HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2018
19. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 2655/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 14. Dezember 2017 (OLG Köln)

Auslieferungshaft (keine unionsrechtliche Determiniertheit der Auslieferungshaft aufgrund eines Europäischen Haftbefehls; Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsgrundrecht und Interesse an einem funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr; Begründungstiefe von Haftentscheidungen; Fluchtgefahr; keine Herleitung allein aus der Straferwartung oder aus rechtlichem Vorbringen; Verhältnismäßigkeit; Erfordernis einer expliziten Abwägung im Einzelfall; Außervollzugsetzung des Haftbefehls als milderes Mittel).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG; § 25 IRG

1. Das Auslieferungsverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist unionsrechtlich determiniert, so dass sich die verfassungsrechtliche Prüfung grundsätzlich auf die Wahrung der Verfassungsidentität beschränkt. Dies gilt jedoch nicht für die Frage der Auslieferungshaft, die der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ausdrücklich dem nationalen Recht unterstellt.

2. Bei der Anordnung der Auslieferungshaft ist – ebenso wie bei der Untersuchungshaft – das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und den Bedürfnissen einer funktionierenden Strafrechtspflege sowie zusätzlich dem Interesse an einem funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr zu beachten.

3. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der rechtlichen Voraussetzungen der Haft, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit – einschließlich der Möglichkeit einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls als milderem Mittel.

4. Allein eine hohe Straferwartung im ersuchenden Staat vermag auch bei der Auslieferungshaft eine Fluchtgefahr nicht zu belegen, sondern kann lediglich Ausgangspunkt der vorzunehmenden intensiven Einzelfallprüfung sein. Ebensowenig darf aus dem Vortrag des anwaltlichen Beistandes, die Haftbedingungen im Zielstaat genügten den menschenrechtlichen Mindestanforderungen nicht, der Schluss gezogen werden, der Verfolgte werde sich dem Auslieferungsverfahren entziehen.

5. Ein Beschluss, mit dem das Oberlandesgericht die Fortdauer der Auslieferungshaft anordnet, genügt im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn es an einer expliziten Abwägungsentscheidung fehlt, die die Besonderheiten des Einzelfalls – wie etwa die Art, den Umfang, die Stetigkeit und die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im ersuchten Staat sowie seine sozialen, familiären, persönlichen und beruflichen Bindungen – berücksichtigt.


Entscheidung

4. BVerfG 2 BvR 2772/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Dezember 2017 (OLG Celle / LG Lüneburg)

Aufschub der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (Gebot der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs; Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Menschenwürde; Erfordernis einer realisierbaren Chance, die Freiheit wiederzuerlangen; Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Strafanspruch und Interesse des Verurteilten an seiner Gesunderhaltung; Abwägungsentscheidung; Gebot der bestmöglichen richterlichen Sachaufklärung; hohes Gewicht des staatlichen Strafanspruchs bei Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in einer Vielzahl von Fällen aufgrund des Dienstes an der Rampe im Konzentrationslager Auschwitz; keine Haftverschonung allein aufgrund des hohen Lebensalters des Verurteilten; Möglichkeit der medizinischen Behandlung und Fürsorge in der Vollzugsanstalt).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 455 StPO

1. Rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafen sind grundsätzlich auch zu vollstrecken; dies gebieten die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller im Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten.

2. Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Durchführung der Strafvollstreckung ist jedenfalls unverhältnismäßig, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird.

3. Der staatliche Strafanspruch wird außerdem begrenzt von der Menschenwürde des Verurteilten. Diese erfordert auch bei einem mit besonders schwerer Tatschuld beladenen Verurteilten eine realisierbare Chance, seine Freiheit wiederzuerlangen. Hiermit ist es unvereinbar, wenn die Aussicht auf Freiheit auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert wird.

4. § 455 StPO trägt dem Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Strafanspruch und dem Interesse des Verurteilten an der Erhaltung seiner Gesundheit und Lebenstüchtigkeit angemessen Rechnung. Bei der Auslegung der Norm sind Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten. Die Entscheidung muss außerdem auf einer zureichenden Sachaufklärung beruhen.

5. Bei einem im Jahre 1921 geborenen Verurteilten, gegen den aufgrund seines Dienstes an der Rampe im Konzentrationslager Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen eine Freiheitsstrafe von vier Jahren verhängt worden ist, ist nicht davon auszugehen, dass sein Interesse an einer Haftverschonung allein aufgrund seines hohen Lebensalters das hohe Gewicht des staatlichen Strafanspruchs überwiegt.

6. Das Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist nicht verletzt, wenn dieser zwar unter altersbedingten Krankheiten leidet und der ärztlichen Fürsorge bedarf, wenn das Gericht jedoch unter Heranziehung medizinischer Sachverständigengutachten – die auf der Grundlage eines Wohnungsbesuchs und der den Verurteilten betreffenden vollständigen aktuellen Arztbriefe erstattet worden sind – zu dem Ergebnis gelangt, dass den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch medizinische Vorkehrungen der Vollzugsanstalt ausreichend Rechnung getragen werden kann.


Entscheidung

1. BVerfG 2 BvL 12/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. Dezember 2017 (KG)

Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm des Außenwirtschaftsgesetzes in der Fassung vom 4. November 2010 (Unvereinbarkeit einer Blankettstrafnorm mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen; konkrete Normenkontrolle; Darlegungsanforderungen an eine Richtervorlage; Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage; fehlende Feststellungen und Beweiswürdigung zu einzelnen Tatbestandsmerkmalen; erhebliche Gefährdung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland; Kenntnis eines Angeklagten von Verwendungszweck und Bestimmungsland von Ausfuhrgütern).

Art. 100 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 81a Satz 1 BVerfGG; § 33 Abs. 1 AWG a.F.; § 34 Abs. 2 Nr. 3 AWG a.F.; § 5d Abs. 1 AWV a.F.; § 70 Abs. 1 Nr. 2 AWV a.F.

1. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn das Fachgericht nachvollziehbar darlegt, dass es bei seiner anstehenden Entscheidung auf die Gültigkeit der Norm ankommt und aus welchen Gründen es von der Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung überzeugt ist.

2. Zur Begründung der Entscheidungserheblichkeit muss das Gericht darlegen, dass und aus welchen Gründen es im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle der Ungültigkeit.

3. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist nicht hinreichend dargetan, wenn sich das Strafgericht in seiner Beweiswürdigung zu der im Einzelfall die Strafbarkeit – nach § 34 Abs. 2 Nr. 3 AWG a.F. – erst begründenden Feststellung nicht näher verhält, die Taten der Angeklagten seien geeignet, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden.

4. Den Darlegungsanforderungen ist auch dann nicht genügt, wenn in den Feststellungen nicht ausgeführt ist, inwieweit ein wegen einer Straftat nach den § 34 Abs. 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 33 Abs. 1 AWG a.F., §§ 5d Abs. 1, 70 Abs. 1 Nr. 2 AWV a.F. Angeklagter vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle über das Bestimmungsland sowie darüber unterrichtet worden ist, dass die zur Ausführung bestimmten Güter für die Errichtung, den Betrieb oder zum Einbau in eine Anlage für kerntechnische Zwecke bestimmt sind oder sein können.


Entscheidung

2. BVerfG 2 BvR 2640/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 7. Dezember 2017 (OLG München / LG Augsburg)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht (elektronische Aufenthaltsüberwachung; „elektronische Fußfessel“; Folgenabwägung; Überwiegen der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit).

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB

Geht von einem wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern Verurteilten nach Einschätzung der Strafvollstreckungskammer die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten aus, so überwiegt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit die mit dem Tragen einer „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der Lebensführung, so dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung zugunsten des Betroffenen nicht in Betracht kommt.