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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2020
21. Jahrgang
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1. Die Feststellung, dass die unbefugte Entnahme von Lebensmitteln aus einem in der Lieferzone eines Supermarktes zur entgeltlichen Abholung bereitgestellten, verschlossenen Abfallcontainer (sogenanntes Containern) als Wegnahme fremder beweglicher Sachen zu bewerten ist, obliegt den Fachgerichten und ist im Einzelfall verfassungsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie die Annahme, dass der Supermarktbetreiber weder sein Eigentum an den Lebensmitteln aufgegeben noch ein Übereignungsangebot an beliebige Dritte abgegeben hat.
2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und insbesondere das Ultima-Ratio-Prinzip gebieten keine Einschränkung der Strafbarkeit eines Diebstahls für die Fallgruppe des „Containerns“. Das im Gesetzeswortlaut angelegte und durch die Fachgerichte konkretisierte Normverständnis, wonach § 242 StGB das zivilrechtsakzessorisch zu ermittelnde Eigentum an beweglichen Sachen unabhängig von dessen konkretem wirtschaftlichem Wert schützt, steht im Einklang mit der Verfassung.
3. Das Interesse des Supermarktbetreibers, nicht mehr verkäufliche Lebensmittel der Vernichtung durch einen Abfallentsorger zuführen, um etwaige Haftungsrisiken beim Verzehr der möglicherweise verdorbenen Ware auszuschließen, ist im Rahmen der Eigentumsfreiheit grundsätzlich zu akzeptieren, soweit der Gesetzgeber die Verfügungsbefugnis des Eigentümers nicht durch eine gegenläufige, verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung eingegrenzt hat. Geschützt wird insoweit nicht lediglich eine rein formale, inhaltsleere Eigentumsposition, sondern ein legitimes Verfügungs- und Ausschlussinteresse am betroffenen Privateigentum.
4. Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Absehen von der Verfolgung des Besitzes nur geringer Mengen von Cannabis zum gelegentlichen Eigenkonsum und ohne Fremdgefährdung ; denn anders als dort greift das „Containern“ in die verfassungsrechtlich geschützte Verfügungsbefugnis eines anderen, konkret betroffenen Grundrechtsträgers ein. Im Übrigen kann der geringen Schuld des Täters im Einzelfall etwa durch ein Absehen von Strafe Rechnung getragen werden.
1. Aus dem aus der Pressefreiheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz herzuleitenden Recht von Medienvertretern auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb ergibt sich auch ein Recht auf gleichberechtigte reelle Teilhabe an den Berichterstattungsmöglichkeiten über gerichtliche Verfahren.
2. Dieses Recht kann im Einzelfall verletzt sein, wenn den für ein Strafverfahren wegen Taten im Syrien-Konflikt akkreditierten, der deutschen Sprache nicht mächtigen syrischen Journalisten aufgrund einer pandemiebedingten sitzungspolizeilichen Abstandsregelung die sonst übliche, selbst gestellte Übersetzung durch sogenannte Flüsterdolmetscher untersagt und ihnen zugleich auch kein Zugang zur gerichtlich bereitgestellten Simultanübersetzung in die arabische Sprache eröffnet wird.
3. Die Entscheidung über den Zugang zu Gerichtsverhandlungen, die Verteilung knapper Sitzplätze, die Reservierung einer bestimmten Anzahl von Plätzen für Medienvertreter, die Zulassung von Arbeitsgeräten und anderen Hilfsmitteln und die Festlegung infektionsschützender Maßnahmen im Gerichtssaal obliegt der – verfassungsgerichtlich grundsätzlich nur eingeschränkt überprüfbaren – Prozessleitung des Vorsitzenden, dem dabei ein weiter Entscheidungsspielraum zusteht.
4. Allerdings hat der Vorsitzende im Rahmen seines Ermessens die tatsächliche Situation akkreditierter Medienvertreter hinreichend zu berücksichtigen; hierzu zählt auch das Vorhandensein von Sprachkenntnissen bei ausländischen Journalisten und damit deren reelle Möglichkeit, das Verfahren zu verfolgen und aus dem Inbegriff der Verhandlung darüber zu berichten.
5. Das besondere Interesse der zugelassenen syrischen Medienvertreter an der unmittelbaren Verfolgung des Prozessgeschehens überwiegt im konkreten Fall angesichts des geographischen und politischen Hintergrundes der Taten und des hohen Informationsbedürfnisses der syrischen Bevölkerung einerseits sowie des zu keiner Zeit ausgeschöpften Sitzplatzkontingents und der nur geringen Präsenz anderer ausländischer Medien andererseits das Interesse an der strikten Einhaltung des Gleichheitsgebots sowie des angeordneten Mindestabstandes, zumal das Infektionsrisiko auch durch andere Maßnahmen vertretbar eingehegt werden kann.
1. Der Verdacht der versuchten gefährlichen Körperverletzung wegen Flaschenwürfen eines Demonstrationsteilnehmers auf Polizeibeamte wiegt nur wenig schwer, wenn das Gericht zwar eine optische Ähnlichkeit des Beschuldigten mit dem auf Videoaufnahmen abgebildeten Täter feststellen konnte, sich jedoch zur Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens veranlasst gesehen hat, das nach einem jedenfalls den methodischen Mindeststandards genügenden Bildvergleich zu dem Ergebnis gelangt ist, eine Nichtidentität sei sehr wahrscheinlich.
2. Im Hinblick auf das Fehlen eines gesicherten Stands der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten ist es zwar vertretbar, ein derartiges Gutachten als weniger geeignet als eine Durchsuchung nach Beweisgegenständen wie etwa der Täterkleidung anzusehen. Allerdings ist es im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, wenn der Auffindeverdacht nur gering ist, weil die Tat bereits mehrere Jahre zurück liegt und der anwaltlich vertretene Beschuldigte seit langem Kenntnis von dem Verfahren hat.
3. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.
4. Eine Durchsuchung ist unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des im jeweiligen Verfahrensabschnitt bestehenden Tatverdachts steht.
1. Eine Durchsuchungsanordnung wird ihrer Begrenzungsfunktion nicht gerecht, wenn sie die dem beschuldigten Rechtsanwalt vorgeworfene Geltendmachung unberechtigter Forderungen im Auftrag eines Inkassounternehmens im Hinblick auf den Tatzeitraum, die Anzahl der Taten und den Gegenstand entsprechender Abmahnungen nicht näher eingrenzt und die Suche nach einer unbestimmten Vielzahl denkbarer Unterlagen gestattet.
2. Um den mit einer Durchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte räumliche Privatsphäre des Einzelnen messbar und kontrollierbar zu gestalten, muss der Durchsuchungsbeschluss den Tatvorwurf und die konkreten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen für die Durchsuchung abgesteckt wird. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.
1. Die Annahme eines Anfangsverdachts der Sachbeschädigung durch Anbringen eines Graffiti-Schriftzuges stellt sich als willkürlich dar, wenn sie lediglich auf eine allgemeine, auf eine Vielzahl von Personen zutreffende Täterbeschreibung sowie darauf gestützt ist, dass gegen die Beschuldigte in der Vergangenheit bereits ein Strafverfahren wegen eines gleichgelagerten Vorwurfs geführt wurde, das jedoch ohne gerichtliche Schuldfeststellung nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt wurde.
2. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.
1. Die Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte, im Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen. Dem wird es nicht gerecht, wenn eine Strafvollstreckungskammer die im Eilverfahren begehrte Fortschreibung des Vollzugsplans und die Entlassung des Gefangenen aus dem Strafvollzug abwartet und eine Entscheidung erst nach Ablauf von über eineinhalb Jahren und zusammen mit der Hauptsacheentscheidung trifft.
2. Aus der verfassungsrechtlich garantierten Rechtsschutzgleichheit folgt, dass Prozesskostenhilfe nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg der Rechtsverfolgung zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber lediglich eine entfernte ist. Dem wird die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags eines Strafgefangenen für ein Eilverfahren nach dem Strafvollzugsgesetz nicht gerecht, wenn die Strafvollstreckungskammer auf mangelnde Erfolgsaussichten in der Sache abstellt,
zugleich jedoch wegen nicht abschließender Klärbarkeit des Verfahrensausgangs die Verfahrenskosten der Staatskasse auferlegt.
1. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass unter besonderen Umständen der auch aus dem Grundrecht auf Informationsfreiheit herzuleitende Zugangsanspruch der Allgemeinheit zu gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit einschließt, sich als der deutschen Sprache nicht mächtiger Prozessbeobachter das öffentliche Prozessgeschehen im Gerichtssaal durch einen sogenannten Flüsterdolmetscher zu erschließen.
2. Das Informationsinteresse wiegt bei Privatpersonen oder Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, denen aufgrund einer pandemiebedingten sitzungspolizeilichen Abstandsregelung die Heranziehung von Flüsterdolmetschern untersagt wird, jedoch deutlich weniger schwer als bei Medienvertretern, die über das Verfahren berichten und so den Informationsinteressen und -ansprüchen der Öffentlichkeit Rechnung tragen wollen (Abgrenzung zu BVerfG, Beschluss vom 18. August 2020 – 1 BvR 1918/20).
Die Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte, im Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen. Dem wird es nicht gerecht, wenn eine Strafvollstreckungskammer den Eilantrag eines Strafgefangenen betreffend Sonderausgang für mehrere Gerichtstermine erst nach Ablauf mehrerer Monate und zusammen mit der Hauptsacheentscheidung bescheidet.
Die Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte, im Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen. Dem wird es nicht gerecht, wenn eine Strafvollstreckungskammer die Eilanträge eines Strafgefangenen zunächst nicht bescheidet, sondern dessen Entlassung aus dem Strafvollzug abwartet und eine Entscheidung erst nach Ablauf mehrerer Jahre und zusammen mit der jeweiligen Hauptsacheentscheidung trifft.
1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Fortdauer der Auslieferungshaft genügt nicht den Begründungsanforderungen, wenn sie sich nicht mit den Erwägungen in dem angegriffenen Beschluss auseinandersetzt, wonach die Auswirkungen der weltweiten Corona-Pandemie nicht in den Verantwortungsbereich der beteiligten Staaten fallen und wonach etwaige Quarantänebestimmungen einer zeitnahen Auslieferung voraussichtlich nicht entgegen stehen.
2. Die Auslieferungshaft unterliegt von Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Ab einer gewissen, für die verfahrensmäßige und technische Abwicklung unabdingbaren Mindestdauer bedarf es besonderer, das Auslieferungsverfahren selbst betreffender Gründe, um die Fortdauer der Auslieferungshaft zu rechtfertigen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt deren Dauer Grenzen.
3. Der Grundrechtsschutz ist auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Haft aktuelle Ausführungen zum (weiteren) Vorliegen ihrer rechtlichen Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. Dies dient neben der Überprüfbarkeit für den Betroffenen auch der Eigenkontrolle durch das Fachgericht.
4. Die Vollmacht zur Vertretung im Verfassungsbeschwerdeverfahren muss sich ausdrücklich auf das konkrete Verfahren oder den angegriffenen Beschluss beziehen.
1. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie verkennt, dass der von einem Sicherungsverwahrten geltend gemachte Auskunftsanspruch über ihn selbst betreffende personenbezogene Daten der Verwirklichung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dient, so dass die Versagung der begehrten Auskunft eine Maßnahme nach § 109 Abs. 1 StVollzG darstellt.
2. Hat die Strafvollstreckungskammer in einer mit der Rechtsschutzgarantie unvereinbaren Weise eine Maßnahme nach § 109 Abs. 1 StVollzG verneint, so ist die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen; anderenfalls verstößt das Rechtsbeschwerdegericht seinerseits gegen Art. 19 Abs. 4 GG.