[72] https://stamz.justiz.rlp.de/de/startseite/detail/news/News/detail/pressemeldung-staatsanwaltschaft-mainz-1/; siehe zur juristischen Kontroverse um diesen Fall: Das Gedicht für rechtmäßig haltend: Brauneck , ZUM 2016, 710, 713ff.; Thiele , https://verfassungsblog.de/erlaubte-schmaehkritik-die-verfassungsrechtliche-dimension-der-causa-jan-boehmermann/. Die Äußerung für rechtswidrig haltend: Boehme-Neßler in LTO v. 13.4.2016: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/boehmermann-erdogan-gedicht-kunst-meinungsfreiheit-strafrecht-politik-verfassung/; Fahl , NStZ 2016, 313; Hufen , Staatsrecht II, § 33 Rn. 49. Allgemein zu Satire Faßbender, NJW 2019, 705.

[73] BVerfG, Beschluss vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92 u. 1 BvR 221/92 = NJW 1995, 3303.

[74] Die Äußerung "Soldaten sind Mörder" stammt ebenfalls von Kurt Tucholsky, wiederum unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel in der Glosse "Der Kriesgsschauplatz" veröffentlicht: https://www.textlog.de/tucholsky-kriegsschauplatz.html.

[75] Zur Strafbarkeit der Verwendung des Kürzels "a.c.a.b" allgemein Geppert, NStZ 2013, 553.

[76] BVerfG, Beschluss  vom 17.5.2016  – 1 BvR 2150/14 = HRRS 2016 Nr. 630.

[77] BVerfG, Beschluss vom 13.6.2017 – 1 BvR 2832/15 = HRRS 2017 Nr. 712.

[78] BVerfG, Beschluss  vom 17.5.2016  – 1 BvR 2150/14 = HRRS 2016 Nr. 630.

[79] BVerfG, Beschluss vom 16.1.2017 – 1 BvR 1593/16 = HRRS 2017 Nr. 196.

[80] LG Berlin, Beschluss vom 21.01.2020 – 27 AR 17/19 = BeckRS 2020, 239 = MMR 2020, 351 (Ls.) , unter Verweis auf BVerfG , NJW 1987, 2261, 2262.

[81] Vgl. Faßbender, NJW 2019, 707, 708.