HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2018
19. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

606. EuGH C-216/18 PPU – Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 25. Juli 2018 (LM)

Eilvorabentscheidungsverfahren; Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens; Europäischer Haftbefehl (Vollstreckungsvoraussetzungen und mögliches Rechtsstaatsverfahren gegen Anordnungsstaat, hier insbesondere bei Zweifeln betreffend Wahrung des Rechts auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht und des fair trial Grundsatzes).

Art. 2 EUV; Art. 3 EUV; Art. 6 EUV; Art. 7 EUV; Art. 19 EUV; Art. 267 AEUV; Art. 47 GRC; Art. 48 GRC; Art. 6 EMRK; Art. 1 Abs. 2 und 3 RBEuHB; Art. 3 RBEuHB; Art. 4 RBEuHB; Art. 4a RBEuHB; Art. 5 RBEuHB; Art. 7 RBEuHB; Art. 15 RBEuHB; Section 37/1) Irish European Arrest Warrant Act 2003; COM(2017) 835 final; Art. 107 EuGH-Verfahrensordnung

1. Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Europäischen Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder

allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. (EuGH)

2. Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden. (Bearbeiter)

3. Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. (Bearbeiter)

4. Der RBEuHB ist darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus. (Bearbeiter)

5. Nach Art. 1 Abs. 2 RBEuHB, in dem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zur Anwendung kommt, können die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend aufgezählten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung verweigern. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist. (Bearbeiter)

6. Gleichwohl sind unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich. Dies beruht auf Art. 1 Abs. 3 RBEuHB, nach dem dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in den Art. 2 und 6 EUV niedergelegt sind, zu achten. Damit kommt eine solche Beschränkung in Betracht, wenn eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts der betroffenen Person auf ein unabhängiges Gericht und damit ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 GRC besteht. (Bearbeiter)

7. Das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit gehört zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren. Dieses wiederum ist Garant der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und der in Art. 2 EUV genannten Werte, u.a. dem der Rechtsstaatlichkeit. Es ist von grundlegender Bedeutung für einen dem Rechtsstaat inhärenten wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Ebenso grundlegend ist es für das System der justiziellen Zusammenarbeit und damit auch im Rahmen des Europäischen Haftbefehls von größter Wichtigkeit. (Bearbeiter)

8. Das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, gründet sich auf die Prämisse, dass die Strafgerichte der übrigen Mitgliedstaaten den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen, zu denen u.a. gehört, dass sie unabhängig und unparteiisch sind. Daraus ergibt sich, dass es bei einer echten Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 GRC der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein kann, ausnahmsweise dem betreffenden Europäischen Haftbefehl nicht Folge zu leisten. (Bearbeiter)

9. Im Rahmen der dafür erforderlichen Beurteilung muss die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger und genauer Angaben über das Funktionieren des Justizsystems im Ausstellungsmitgliedstaat beurteilen, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedsstaates aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Staat zusammenhängt. Dabei stellen Informationen in einem begründeten Vorschlag der Kommission auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 1 EUV besonders relevante Angaben dar. (Bearbeiter)

10. Die zu diesem Grundrecht gehörende richterliche Unabhängigkeit umfasst einen das Außenverhältnis und einen das Innenverhältnis betreffenden Aspekt. Der erste Aspekt setzt voraus, dass die Einrichtungen völlig autonom und frei von hierarchischer Eingliederung oder Unterordnung, mithin frei von sämtlichen äußeren Einflüssen wie Interventionen oder Druck sind. Der zweite setzt voraus, dass den Parteien des Rechtsstreits mit gleichem Abstand begegnet wird, die Sachlichkeit obwaltet und dass neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht. Beide Aspekte erfordern, dass bezüglich der Zusammen-

setzung der Einrichtung, bezüglich der Ernennung, Amtsdauer und Abberufung der Mitglieder und bezüglich Disziplinarmaßnahmen ausdrückliche Gesetzesbestimmungen bestehen. (Bearbeiter)

11. Ist eine mit mangelnder richterlicher Unabhängigkeit aufgrund systematischer oder allgemeiner Mängel der Justiz zusammenhängende echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren festgestellt, hat die vollstreckende Justizbehörde in einem zweiten Schritt konkret zu prüfen, ob es ernste und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt wird. Dies gilt selbst dann, wenn die Kommission einen begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommen hat und die vollstreckende Justizbehörde deshalb der Ansicht ist, es beständen im betreffenden Mitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel auf Ebene der Justiz. Dies ergibt sich aus dem zehnten Erwägungsgrund des RBEuHB, der vorgibt, dass der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nur dann ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und vom Europäischen Rat nach Art. 7 Abs. 2 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EUV festgestellt wurde. (Bearbeiter)

12. Im Rahmen einer solchen konkreten Prüfung muss die vollstreckende Justizbehörde u.a. untersuchen, ob und inwieweit sich die systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auf der Ebene der für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständigen Gerichte des Staates auswirken können. Ist dies der Fall, ist weiter zu beurteilen, ob die betroffene Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt wird. Dafür muss die vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 RBEuHB auch die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für die Beurteilung notwendig hält. (Bearbeiter)

13. Ergibt nach Feststellung der systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auch diese zweite Prüfung, dass eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren auch konkret für die betroffene Person nicht ausgeschlossen werden kann, muss die vollstreckende Justizbehörde davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten. (Bearbeiter)


Entscheidung

607. EuGH C-220/18 – Urteil des EuGH (Erste Kammer) vom 25. Juli 2018 (ML)

Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten; Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, hier im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen; Europäischer Haftbefehl (Vollstreckungsvoraussetzungen; Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung, hier insbes. Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat; Umfang der Prüfung durch die vollstreckenden Justizbehörden; Bestehen von Rechtsschutzmöglichkeiten im Ausstellungsmitgliedstaat; Zusicherungen; Aranyosi II).

Art. 1 Abs. 3 RBEuHB; Art. 5 RBEuHB; Art. 6 Abs. 1 RBEuHB; Art. 7 RBEuHB; Art. 15 RBEuHB; Art. 17 RBEuHB (Rahmenbeschluss 2002/584/JI); Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 4 GRC; Art. 47 GRC; Art. 51 GRC; Art. 52 GRC; Art. 3 EMRK; § 73 IRG

1. Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass, wenn die vollstreckende Justizbehörde über Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, deren Richtigkeit das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher verfügbarer aktualisierter Angaben zu überprüfen hat, - die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer echten Gefahr, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erfährt, nicht allein aus dem Grund ausschließen kann, dass dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht, die es ihr ermöglicht, ihre Haftbedingungen in Frage zu stellen, wenngleich diese Behörde das Bestehen einer solchen Rechtsschutzmöglichkeit bei der Entscheidung über die Übergabe der betroffenen Person berücksichtigen kann; - die vollstreckende Justizbehörde nur die Haftbedingungen in den Haftanstalten prüfen muss, in denen die genannte Person nach den dieser Behörde vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, inhaftiert sein wird; - die vollstreckende Justizbehörde dazu nur die konkreten und genauen Haftbedingungen der betroffenen Person prüfen muss, die relevant sind, um zu bestimmen, ob diese einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird; - die vollstreckende Justizbehörde Informationen berücksichtigen kann, die von anderen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats als der ausstellenden Justizbehörde erteilt worden sind, wie namentlich die Zusicherung, dass die betroffene Person keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird. (EUGH)

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2. Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mit-

gliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. (Bearbeiter)

3. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich. (Bearbeiter)

4. Die vollstreckende Justizbehörde kann unter bestimmten Umständen das mit dem RBEuHB eingerichtete Übergabeverfahren beenden, wenn die Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne von Art. 4 GRC führt. (Bearbeiter)

5. Um die Beachtung von Art. 4 GRC im konkreten Fall einer Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, sicherzustellen, ist die vollstreckende Justizbehörde, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen solcher Mängel verfügt, verpflichtet, konkret und genau zu beurteilen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Anschluss an ihre Übergabe an diesen Mitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert sein wird, einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein wird. (Bearbeiter)

6. Zu diesem Zweck muss die genannte Behörde nach Art. 15 Abs. 2 RBEuHB des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Die ausstellende Justizbehörde ist verpflichtet, der vollstreckenden Justizbehörde diese Informationen zu erteilen. (Bearbeiter)

7. Die Prüfung der Vollstreckungsbehörden kann sich in Anbetracht ihrer Konkretheit und Genauigkeit nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaates beziehen, in denen die betroffene Person inhaftiert werden könnte. (Bearbeiter)

8. Die Möglichkeit, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen zu bitten, wenn sie der Ansicht sind, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, ist als letztes Mittel allein für die Ausnahmefälle gedacht. Daher kann nicht systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den Haftanstalten ersucht werden, in denen eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, inhaftiert werden könnte. (Bearbeiter)

9. Die Vereinbarkeit der Haftbedingungen in anderen Haftanstalten, in denen die genannte Person gegebenenfalls später inhaftiert werden könnte, mit den Grundrechten fällt in die alleinige Zuständigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats. (Bearbeiter)

10. In Ermangelung unionsrechtlicher Mindestvorschriften über die Haftbedingungen sind die Maßstäbe des Art. 3 EMRK zu beachten, wonach den Behörden des Staates, in dessen Hoheitsgebiet eine Person inhaftiert ist, eine positive Verpflichtung auferlegt, sich zu vergewissern, dass jeder Häftling unter Bedingungen untergebracht ist, die die Wahrung der Menschenwürde gewährleisten, dass die Modalitäten der Durchführung der Maßnahme den Betroffenen keiner Bürde oder Last aussetzen, deren Intensität über das dem Freiheitsentzug unvermeidlich innewohnende Maß des Leidens hinausgeht, und dass nach Maßgabe der praktischen Erfordernisse der Inhaftierung Gesundheit und Wohlergehen des Häftlings in angemessener Weise sichergestellt werden. (Bearbeiter)

11. In Anbetracht der Bedeutung des Raumfaktors bei der Gesamtbeurteilung von Haftbedingungen begründet der Umstand, dass der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende persönliche Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m² liegt, eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Diese starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m2 handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht und drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind. (Bearbeiter)

12. Die zeitliche Begrenztheit bzw. der Übergangscharakter einer Inhaftierung unter unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen ist für sich genommen nicht geeignet, jegliche echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta auszuschließen. (Bearbeiter)

13. Ein zu ausführliches Informationsersuchen, das dazu führt, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls lahmgelegt wird, ist mit der in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit, die den Dialog zwischen den vollstreckenden Justizbehörden und den ausstellenden Justizbehörden u. a. im Rahmen der Erteilung von Informationen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 RBEuHB leiten muss, nicht vereinbar. (Bearbeiter)

14. Die von den zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats erteilte Zusicherung, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung

aufgrund ihrer konkreten und genauen Haftbedingungen erfahren werde, ist ein Aspekt, den die vollstreckende Justizbehörde nicht ignorieren darf. (Bearbeiter)

15. Hat die ausstellende Justizbehörde diese Zusicherung erteilt oder zumindest gebilligt, nachdem sie erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersucht hat, muss sich die vollstreckende Justizbehörde in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruht, auf diese Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 der Charta verstoßen. (Bearbeiter)

16. Ergeht die Zusicherung nicht durch eine Justizbehörde, sondern durch ein Justizministerium, ist sie durch eine Gesamtbeurteilung aller der vollstreckenden Justizbehörde zur Verfügung stehenden Informationen zu würdigen. (Bearbeiter)


Entscheidung

608. EuGH C-268/17 – Urteil des EuGH (Fünfte Kammer) vom 25. Juli 2018 (AY)

Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; Europäischer Haftbefehl (Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung: Doppelverfolgungsverbot [ne bis in idem] bei Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens im Vollstreckungsmitgliedstaat; gesuchte Person [Verfolgter], die in einem vollstreckungsmitgliedsstaatlichen Verfahren lediglich als Zeugen geführt wurde; Ausstellung mehrerer Europäischer Haftbefehle gegen dieselbe Person); Eilvorabentscheidungsverfahren (Ablehnung, aber vorrangige Behandlung; Vorlage durch ein Gericht des Ausstellungsmitgliedsstaates zur Klärung der Verpflichtungen des Vollstreckungsmitgliedsstaates).

Art. 1 Abs. 2 RBEuHB; Art. 3 Nr. 2 RBEuHB; Art. 4 Nr. 3 RBEuHB; Art. 15 Abs. 1 RBEuHB; Art. 17 Abs. 1 und 6 RBEuHB; Art. 107 EuGH-Verfahrensordnung; Art. 53 Abs. 1 EuGH-Verfahrensordnung

1. Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zum Erlass einer Entscheidung über jeden ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl verpflichtet ist, auch wenn in diesem Mitgliedstaat bereits über einen früheren Europäischen Haftbefehl gegen dieselbe Person und zu derselben Handlung entschieden wurde, der zweite Europäische Haftbefehl aber lediglich aufgrund der Anklageerhebung gegen die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat erlassen wurde. (EuGH)

2. Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung der zentralen ungarischen Ermittlungsbehörde, mit der ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingestellt wurde, in dessen Verlauf die Person, die Gegenstand eines Europäischen Haftbefehls ist, lediglich als Zeuge befragt wurde, ohne dass gegen diese Person strafrechtliche Ermittlungen geführt worden wären oder diese Entscheidung ihr gegenüber getroffen worden wäre, nicht angeführt werden kann, um die Vollstreckung des betreffenden Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage einer dieser beiden Bestimmungen abzulehnen. (EuGH)

3. Die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass sich die Vorlagefragen auf die Verpflichtungen der vollstreckenden Justizbehörde beziehen, während das vorlegende Gericht die ausstellende Justizbehörde des Europäischen Haftbefehls ist. Bei einem Verfahren im Zusammenhang mit einem Europäischen Haftbefehl ist in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich. Um die Gewährleistung dieser Rechte – die eine Justizbehörde dazu veranlassen kann, eine Entscheidung über die Rücknahme eines von ihr ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu treffen – sicherzustellen, muss eine solche Behörde über die Möglichkeit verfügen, den Gerichtshof mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung zu befassen. (Bearbeiter)

4. Das unionsrechtliche Doppelverfolgungsverbot (ne bis in idem) erstreckt sich nicht auf Personen, die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens lediglich befragt wurden, wie etwa Zeugen. (Bearbeiter)

5. Eine Auslegung, nach der die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage des zweiten in Art. 4 Nr. 3 RBEuHB genannten Grundes dann abgelehnt werden könnte, wenn sich der betreffende Haftbefehl auf eine Handlung bezieht, die identisch ist mit einer Handlung, die bereits Gegenstand einer älteren Entscheidung war, ohne dass es auf die Identität der Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, ankäme, wäre offensichtlich zu weit und brächte die Gefahr einer Umgehung der Verpflichtung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit sich. (Bearbeiter)


Entscheidung

616. BVerfG 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Juni 2018 (LG München I / AG München)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde eines Automobilherstellers gegen die Sicherstellung von Unterlagen und Daten bei einer von ihm mit internen Ermittlungen beauftragten Anwaltskanzlei („VW-Dieselskandal“; juristische Personen als Träger des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bei grundrechtlich erheblicher Gefährdungslage; Zulässigkeit einer Beschlagnahme bei Berufsgeheimnisträgern; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; staatliches Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung; Interesse am Schutz unternehmensinterner Daten; Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant; Legitimationsbedürftigkeit von Beweiserhebungsverboten; kein Beschlagnahmeverbot außerhalb des Berufsgeheimnisträger-Beschuldigten-Verhältnisses; Beschlagnahmeschutz erst bei zumindest beschuldigtenähnlicher Verfahrens-

stellung aufgrund eines hinreichenden Verdachts; kein Beschlagnahmeschutz für den Mutterkonzern wegen eines parallel geführten Ordnungswidrigkeitenverfahrens gegen eine Tochtergesellschaft).

Art. 2 Abs. 1 GG; § 94 StPO; § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 103 StPO; § 110 StPO; § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Träger des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung kann auch eine juristische Person sein, sofern sie durch eine Maßnahme gerade in ihrer spezifischen Freiheitsausübung beeinträchtigt ist. Dabei kommt es maßgeblich auf die Bedeutung der betroffenen Informationen für den grundrechtlich geschützten Tätigkeitskreis der juristischen Person sowie auf den Zweck und die möglichen Folgen der Maßnahme an.

2. Ein Automobilkonzern, der im Zusammenhang mit dem Vorwurf von Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen eine Anwaltskanzlei mit internen Ermittlungen beauftragt hat, ist durch die strafprozessuale Sicherstellung der von den Anwälten der Kanzlei zusammengetragenen Unterlagen und Daten zum Zwecke der Durchsicht in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen; der Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 25. Juli 2017 [= HRRS 2017 Nr. 835]).

3. Der Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf derartiges Material ist am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Dem staatlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung steht dabei das Recht des betroffenen Konzerns gegenüber, grundsätzlich selbst über die Weitergabe der in seinem Auftrag zusammengestellten Informationen zu bestimmen. Zu berücksichtigen ist außerdem die Möglichkeit einer Gefährdung des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant und insbesondere der auch im öffentlichen Interesse liegenden Vertraulichkeit der Kommunikation innerhalb dieses Verhältnisses.

4. Die Annahme von Beweiserhebungsverboten beschneidet die Möglichkeiten justizförmiger Sachaufklärung und mindert den Rechtsgüterschutz, den das materielle Strafrecht bezweckt, so dass sie stets einer Legitimation bedarf, die vor dem Rechtsstaatsprinzip Bestand hat. Eine Auslegung von Beweiserhebungsregelungen, die dem Strafverfolgungsinteresse Vorrang vor dem Geheimhaltungsinteresse des Mandanten einer Rechtsanwaltskanzlei einräumt, ist daher im Grundsatz nicht zu beanstanden.

5. Angesichts dessen verstößt es nicht gegen Verfassungsrecht, wenn die Strafgerichte das allgemeine Beweiserhebungsverbot des § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO, nach dem eine Ermittlungsmaßnahme unzulässig ist, die sich gegen einen Rechtsanwalt richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die dieser das Zeugnis verweigern dürfte, in Bezug auf die speziellen Regelungen über die Beschlagnahme und die vorausgehende Sicherstellung zur Durchsicht für nicht anwendbar erachten.

6. Verfassungsrecht wird auch nicht dadurch verletzt, dass die Strafgerichte ein Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO nur im Rahmen des Vertrauensverhältnisses zwischen einem Berufsgeheimnisträger und dem im konkreten Ermittlungsverfahren Beschuldigten annehmen. Bei einer Erstreckung des Beschlagnahmeschutzes auf sämtliche Mandatsverhältnisse bestände ein hohes Missbrauchspotential.

7. Von Verfassungs wegen ist es auch nicht zu beanstanden, einem Unternehmen eine beschuldigtenähnliche Verfahrensstellung, die einen Beschlagnahmeschutz nach § 97 Abs. 1 StPO nach sich zieht, erst dann zuzubilligen, wenn ein „hinreichender“ Verdacht für eine durch eine konkrete Leitungsperson begangene Straftat oder Aufsichtspflichtverletzung besteht, nicht hingegen bereits dann, wenn das Unternehmen ein künftiges Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lässt oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrag gibt.

8. Der Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO ist dem Konzern auch nicht deshalb zuzugestehen, weil er in einem parallel geführten Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen eine seiner Tochtergesellschaften die Stellung eines Nebenbeteiligten innehat. Anderes gilt nur in Ausnahmefällen, etwa wenn die Staatsanwaltschaft aus sachfremden Erwägungen von einer Verfahrensverbindung abgesehen hat, so dass der Beschlagnahmeschutz umgangen würde. Dies ist – auch bei vereinzelter Personenidentität und weiteren Querbezügen zwischen den Verfahren – nicht der Fall, wenn diesen unterschiedliche, trennbare Lebenssachverhalte zugrunde liegen.

9. Auch die beschuldigtenähnliche Stellung der Tochtergesellschaft gebietet es nicht, dem Mutterkonzern in Bezug auf das zwischen diesem und der Rechtsanwaltskanzlei geschlossene Mandatsverhältnis die Berufung auf das Beschlagnahmeverbot zuzubilligen.

10. Die Sicherstellung der von der Kanzlei aufgrund ihrer internen Ermittlungen zusammengestellten Unterlagen und Daten zum Zwecke der Durchsicht ist nicht unverhältnismäßig. Insoweit dürfen die hohe Beweisbedeutung der geführten Mitarbeiterinterviews, der hohe Unrechtsgehalt der in Rede stehenden Straftaten und der sich unter anderem aus einem von dem Konzern in den USA geschlossenen „Plea Agreement“ ergebende starke Anfangsverdacht berücksichtigt werden.


Entscheidung

617. BVerfG 2 BvR 1562/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Juni 2018 (LG München I / AG München)

Unzulässige Verfassungsbeschwerde von Rechtsanwälten einer international tätigen US-amerikanischen Anwaltskanzlei gegen die Durchsuchung eines Kanzleistandorts im Inland („VW-Dieselskandal“; Beschwerdebefugnis; eigene Betroffenheit durch einen Grundrechtseingriff; Schutz des Wohnungsgrundrechts bei Geschäftsräumen regelmäßig nur für den Geschäftsinhaber; Schutz der räumlichen Privatsphäre einer natürlichen Person innerhalb von Betriebsräumen; Berufsfreiheit; Grundrecht auf wirtschaftliche Betätigung; Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; Recht auf ein faires Verfahren; Geltung auch für Nichtbeschuldigte bei eigener Betroffenheit).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 14 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 93 Abs. 4a GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 103 StPO

1. Der Schutz des Wohnungsgrundrechts kommt bei Betriebs- oder Geschäftsräumen regelmäßig nur dem Unternehmer als Nutzungsberechtigtem zugute, nicht aber den einzelnen Arbeitnehmern.

2. Natürliche Personen, die die Geschäfts- oder Amtsräume nutzen, ohne selbst Geschäftsinhaber oder Dienstherr zu sein, sind in Bezug auf Art. 13 Abs. 1 GG nur dann beschwerdebefugt, wenn die genutzten Räume auch als individueller Rückzugsbereich fungieren und sie deshalb der persönlichen beziehungsweise räumlichen Privatsphäre der natürlichen Person zuzuordnen sind.

3. Die angestellten Rechtsanwälte einer Anwaltskanzlei können sich mit Blick auf eine Durchsuchung der Kanzleiräume – hier: im Zusammenhang mit dem Vorwurf von Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen, zu denen sie für die Kanzlei im Auftrag des betroffenen Automobilkonzerns intern ermittelt hatten – nicht auf Art. 13 GG berufen, wenn sie lediglich auf ihre Stellung als Rechtsanwälte abheben und nicht explizit eine Störung ihrer (eigenen) Privatsphäre geltend machen (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 25. Juli 2017 [= HRRS 2017 Nr. 838]).

4. Auch ein einzelner Partner, dem das Nutzungsrecht an den Kanzleiräumen nur gemeinschaftlich neben weiteren Partnern zusteht, kann sich nicht auf Art. 13 GG berufen. Er ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren auch nicht befugt, eine (fremde) Grundrechtsverletzung der Kanzlei im eigenen Namen geltend zu machen.

5. Eine Durchsuchung der Kanzlei betrifft die dort tätigen Anwälte mangels berufsregelnder Tendenz nicht in ihrer Berufsfreiheit und greift auch nicht in ihr Grundrecht auf wirtschaftliche Betätigung ein, sofern kein Mandatsverhältnis zu ihnen persönlich besteht. Ebensowenig ist ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und auf Eigentum berührt, wenn der Datenbestand und die Unterlagen, auf deren Erlangung die Durchsuchung gerichtet war, der Kanzlei und nicht den dort tätigen Anwälten zuzuordnen sind.

6. Das Recht auf ein faires Verfahren gilt auch für Nichtbeschuldigte, wenn sie selbst von einem Strafverfahren betroffen werden und deshalb zumindest im weiteren Sinne als Beteiligte des Verfahrens anzusehen sind. Dies ist bei einzelnen Anwälten einer von einer Durchsuchung betroffenen Kanzlei, mit der allein das betreffende Mandatsverhältnis besteht, nicht der Fall.


Entscheidung

615. BVerfG 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1583/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Juni 2018 (LG München I / AG München)

Unzulässige Verfassungsbeschwerde einer international tätigen US-amerikanischen Rechtsanwaltskanzlei gegen die Durchsuchung eines Kanzleistandorts im Inland („VW-Dieselskandal“; Beschwerdebefugnis; inländische juristische Personen als Träger materieller Grundrechte; ausländische juristische Personen; Berufung lediglich auf Verfahrensgewährleistungen; Ausnahme bei Sitz in der Europäischen Union und hinreichendem Inlandsbezug; „Sitztheorie“; Ort der tatsächlichen Hauptverwaltung bei mehreren Standorten; fehlende organisatorisch selbständige Stellung des inländischen Kanzleistandorts; keine Grundrechtsberechtigung aufgrund zwischenstaatlichen Handelsvertrages).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 3 GG; Art. 93 Abs. 4a GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 103 StPO

1. Träger von Grundrechten und damit beschwerdebefugt im Hinblick auf eine Verfassungsbeschwerde sind neben natürlichen auch inländische juristische Personen, soweit das jeweilige Grundrecht seinem Wesen nach auf sie anwendbar ist. Dies gilt auch für nicht rechtsfähige Personenzusammenschlüsse, wenn sie eine festgefügte Struktur haben, auf gewisse Dauer angelegt und nach dem einfachen Recht zumindest partiell taugliches Zuordnungssubjekt von Rechten sind.

2. Ausländische juristische Personen können sich hingegen nicht auf materielle Grundrechte, sondern lediglich auf die Verfahrensgewährleistungen des gesetzlichen Richters und des rechtlichen Gehörs berufen. Eine Ausnahme bilden ausländische juristische Personen, die ihren Sitz in der Europäischen Union haben, wenn ein hinreichender Inlandsbezug besteht, der die Geltung der Grundrechte in gleicher Weise wie für inländische juristische Personen geboten erscheinen lässt.

3. Die Einordnung einer juristischen Person als inländisch oder ausländisch richtet sich nach ihrem Sitz im Sinne des tatsächlichen Mittelpunkts ihrer Tätigkeit. Bei mehreren Standorten ist der Ort der tatsächlichen Hauptverwaltung maßgeblich, an dem die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung getroffen wird.

4. Bei einer als Beschwerdeführerin auftretenden Rechtsanwaltskanzlei in der Rechtsform einer Partnership nach dem Recht des US-Bundesstaats Ohio, die an über 40 Standorten weltweit tätig ist, ist – zumal ohne näheren Vortrag – auch dann nicht von einem Hauptsitz in Deutschland oder einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union auszugehen, wenn die Kanzlei dort Standorte unterhält, an denen ein geschäftsführender Partner (sogenannter Partner-In-Charge) tätig ist.

5. Die Verfassungsbeschwerde der Kanzlei ist auch dann nicht wie die einer inländischen juristischen Person zu behandeln, wenn ein inländischer Kanzleistandort von strafprozessualen Durchsuchungsmaßnahmen betroffen ist – hier: im Zusammenhang mit dem Vorwurf von Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen, zu denen die Kanzlei im Auftrag des betroffenen Automobilkonzerns intern ermittelt hatte –, wenn dem Standort jedoch weder eine organisatorisch selbständige Stellung noch die Rolle eines Tätigkeitsmittelpunkts zukommt (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 25. Juli 2017 [= HRRS 2017 Nr. 834]).

6. Eine Grundrechtsberechtigung der Kanzlei folgt auch nicht aus den Regelungen des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags vom 29. Oktober 1954.


Entscheidung

609. BVerfG 1 BvR 673/18 (3. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 22. Juni 2018 (OLG Celle / LG Verden / AG Verden (Aller))

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen Volksverhetzung (Meinungsfreiheit und Schutz von Tatsachenbehauptungen; Berücksichtigung des Gesamtkontexts der Äußerung; „Auschwitz-Lüge“ als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung; allgemeine Gesetze als Schranken der Meinungsfreiheit; Ausnahme bei meinungsbeschränkenden Gesetzen gegen die propagandistische Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft; kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip des Grundgesetzes; Zulässigkeit staatlicher Eingriffe erst bei Gefährdung des öffentlichen Friedens; Wechselwirkungslehre; Tatbestandsmerkmale der Volksverhetzung; Indikation einer Eignung zur Friedensstörung bei Billigung oder Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 130 Abs. 3 StGB; § 130 Abs. 4 StGB; § 6 VStGB

1. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst Äußerungen, die durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt sind, gleich ob sie wahr oder unwahr, begründet oder grundlos, emotional oder rational sind und ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden.

2. Tatsachenbehauptungen sind nur insoweit umfasst, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen und nicht bewusst oder erwiesen unwahr sind. Die Trennung tatsächlicher und wertender Bestandteile einer Aussage ist im Einzelfall nur zulässig, soweit dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Im Zweifel ist eine Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung anzusehen.

3. Die Tatsachenbehauptungen, das Lager Auschwitz-Birkenau sei nicht zur systematischen Vernichtung menschlichen Lebens bestimmt gewesen und es habe keine systematische Ermordung jüdischer Menschen durch das nationalsozialistische Deutschland und keine Massenvergasung in Ausschwitz gegeben, sind erwiesen unwahr und unterfallen damit von vornherein nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit.

4. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit unterliegt den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze hat das Bundesverfassungsgericht für Vorschriften anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.

5. Von dieser Ausnahme bleibt jedoch der materielle Gehalt der Meinungsfreiheit unberührt. Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubte. Staatliche Eingriffe sind erst dann zulässig, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder in eine Gefährdung des öffentlichen Friedens umschlagen.

6. Bei der Auslegung und Anwendung meinungsbeschränkender Gesetze haben die Fachgerichte den wertsetzenden Gehalt des Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat zu berücksichtigen. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.

7. Die Strafnorm des § 130 Abs. 3 StGB ist auf die Bewahrung des öffentlichen Friedens gerichtet. Das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens bedarf dabei mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot einer näheren Konkretisierung durch die weiteren Tatbestandsmerkmale, die ihrerseits im Lichte der Friedensstörung ausgelegt werden müssen.

8. Die öffentliche Billigung der nationalsozialistischen Verbrechen kommt ebenso wie deren Leugnung einer Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft gleich, die die Grenzen der Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung überschreitet; beide Tatbestandsmerkmale indizieren daher gleichermaßen eine Störung des öffentlichen Friedens.


Entscheidung

610. BVerfG 1 BvR 2083/15 (3. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 22. Juni 2018 (OLG Hamm / LG Paderborn)

Verletzung der Meinungsfreiheit durch eine Verurteilung wegen Volksverhetzung (Meinungsfreiheit und Schutz von Tatsachenbehauptungen; allgemeine Gesetze als Schranken der Meinungsfreiheit; Ausnahme bei meinungsbeschränkenden Gesetzen gegen die propagandistische Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft; kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip des Grundgesetzes; Zulässigkeit staatlicher Eingriffe erst bei Gefährdung des öffentlichen Friedens; Wechselwirkungslehre; Tatbestandsmerkmale der Volksverhetzung; Indikation einer Eignung zur Friedensstörung bei Billigung oder Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen, nicht hingegen bei deren Verharmlosung; kein Schutz der Bürger vor einer Konfrontation mit provokanten Ideologien; Strafbarkeit erst bei drohenden Rechtsgutgefährdungen).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 130 Abs. 3 StGB; § 130 Abs. 5 StGB; § 6 VStGB

1. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst Äußerungen, die durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt sind, gleich ob sie wahr oder unwahr, begründet oder grundlos, emotional oder rational sind und ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Tatsachenbehauptungen sind hingegen nur insoweit umfasst, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen und nicht bewusst oder erwiesen unwahr sind.

2. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit unterliegt den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze hat das Bundesverfassungsgericht für Vorschriften anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.

3. Von dieser Ausnahme bleibt jedoch der materielle Gehalt der Meinungsfreiheit unberührt. Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubte. Staatliche Eingriffe sind erst dann zulässig, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder in eine Gefährdung des öffentlichen Friedens umschlagen.

4. Bei der Auslegung und Anwendung meinungsbeschränkender Gesetze haben die Fachgerichte den wertsetzenden Gehalt des Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat zu berücksichtigen. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.

5. Die Strafnorm des § 130 Abs. 3 StGB ist auf die Bewahrung des öffentlichen Friedens gerichtet. Das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens bedarf dabei mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot einer näheren Konkretisierung durch die weiteren Tatbestandsmerkmale, deren Erfüllung eine Friedensstörung zwar in der Regel vermuten lässt, die jedoch ihrerseits im Lichte der Friedensstörung ausgelegt werden müssen.

6. Anders als in den Fällen der Leugnung und der Billigung ist für den Fall der Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen eine Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens nicht indiziert, sondern eigens festzustellen.

7. Nicht tragfähig ist dabei ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor einer Konfrontation der Bürger mit provokanten, beunruhigenden Meinungen und Ideologien zielt. Erfasst sind Äußerungen erst dann, wenn sie über die Überzeugungsbildung hinaus mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder durch Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können.

8. Eine Verurteilung wegen Volksverhetzung durch Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen verletzt daher die Meinungsfreiheit, wenn sie maßgeblich darauf abstellt, dass die Äußerungen geeignet seien, das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit zu erschüttern und das Miteinander verschiedener Bevölkerungsgruppen zu beeinträchtigen. Die Meinungsfreiheit findet ihre Grenzen im Strafrecht erst dann, wenn die Äußerungen in einen unfriedlichen Charakter umschlagen.


Entscheidung

611. BVerfG 2 BvR 631/18 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. Juni 2018 (OLG München / LG Augsburg / AG Augsburg)

Fortdauer der Untersuchungshaft (Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen; unzureichende Begründung der Fluchtgefahr lediglich mit der Straferwartung; fehlende Auseinandersetzung mit gegen eine Fluchtgefahr sprechenden Umständen; Verdunkelungsgefahr; lediglich punktuelle Würdigung des Verhaltens des Beschuldigten); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (fortbestehendes Feststellungsinteresse nach Ersetzung des ursprünglichen Haftbefehls durch einen neuen Haftbefehl).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO; § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO

1. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn sie außer der drohenden erheblichen Freiheitsstrafe keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte benennt, welche die angenommene Fluchtgefahr zumindest nahelegen würden, während maßgebliche, gegen die Gefahr einer Flucht sprechende Umstände nicht erörtert werden.

2. Die Annahme, ein der gemeinschaftlichen Geiselnahme beschuldigter Zahnarzt werde seine Praxis auflösen und sich ins Ausland absetzen, ist nicht hinreichend begründet, wenn das Gericht sich nicht damit auseinandersetzt, dass der Beschuldigte jüngst erhebliche finanzielle Investitionen in seine Praxis getätigt hat und sich in Kenntnis laufender Durchsuchungsmaßnamen freiwillig zum Durchsuchungsort begeben hat.

3. Im Hinblick auf eine angenommene Verdunkelungsgefahr wird eine Haftentscheidung den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht gerecht, wenn sie das Verhalten des Beschuldigten lediglich punktuell würdigt und übergeht, dass dieser Kooperationsbereitschaft mit den Ermittlungsbehörden gezeigt und nicht auf den Geschädigten eingewirkt hat, obwohl er mehrfach Gelegenheit dazu gehabt hätte.

4. Das Feststellungsinteresse für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Haftfortdauerentscheidung

besteht wegen des mit der Freiheitsentziehung verbundenen Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht fort, wenn der ursprüngliche Haftbefehl zwischenzeitlich durch einen neuen Haftbefehl ersetzt worden ist.

5. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist zur Wahrung der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur dann zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

6. Entscheidungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.


Entscheidung

612. BVerfG 2 BvR 635/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. Mai 2018 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Pauschalierte Kostenbeteiligung für den Betrieb privater Fernsehgeräte im Strafvollzug (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Beachtung der spezifischen Beweisprobleme Strafgefangener; grundsätzliche Zulässigkeit der Erhebung von Betriebskostenpauschalen; Summe der tatsächlichen Betriebskosten als Obergrenze für die Einnahmen aus den Kostenpauschalen; Erfordernis der Sachaufklärung; keine ungeprüfte Zugrundelegung der nicht belegten und bestrittenen Angaben der Vollzugsanstalt); Recht auf den gesetzlichen Richter (Entscheidung über einen Befangenheitsantrag; Verfassungsverstoß nur bei Willkür oder grundlegender Verkennung der grundgesetzlichen Verfahrensgarantie; völlig unzureichend begründeter Ablehnungsantrag).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 71 Abs. 1 BayStVollzG; Art. 73 BayStVollzG

1. Soweit landesrechtliche Vorschriften es zulassen, Strafgefangenen den Betrieb eigener Hörfunk- und Fernsehgeräte zu gestatten und ihnen deren Betriebs- und Stromkosten aufzuerlegen, ist eine mit der Erhebung von Pauschalen verbundene Ungleichbehandlung mit Blick auf die praktischen Probleme einer individuellen Abrechnung grundsätzlich zu rechtfertigen.

2. Verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet es jedoch, wenn mit der Erhebung von Kostenpauschalen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Kostenstruktur einer Justizvollzugsanstalt der von Verfassungs wegen zu gewährleistende Grundbedarf oder anderweitige Haftkosten mittelbar mitfinanziert werden. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Gesamteinnahmen aus den erhobenen Kostenpauschalen die tatsächlich verursachten Betriebs- oder Stromkosten überstiegen.

3. Die durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene wirksame gerichtliche Kontrolle im Sinne einer umfassenden Prüfung des Verfahrensgegenstandes erfordert eine zureichende Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts durch die Fachgerichte. In Strafvollzugssachen haben die Fachgerichte dabei der spezifischen Situation des Strafgefangenen und den besonderen Beweisproblemen, die sich daraus ergeben können, Rechnung zu tragen.

4. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt den Anspruch eines Gefangenen auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle, wenn sie ihrer Entscheidung ungeprüft die nicht näher belegte und durch den Gefangenen bestrittene Behauptung der Justizvollzugsanstalt zugrunde legt, die Einnahmen durch die erhobene Betriebskostenpauschale lägen noch unter den Kosten des durchschnittlichen tatsächlichen Verbrauchs.

5. Die Entscheidung über einen Befangenheitsantrag verletzt selbst bei fehlerhafter Rechtsanwendung nicht ohne Weiteres auch das Recht auf den gesetzlichen Richter. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind erst dann überschritten, wenn die Auslegung oder Handhabung der jeweiligen Verfahrensnorm im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Garantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt.

6. Ein Ablehnungsantrag, der zwar rein formal betrachtet eine Begründung für die angebliche Befangenheit enthält, der aber – ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls – zur Begründung der Besorgnis einer Befangenheit völlig ungeeignet ist, kann rechtlich dem völligen Fehlen einer Begründung gleichgestellt werden, ohne dass dies verfassungsrechtlicher Beanstandung unterläge.


Entscheidung

613. BVerfG 2 BvR 1260/16 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19. Juni 2018 (LG Braunschweig)

Durchsuchung einer Wohnung (Wohnungsgrundrecht; Ermittlungsverfahren wegen Betruges über die Internet-Plattform „ebay“; Anfangsverdacht; Richtervorbehalt; Begrenzungsfunktion des Durchsuchungsbeschlusses; Beschreibung von Tatvorwurf und zu suchender Beweismittel; keine Nachbesserung im Beschwerdeverfahren; zeitliche Eingrenzung der Tatvorwürfe; Ausschluss der Verjährung; Abgrenzung zu weiteren Vorwürfen; keine Durchsuchung wegen erst zu erwartender Taten).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 103 StPO; § 105 StPO; § 263 StGB

1. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die grundrechtlich geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu seiner Rechtfertigung einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.

2. Um die Durchführung der Durchsuchung messbar und kontrollierbar zu gestalten, muss der Durchsuchungsbeschluss den Tatvorwurf und die gesuchten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen für die Durch-

suchung abgesteckt wird. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.

3. Mängel bei der Beschreibung des Tatvorwurfs und der Beweismittel sind im Beschwerdeverfahren nicht mehr heilbar. Andernfalls würde die Funktion des Richtervorbehalts unterlaufen, eine vorbeugende Kontrolle der Durchsuchung durch eine unabhängige und neutrale Instanz zu gewährleisten und eine Begrenzung der Maßnahme zu erreichen.

4. Ein Durchsuchungsbeschluss wird seiner Begrenzungsfunktion nicht gerecht, wenn er keinerlei Angaben dazu enthält, in welchem Zeitraum die verfahrensgegenständlichen Taten – hier: Betrugshandlungen über die Internet-Plattform „ebay“ – begangen worden sein sollen, so dass weder eine Verjährung der Vorwürfe auszuschließen noch eine Abgrenzung zu anderen Taten möglich ist, die der Beschuldigten in weiteren anhängigen Verfahren zur Last gelegt werden.

5. Da es sich bei der strafprozessualen Durchsuchung nicht um eine präventivpolizeiliche Maßnahme handelt, können mögliche künftige Betrugshandlungen von vornherein nicht Gegenstand einer Durchsuchungsanordnung sein.


Entscheidung

614. BVerfG 2 BvR 1261/16 (Zweiter Senat) – Beschluss vom 26. Juni 2018

Selbstablehnung des Bundesverfassungsrichters Müller wegen Besorgnis der Befangenheit (Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung; Ausschluss des Richters wegen seines früheren besonderen politischen Engagements im Gesetzgebungsverfahren).

§ 18 BVerfGG; § 19 Abs. 1 BVerfGG; § 19 Abs. 3 BVerfGG; § 217 StGB

1. Die Selbstablehnung des Richters des Bundesverfassungsgerichts Müller wegen Besorgnis der Befangenheit in einem gegen § 217 StGB gerichteten Verfassungsbeschwerdeverfahren ist begründet (Folgeentscheidung zum Beschluss vom 13. Februar 2018 – 2 BvR 651/16 – [= HRRS 2018 Nr. 295]).

2. Wegen des früheren, von persönlicher Überzeugung getragenen politischen Engagements des Bundesverfassungsrichters Müller für ein strafbewehrtes Verbot organisierter Suizidhilfe ist nicht nur verfahrensspezifisch, sondern allgemein zu besorgen, der Richter werde die in hohem Maße wertungsabhängigen und von Vorverständnissen geprägten Rechtsfragen möglicherweise nicht mehr in jeder Hinsicht offen und unbefangen beurteilen können.