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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 2

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2640/17, Beschluss v. 07.12.2017, HRRS 2018 Nr. 2


BVerfG 2 BvR 2640/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. Dezember 2017 (OLG München / LG Augsburg)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht (elektronische Aufenthaltsüberwachung; „elektronische Fußfessel“; Folgenabwägung; Überwiegen der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit).

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Geht von einem wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern Verurteilten nach Einschätzung der Strafvollstreckungskammer die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten aus, so überwiegt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit die mit dem Tragen einer „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der Lebensführung, so dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung zugunsten des Betroffenen nicht in Betracht kommt.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen mehrere Weisungen, die ihm im Rahmen der Führungsaufsicht erteilt wurden. Zu diesen Weisungen zählt das Tragen einer sogenannten „elektronischen Fußfessel“. Im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt er, die „elektronische Fußfessel“ und die sogenannte „Home-Unit“ von seiner Wohnung sofort zu entfernen und ihm das zur Verfügung gestellte Mobiltelefon wieder abzunehmen.

I.

Das Landgericht München II - Jugendkammer - verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 18. März 2009 u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 16 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten.

Das Landgericht Augsburg - auswärtige Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Landsberg am Lech - erteilte mit Beschluss vom 11. September 2017 mehrere Weisungen für die Zeit nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe. Diese Weisungen beinhalten die Verpflichtung, die für eine elektronische Überwachung seines Aufenthaltsortes erforderlichen Mittel ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und deren Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen.

Das Oberlandesgericht München hat die dagegen gerichtete Beschwerde mit angegriffenem Beschluss vom 18. Oktober 2017 verworfen.

II.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; 118, 111 <122>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; 105, 365 <371>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; stRspr). Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung ist dabei ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 93, 181 <186>; 106, 51 <58>). Ferner erfordert die Begründung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die substantiierte Darlegung von deren Voraussetzungen (vgl. BVerfGE 15, 77 <79>).

2. Vorliegend erscheint die Verfassungsbeschwerde zwar weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die daher gebotene Folgenabwägung führt im vorliegenden Fall aber zu dem Ergebnis, dass die begehrte einstweilige Anordnung nicht ergehen kann, weil die für deren Erlass sprechenden Gründe nicht in der erforderlichen Weise deutlich überwiegen.

Erginge die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet, könnten schutzwürdige Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit in hohem Maße beeinträchtigt werden. In den angegriffenen Beschlüssen wird dargestellt, dass von dem Beschwerdeführer aufgrund der vorherigen schweren Straftaten und des späteren Verhaltens das - von ihm bestrittene - Risiko der Begehung erheblicher Straftaten ausgehe und deshalb zum Schutz potentieller Opfer die Weisung erforderlich und verhältnismäßig sei. Würde dem Beschwerdeführer die „elektronische Fußfessel“ ersatzlos abgenommen, würde demgemäß wegen der damit verbundenen Minderung des Entdeckungsrisikos die Gefahr der Begehung erneuter schwerer Straftaten aus Sicht der Fachgerichte deutlich erhöht.

Dem stehen für den Fall, dass die begehrte einstweilige Anordnung nicht erlassen und die Verfassungsbeschwerde sich als begründet erweisen würde, keine vergleichbar schwerwiegenden Nachteile gegenüber. Weder vermag der Beschwerdeführer derartige Beeinträchtigungen darzulegen, noch sind diese in sonstiger Weise ersichtlich. Die Nachteile, die der Beschwerdeführer im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vorgetragen hat und auf die er zur Begründung der einstweiligen Anordnung Bezug nimmt, umfassen die Erkennbarkeit der „Fußfessel“, die Unmöglichkeit des Fußballspielens, das Aufwachen beim Schlafen wegen eines Druckgefühls, die Einschränkung der Lebensführung durch den mehrstündigen Ladevorgang, die Übermittlung von Daten über den Aufenthaltsort und das Zutrittsrecht zur Wohnung im Rahmen von Überprüfungen. Jedenfalls kann aufgrund dieser Umstände das erforderliche deutliche Überwiegen der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe nicht festgestellt werden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 2

Bearbeiter: Holger Mann