HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2020
21. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1105. BGH StB 23/20 – Beschluss vom 31. August 2020 (OLG Dresden)

BGHSt; Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers (Statthaftigkeit; Zulässigkeit; Beurteilungs- und Ermessensspielraum des Vorsitzenden; Vertretbarkeit; Notwendigkeit zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens; unabweisbares Bedürfnis).

§ 142 Abs. 7 S. 1 StPO; § 144 Abs. 1 StPO; § 304 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 Nr. 1 StPO

1. Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es kann die Beurteilung des Vorsitzenden, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung nicht erfordert, nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält. (BGHSt)

2. Auf der Grundlage des bis zum 13. Dezember 2019 gültigen Rechts war für die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers anerkannt, dass dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht. Es sind keine Gründe ersichtlich, die sofortige Beschwerde nach der reformierten Gesetzeslage anders zu behandeln. Im Gegenteil ergibt sich ein sachlicher Grund für die – ausnahmsweise gebotene – Einschränkung der Prüfungsbefugnis vielmehr aus dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 1 StPO als maßgeblicher Ermächtigungsgrundlage. (Bearbeiter)

3. Zentrale Voraussetzung des § 144 Abs. 1 StPO ist, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Die Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat; vielmehr muss sie zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es in diesem Zusammenhang nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne den (bzw. die beiden) weiteren Verteidiger gefährdet wäre. (Bearbeiter)

4. Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen, namentlich dann, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Das kann der Fall sein, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann. (Bearbeiter)


Entscheidung

1106. BGH StB 25/20 – Beschluss vom 18. August 2020 (OLG Frankfurt)

BGHSt; keine Beschwerderecht des Pflichtverteidigers gegen die Aufhebung seiner Bestellung (öffentliches Interesse; Gewährleistung rechtskundigen Beistands; Sicherung des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs; staatliche Indienstnahme).

§ 143a Abs. 4 StPO; § 304 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 Nr. 1 StPO; Art. 12 Abs. 1 GG

1. Einem Pflichtverteidiger steht gegen die Aufhebung seiner Bestellung kein eigenes Beschwerderecht zu. (BGHSt)

2. Der Zweck der Pflichtverteidigung, die ein Rechtsanwalt grundsätzlich übernehmen muss (§ 49 Abs. 1 BRAO), besteht – ausschließlich – darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen (§ 140 StPO) rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Die Beiordnung eines Verteidigers erfolgt demzufolge nicht in dessen, sondern allein im öffentlichen Interesse zum Schutz des Beschuldigten. Die Rücknahme der Bestellung ist daher auch kein den Verteidiger beschwerender Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG. (Bearbeiter)

3. Aus der dem Pflichtverteidiger durch die staatliche Indienstnahme zukommenden öffentlichen Funktion folgt nichts anderes, denn die Aufgabenerfüllung im öffentlichen Interesse endet mit der Aufhebung der Bestellung. Mit Blick auf seine öffentliche Funktion liegt auch keine vergleichbare Interessenlage zu einem Wahlverteidiger und dessen Beschwerderecht aus § 138d Abs. 6 Satz 1 StPO vor. Da dem Verteidiger zudem kein Anspruch auf Fortführung des Pflichtverteidigermandats zusteht, vermögen damit ggf. verbundene wirtschaftliche Interessen oder ein Rehabilitationsinteresse eine Rechtsbetroffenheit ebenfalls nicht auszulösen. (Bearbeiter)

4. Diese Grundsätze entsprechen auch dem Willen des Gesetzgebers, der Gesetzgeber in Kenntnis der bisherigen Rechtspraxis für die sofortige Beschwerde in § 143a Abs.

4 StPO n.F. an dem Erfordernis einer Beschwer festgehalten hat. (Bearbeiter)

5. Schließlich begründet auch das EU-Recht keine Beschwerdebefugnis des Pflichtverteidigers in der hiesigen Konstellation. Art. 8 der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet die Mitgliedstaaten, verdächtigen, beschuldigten und gesuchten Personen einen wirksamen Rechtsbehelf für den Fall der Verletzung ihrer Rechte aus der Richtlinie zur Verfügung zu stellen; die Schaffung besonderer Rechtsschutzmöglichkeiten für Verteidiger intendiert die Richtlinie indes nicht. (Bearbeiter)


Entscheidung

1099. BGH 5 StR 630/19 – Urteil vom 2. September 2020 (LG Berlin)

Regelmäßig keine Besorgnis der Befangenheit bei Festhalten an einer Einschätzung zum Strafrahmen nach gescheiterter Verständigung (transparente und kommunikative Verhandlungsführung; kein „Handel mit Gerechtigkeit“); keine Bindungswirkung bei gescheiterter Verständigung; kein Rechtsfehler bei Entsprechung von Urteil und gescheitertem Verständigungsvorschlag; Befangenheitsgesuch (Verspätung; Anfordern einer dienstlichen Erklärung).

§ 257c StPO; § 24 StPO; § 25 StPO

1. Der Verständigungsvorschlag des Gerichts bedeutet vor in aller Regel lediglich eine transparente vorläufige Einschätzung, welchen Strafrahmen der Angeklagte im Falle eines Geständnisses – sei es mit oder ohne Verständigung – zu erwarten hat. Dafür erfolgt eine antizipierte strafzumessungsrechtliche Bewertung des Anklagevorwurfs für den Fall der Erfüllung des erwarteten Prozessverhaltens des Angeklagten. Eine solche offene und kommunikative Verhandlungsführung, die keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt, sondern der Verfahrensförderung dient, kann eine Besorgnis der Befangenheit grundsätzlich nicht begründen.

2. Ebenso wenig kann es die Besorgnis der Befangenheit begründen, wenn ein Gericht nach dem Scheitern einer Verständigung an seinem Vorschlag festhält und dies – unabhängig vom Zeitpunkt – zum Ausdruck bringt. Vielmehr ist es nur konsequent, wenn das Gericht an seiner Einschätzung bei unveränderter Sachlage auch bei Scheitern einer Verständigung, aber Ablegung eines Geständnisses festhält. Darin äußert sich gerade, dass eine Verständigung kein „Handel mit Gerechtigkeit“, sondern nur ein transparentes Verfahren sein darf, den strafzumessungsrechtlichen Wert des Geständnisses aus Sicht des Gerichts offen zu legen und dem Angeklagten bei Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten die Sicherheit zu geben, dass sein Geständnis nur verwertet wird, wenn die Rechtsfolge im zugesagten Rahmen bleibt.

3. Kommt es mangels Zustimmung der Staatsanwaltschaft nicht zu einer Verständigung im Sinne von § 257c StPO, besteht keine Bindung des Gerichts an die vorgeschlagenen Strafober- und -untergrenzen. Eine gescheiterte Verständigung kann von vornherein weder eine Bindungswirkung noch Vertrauensschutz begründen.

4. Dass ein Urteil einem Verständigungsvorschlag des Gerichts entspricht, dem die Staatsanwaltschaft nicht zugestimmt hat, begründet für sich gesehen keinen Rechtsfehler. Allein der Umstand, dass sich die vom Gericht verhängte Strafe im Rahmen eines gescheiterten Verständigungsvorschlags hält, lässt auch nicht den Schluss zu, dass das Gericht nach Durchführung der Hauptverhandlung keine schuldangemessenen Strafen verhängt, sondern lediglich eine vorher gemachte Zusage eingehalten hat.


Entscheidung

1095. BGH 5 StR 175/20 – Beschluss vom 18. August 2020 (LG Leipzig)

Richterliche Überzeugungsbildung (Gegenstand der Hauptverhandlung; Verwertung von Erscheinung, Mimik, Gestik, Auftreten und Sprachverhalten von Angeklagten oder Zeugen bei berechtigter Aussageverweigerung; Selbstbelastungsfreiheit).

Art. 6 EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG; § 261 StPO

Das Tatgericht darf und muss bei der Überzeugungsbildung nach § 261 StPO alles verwerten, was Gegenstand der Hauptverhandlung ist. Hierzu gehören auch äußere Erscheinung, Mimik, Gestik, Auftreten und Sprachverhalten von Angeklagten, Zeugen und Mitangeklagten. Dies gilt gleichermaßen, wenn ein Angeklagter oder Zeuge die Aussage oder das Zeugnis berechtigt verweigert. Ein solcher Vorgang ist, soweit sich die wahrgenommenen Umstände offen darbieten, kein Teil einer verfahrensrechtlichen Inaugenscheinnahme.


Entscheidung

1144. BGH 1 StR 648/18 – Urteil vom 13. August 2020 (LG München II)

Grundsatz der Spezialität (keine Durchbrechung durch endgültige Freilassung bei Außervollzugsetzung eines Haftbefehls); bandenmäßiger Betrug (Begriff der Bande: Angestellter eines betrügerischen Unternehmens als Bandenmitglied); Konkurrenzen (Tateinheit bei einheitlichem Tatbeitrag im Vorbereitungsstadium zu mehreren Taten).

§ 83h IRG Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 IRG; § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 52 StGB.

1. „Endgültig freigelassen“ im Sinne des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG ist der Ausgelieferte dann, wenn ihm nach seiner Entlassung aus dem Gewahrsam des ersuchenden Staates in dem Verfahren, für das die Auslieferung bewilligt worden war, freisteht, das Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates zu verlassen und er dazu die tatsächliche Möglichkeit hat. Dies ist etwa mit der Aufhebung des gegen einen Angeklagten bestehenden Haftbefehls bei der Urteilsverkündung der Fall, da hiermit die (letzte) die Bewegungsfreiheit des Angeklagten beeinträchtigende Maßnahme aufgehoben wird. Eine „endgültige Freilassung“ liegt hingegen nicht vor, wenn der Haftbefehl gegen Auflagen, insbesondere Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt wird.

2. Auch ein bei einer betrügerischen Zwecken dienenden Firma Angestellter kann Bandenmitglied sein (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 106).


Entscheidung

1114. BGH 1 StR 86/20 – Beschluss vom 18. Juni 2020 (LG Offenburg)

Ausschluss der Öffentlichkeit (zwingender Ausschluss während der Schlussanträge bei zeitweisem Ausschluss der Öffentlichkeit während der Beweisaufnahme: Ausschluss auch während des letzten Worts des Angeklagten, keine Disposition der Verfahrensbeteiligten über den Ausschluss).

§ 171b Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 GVG

1. Gemäß § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ist die Öffentlichkeit zwingend für die Dauer der Schlussvorträge auszuschließen, wenn diese zuvor während der Beweisaufnahme nach § 171b Abs. 1 oder 2 GVG ausgeschlossen war. Unter Schlussvorträge im Sinne des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG fällt dabei auch das letzte Wort des Angeklagten.

2. Der Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG steht nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten, sondern folgt dem Ausschluss während der Beweisaufnahme zwingend nach. Anderes gilt auch nicht nach § 171b Abs. 4 GVG, wonach in dem Fall, dass die in ihren persönlichen Lebensbereichen betroffenen Personen dem Ausschluss der Öffentlichkeit widersprechen, die Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 1 oder 2 GVG nicht ausgeschlossen werden darf. Ein von diesen Personen erklärtes Einverständnis mit dem Unterbleiben des Ausschlusses der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge ist mit einem Widerspruch gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit im Sinne des § 171b Abs. 4 GVG qualitativ nicht gleichzusetzen.


Entscheidung

1064. BGH 4 StR 75/20 – Beschluss vom 8. September 2020 (LG Detmold)

Verjährungsfrist (Verjährungsbeginn beim Betrug); Unterbrechung der Verjährung (Umfang der Unterbrechungswirkung eines Durchsuchungsbeschlusses); Betrug (Verjährungsbeginn).

§ 78 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 4 StGB; § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB; § 263 StGB

1. Beim Betrug beginnt die Verjährung mit der Erlangung des letzten vom Tatvorsatz umfassten Vermögensvorteils.

2. Wenn in einem Verfahren wegen einer Vielzahl von Taten ermittelt wird, erstreckt sich die Unterbrechungswirkung einer Untersuchungshandlung grundsätzlich auf alle verfahrensgegenständlichen Taten, es sei denn der Verfolgungswille der tätig werdenden Strafverfolgungsorgane ist auf eine oder mehrere Taten beschränkt. Dementsprechend genügt für die Darstellung der Verdachtslage, dass die Taten unter zusammenfassenden kennzeichnenden Merkmalen bestimmbar sind, um sie von denkbar ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen zu unterscheiden. Ergibt sich der Verfolgungswille nicht bereits aus dem Wortlaut der Untersuchungshandlung, ist auf den Sach- und Verfahrenszusammenhang abzustellen und in Zweifelsfällen der Akteninhalt zur Auslegung heranzuziehen.


Entscheidung

1146. BGH 6 StR 115/20 – Urteil vom 26. August 2020 (LG Magdeburg)

Begriff der prozessualen Tat (Bedeutung des materiellrechtlichen Konkurrenzverhältnis); Einstellung des Verfahrens wegen Strafanklageverbrauchs (erforderliche Feststellung im Urteil); Betrug (Konkurrenzverhältnis bei mehrfachen Betrug über eine Onlineverkaufsplattform).

§ 264 StPO; § 52 StGB; § 53 StGB; § 260 Abs. 3 StPO; § 263 Abs. 1 StGB

1. Für die Identität eines Lebenssachverhalts im Sinne einer prozessualen Tat ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das materiellrechtliche Konkurrenzverhältnis der Einzeltaten zueinander bedeutsam. Tateinheit gemäß § 52 StGB wird in aller Regel zur Annahme einer einheitlichen Tat im prozessualen Sinne führen (vgl. BGH NStZ 2020, 235, 236), während im Falle sachlichrechtlicher Tatmehrheit mehrere Taten im prozessualen Sinne naheliegen werden (vgl. BGHSt 64, 1, 7). Dabei sind aber die Besonderheiten der abgeurteilten Delikte ebenso in den Blick zu nehmen wie der Umstand, dass bei einem weiten Verständnis des prozessualen Tatbegriffs die Kognitionspflicht des zuerst entscheidenden Tatgerichts ausgedehnt und damit dessen Leistungsfähigkeit möglicherweise überschritten wird.

2. Für die Beurteilung der materiellrechtlichen Lage ist beim Betrug über Onlineverkaufsplattformen – wie auch sonst – zunächst entscheidend, ob der Angeklagte eine oder mehrere (Täuschungs-)Handlungen begangen hat. Eine Handlung im natürlichen Sinn liegt vor, wenn die Plattform gleich einem „Webshop“ die Möglichkeit vorsieht, dass mehrere Kunden einen einmalig eingestellten Artikel bestellen können. Eine Verknüpfung mehrerer Handlungen im natürlichen Sinn zur Handlungseinheit kommt in Betracht, wenn entweder die Gegenstände in einem engen zeitlichen Zusammenhang und aufgrund eines einheitlichen Entschlusses eingestellt wurden oder eine Überschneidung der Täuschungshandlungen vorliegt (vgl. dazu BGH wistra 2017, 484, 485). Dabei können auch die Umstände des Vertragsschlusses maßgeblich sein, insbesondere wenn dieser aufgrund der Art des Angebots erst durch Annahme des Verkäufers zustande kommt. Sofern das Tatgericht hierzu allerdings keine näheren Feststellungen treffen kann, ist unter Heranziehung des Zweifelssatzes von einer prozessualen Tat und damit von Strafklageverbrauch auszugehen (vgl. BGH NStZ-RR 2019, 259, 260).

3. Stellt das Tatgericht das Verfahren durch Urteil wegen eines Verfahrenshindernisses ein, hat es ausgehend von der zugelassenen Anklage anzugeben, aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen die Durchführung des Strafverfahrens unzulässig ist. Der Umfang der Darlegungen richtet sich dabei nach den besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls, insbesondere der Eigenart des Verfahrenshindernisses. Hängt dessen Vorliegen von der strafrechtlichen Würdigung der Sache ab, erfordert die abschließende Beurteilung der Frage, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt, entsprechende Feststellungen (vgl. BGH NStZ 2020, 235).

4. Eine solche vom Tatgericht im Strengbeweis festzustellende Sachverhaltsgrundlage ist

ebenfalls notwendig, wenn es von einem Strafklageverbrauch ausgehen möchte. Denn ob eine nach Art. 103 Abs. 3 GG verbotene Doppelbestrafung vorliegt, kann nicht nach Aktenlage geklärt werden, sondern hängt von den tatsächlichen Umständen der in der Anklage bezeichneten Tat ab. Das Tatgericht muss daher Feststellungen zu dieser treffen, sie in den Urteilsgründen darlegen und auf deren Grundlage eine konkurrenzrechtliche Bewertung des Verhaltens des Angeklagten vornehmen.


Entscheidung

1082. BGH 3 StR 194/20 – Beschluss vom 5. August 2020 (LG Mainz)

Entscheidung über die Eröffnung bei verbundenen Strafsachen (Entscheidung über jede einzelne Anklage; Eröffnungsbeschluss; andere Urkunden oder Aktenbestandteile; Haftbefehl).

§ 203 StPO

1. Aus Gründen der Rechtsklarheit ist bei verbundenen Strafsachen grundsätzlich ausdrücklich schriftlich über die Eröffnung hinsichtlich jeder einzelnen Anklage zu entscheiden; der Verbindungsbeschluss allein bewirkt die Eröffnung in der Regel auch dann nicht, wenn das führende Verfahren bereits eröffnet ist oder später eröffnet wird. Zur Eröffnung des Hauptverfahrens genügt jedoch die schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen.

2. In Fällen, in denen das den Eröffnungsbeschluss enthaltende Schriftstück diesen Willen nicht sicher erkennen lässt, kann aus anderen Urkunden oder Aktenbestandteilen eindeutig hervorgehen, dass die zuständigen Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens tatsächlich beschlossen haben. Zu solchen Urkunden zählt gegebenenfalls ein Haftbefehl


Entscheidung

1077. BGH 4 StR 603/19 – Urteil vom 30. Juli 2020 (LG Bochum)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit: freisprechendes Urteil; Gesamtwürdigung einzelner Belastungsindizien; Berücksichtigung lediglich denkbarer, für den Angeklagten günstiger Annahmen).

§ 261 StPO; § 337 StPO

1. Einzelne Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, können doch in ihrer Gesamtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatgerichts begründen.

2. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten der Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.


Entscheidung

1048. BGH 2 StR 288/19 – Urteil vom 15. Juli 2020 (LG Neubrandenburg)

Revisionsbegründung (Revisionsbeschränkung: Wirksamkeitsvoraussetzungen, ausnahmsweises Entfallen der Bindung des Revisionsgerichts an die Rechtsmittelbeschränkung); Grundsätze der Strafzumessung (Berücksichtigung nachteiliger Folgen der Tat zugunsten des Täters; Berücksichtigung von Vorverurteilungen).

§ 344 Abs. 1 StPO; § 46 StGB; § 60 StGB

1. Mit der Möglichkeit der Beschränkung des Rechtsmittels (§ 344 Abs. 1 StPO) hat der Gesetzgeber dem Rechtsmittelberechtigten eine prozessuale Gestaltungsmacht eingeräumt, deren Ausübung im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren ist. Das Rechtsmittelgericht kann und darf deshalb grundsätzlich diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird.

2. Eine Revisionsbeschränkung ist wirksam, wenn sie sich auf Beschwerdepunkte bezieht, die nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von seinem nicht angegriffenen Teil rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können, ohne eine Prüfung des Urteils im Übrigen erforderlich zu machen, und wenn die infolge des Teilrechtsmittels stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt.

3. Die Beschränkbarkeit und die Bindung des Revisionsgerichts an die Rechtsmittelbeschränkung entfallen nur dann, wenn die dem Schuldspruch im angefochtenen Urteil zugrundeliegenden Feststellungen tatsächlicher und rechtlicher Art unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen oder unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat.

4. Hingegen steht nicht jeder Fehler im nicht angefochtenen Teil der erstinstanzlichen Entscheidung der Wirksamkeit einer Beschränkung entgegen; insbesondere lässt allein die fehlerhafte Rechtsanwendung beim Schuldspruch eine Revisionsbeschränkung nicht unwirksam werden.

5. Nachteilige Folgen der Tat, die den Täter treffen, können zwar – wie sich schon aus der gesetzgeberischen Wertung in § 60 StGB ergibt – strafmildernde Wirkung entfalten. Dies gilt aber nur mit Einschränkungen. Wer bei seiner Tat bestimmte Nachteile für sich selbst zwar nicht gewollt, aber bewusst auf sich genommen hat, verdient in der Regel keine strafmildernde Berücksichtigung.

6. Es ist grundsätzlich verfehlt, ein geringes Maß an Vorverurteilungen strafmildernd in die Strafzumessung einzustellen. Nur die Unbestraftheit eines Täters kann strafmildernd berücksichtigt werden, wohingegen Vorverurteilungen zu Lasten des Täters wirken.


Entscheidung

1040. BGH 2 StR 7/20 – Beschluss vom 19. Mai 2020 (LG Gera)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Darlegungsanforderungen in Fällen von „Aussage-gegen-Aussage“; Abweichen des Tatrichters vom Sachverständigengutachten).

§ 261 StPO

1. In Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht, hat der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat. Erforderlich sind vor allem eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben.

2. Weicht der Tatrichter mit seiner Beurteilung von einem Sachverständigengutachten ab, muss er sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen und seine Auffassung tragfähig sowie nachvollziehbar begründen, um zu belegen, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen.


Entscheidung

1060. BGH 4 StR 185/20 – Beschluss vom 25. August 2020 (LG Dortmund)

Konkurrenzen (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln); Zweifelssatz (Anwendung im Betäubungsmittelstrafrecht).

§ 29 BtMG; § 29a BtMG

1. Nach dem Zweifelsgrundsatz ist bei unsicherer Erkenntnislage von der für den Angeklagten günstigsten Variante auszugehen, sofern es dafür tatsächliche Anhaltspunkte gibt.

2. Besitzt der Täter Betäubungsmittel teils zur gewinnbringenden Weiterveräußerung und teils zu anderen Zwecken, geht der Besitz an der zum Handel bestimmten Betäubungsmittelmenge im Handeltreiben mit Betäubungsmitteln auf. Nur für die anderen Zwecken dienende Menge verbleibt es bei der Strafbarkeit wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Für die Bestimmung des Schuldumfangs kommt es daher auf die den jeweiligen Tatbeständen zugeordneten Teilmengen und den darin enthaltenen Wirkstoffanteil und nicht auf die Gesamtmenge an.


Entscheidung

1073. BGH 4 StR 518/19 – Beschluss vom 30. Juli 2020 (LG Essen)

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung (Ausschluss des Nachtragsverfahrens).

§ 460 StPO

Ein Nachtragsverfahren gemäß § 460 StPO ist erst dann ausgeschlossen, wenn sämtliche Strafen, die für eine Gesamtstrafenbildung in Betracht gekommen wären, vollständig vollstreckt, verjährt oder erlassen sind.