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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2017
18. Jahrgang
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Von Ass. iur. Carolin Castorf, Berlin[*]
Terroristische Anschläge sind grundsätzlich Situationen des Schreckens in der Bevölkerung und stellen erhebliche Anforderungen an den betroffenen Staat. Die zuständigen Strafverfolgungsbehörden sollen Verdächtige zeitnah festnehmen und mit den von ihnen erlangten Informationen die Aufklärung zügig vorantreiben, um weitere Anschläge zu verhindern. Insoweit operieren aber gerade die Konventionsstaaten der EMRK in einem Konfliktfeld ihrer Gewährleistungspflichten: Sie sind verpflichtet, ihre Staatsbürger praktisch und effektiv vor solchen Gefahren
zu schützen. Zum anderen sind sie nach Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK zu grundlegenden Verfahrensstandards angehalten, die auch für die gelten, die andere Bürger gerade durch Akte des Terrors gefährden.
Die vorliegende Entscheidung des EGMR hat eine solche Konstellation zum Gegenstand. Ausgangspunkt des Falles waren die Terroranschläge in London am 7. Juli 2005. An diesem Tag explodierten vier Sprengsätze in drei Zügen der U-Bahn und einem Bus im Londoner Nahverkehr und töteten 52 Menschen und verletzten viele weitere. Zwei Wochen darauf, am 21. Juli 2005, wurden wiederum mehrere Sprengsätze in Zügen und einem Bus in London gezündet – jedoch ohne dass diese explodierten.[1] Drei der Beschwerdeführer, im Folgenden: A, B und C, wurden im Anschluss festgenommen und im Rahmen sog. "safety interviews" vernommen. Diese Sicherheitsvernehmungen waren nach englischem Recht, dem Terrorism Act 2000¸ so ausgestaltet, dass die Beschwerdeführer vernommen werden konnten, ohne vorher Kontakt zu einem Rechtsbeistand aufgenommen zu haben oder während der Vernehmung von einem solchen begleitet zu sein. Sie wurden mit der Standardbelehrung des 1994 Act belehrt,[2] obwohl dies in ihrem Fall nicht zulässig war. Die drei Beschwerdeführer verneinten während dieser Interviews, an den versuchten Anschlägen beteiligt gewesen zu sein. Später gaben sie im Laufe der Hauptverhandlung ihre Täterschaft zwar zu, behaupteten jedoch, die Bomben seien als Attrappen intendiert gewesen. A und B griffen erfolglos die Einführung ihrer Vernehmungen in der Hauptverhandlung als Beweismittel an.
Der vierte Beschwerdeführer,[3] im Folgenden: D, war ursprünglich als Zeuge von der Polizei angesprochen worden und freiwillig zur Vernehmung auf die Polizeiwache erschienen. Während der Vernehmung begann er, sich selbst zu belasten und seine Beteiligung zu gestehen. Die Polizeibeamten unterbrachen die Vernehmung und berieten mit ihren Vorgesetzten, ob sie D nun festnehmen und belehren sollten. Die Vorgesetzten ordneten an, die Vernehmung ohne Belehrung des D über seine Rechte fortzuführen, obgleich ihnen bewusst war, dass sie dazu zu diesem Zeitpunkt nach englischem Recht verpflichtet waren. Erst nachdem sie von D eine schriftliche Stellungnahme erhalten hatten, nahm die Polizei ihn fest und holte die Belehrung nach. In der Hauptverhandlung widersprach D – erfolglos – der Verwertung seiner Stellungnahme. Er schwieg in der Hauptverhandlung. Alle vier Beschwerdeführer wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In ihrer Beschwerde an den EGMR rügten sie eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 6 Abs. 1, 3 lit. c) EMRK dadurch, dass ihnen der Zugang zu einem Verteidiger gänzlich verwehrt und die so gewonnenen Erkenntnisse als Beweismittel in der Hauptverhandlung zugelassen wurde. D rügte darüber hinaus die ihm gegenüber unterlassene Belehrung als Beschuldigter.
Der EGMR hat die Beschwerde zugelassen, im Fall der Beschwerdeführer A, B und C jedoch als unbegründet abgelehnt. In dem Verhalten der Strafverfolgungsbehörden hat er nur im Fall von D eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 lit. c) EMRK erblicken können. In seiner Begründung geht er dabei auf die bereits in Salduz[4] etablierten Maßstäbe zum Recht auf Verteidigung ein und konkretisiert die Anforderungen, die an eine Beschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Verteidiger zu stellen sind.
In seinem Urteil wiederholt der EGMR zunächst den Umfang des Rechts auf Zugang zu einem Verteidiger gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK. Dabei betont er die grundlegende Bedeutung der in Art. 6 Abs. 3 EMRK normierten Mindestrechte.[5] Wann diese Gewährleistungen greifen, wohnt dem Begriff der "strafrechtlichen Anklage" in Art. 6 Abs. 3 EMRK inne:[6] Eine "Anklage" liegt jedenfalls dann vor, wenn die Situation einer Person durch Strafverfolgungsmaßnahmen der Behörden wegen eines Verdachts gegen ihn maßgeblich beeinflusst wird.[7] Trotz dieser an sich weiten Auslegung war zeitweise umstritten, ob die Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK auch im Ermittlungsverfahren Anwendung finden.[8] Bereits in den 90er Jahren begann der EGMR die Geltung der Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK auch auf das Ermittlungsverfahren zu erstrecken.[9] Diese Rechtsprechungsentwicklung stellte der EGMR in seinem Salduz-Urteil noch einmal explizit fest:[10] Die Garantien von
Art. 6 Abs. 3 EMRK gelten ab dem Zeitpunkt der strafrechtlichen "Anklage" und erstrecken sich auch auf das Ermittlungsverfahren, wenn der Angeklagte sich in einer besonders verletzlichen Position befindet, aus der Einstellung und dem Verhalten des Angeklagten nachteilige Schlüsse für die Hauptverhandlung gezogen werden können oder insgesamt seine Verteidigungsaussichten maßgeblich durch das Ermittlungsverfahren bestimmt werden.[11]
Trotz der immensen Wichtigkeit des Rechts auf Verteidigungszugangs besteht es jedoch nicht absolut. Der EGMR erkennt an, dass aus "zwingenden Gründen" eine Einschränkung von Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK zulässig ist, solange dadurch die Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht unangemessen beeinträchtigt werden.[12] Damit unterwirft er einen Eingriff in Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK einem zweistufigen Test. Diese Anforderungen waren zwar seit Salduz bekannt, sind im vorliegenden Urteil in Bezug auf Umfang und Verhältnis zueinander präzisiert worden.
Zunächst müssen von staatlicher Stelle zwingende Gründe vorgetragen werden. Zwingend bedeutete in der bisherigen Rechtsprechung, dass eine solche Beschränkung nur ausnahmsweise, zeitlich vorübergehend und auf einer individuellen Einschätzung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls geschehen darf.[13] Damit hat der EGMR bisher vor allem die Sachverhaltsebene dieser Voraussetzung betont. Im vorliegenden Urteil hat er diese Sachverhaltsebene um eine rechtliche Betrachtung ergänzt, indem er darauf abstellt, ob es für die Beschränkung eine einfachgesetzliche Grundlage gab und ob die Einschränkung unter Befolgung dieser Grundlage rechtmäßig erfolgte.[14]
Laut dem EGMR dürfe diese Voraussetzung nicht Einfallstor für allgemeine Befürchtungen sein, sondern müsse in Anbetracht der Wichtigkeit der Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK streng gehandhabt werden.[15] Damit muss die Einschätzung, ob "zwingende Gründe" vorliegen oder nicht, sich auf konkrete Vorkommnisse und Gefahren stützen. Insofern genügen weder allgemeine Befürchtungen[16] noch der Verdacht von Schwerstkriminalität[17] allein. Zutreffend hebt der EGMR hervor, dass gerade in "herausfordernden Zeiten" die Konventionsstaaten ihr Verpflichtungsgefühl gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten unter Beweis stellen müssen; auch in Fällen von organisierter Kriminalität und Terrorismus dürften Verteidigungsrechte nicht verwässert werden.[18]
Gleichzeitig solle Art. 6 EMRK aber auch nicht so angewandt werden, dass die Strafverfolgungsbehörden im Kampf gegen Terrorismus oder andere Schwerstkriminalität übergebührlich behindert werden.[19] Drohe also eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder persönliche Freiheit anderer Menschen, dann müsse den Behörden auch möglich sein, ihrer nach der Konvention bestehenden Schutzpflicht nachzukommen.[20]
Auf einer zweiten Ebene darf die Verteidigung durch diese Zugangsbeschränkung nicht unangemessen beschränkt worden sein; in einer Gesamtbetrachtung des Verfahrens muss dieses also noch fair gewesen sein. Für die Bestimmung der Fairness hat der EGMR im vorliegenden Urteil nun eine elfteilige, nicht abschließende Liste an Faktoren aufgestellt:[21] Dazu zählen unter anderem die Verletzlichkeit des Angeklagten aufgrund seiner geistigen Verfassung oder seines Alters, die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für die Hauptverhandlung, ob der Angeklagte die Beweismittel in der Hauptverhandlung angreifen konnte, ob das Beweismittel nach den jeweiligen nationalen Vorschriften gesetzlich oder ungesetzlich erlangt wurde und ob das entgegen Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK erlangte Beweismittel ein entscheidendes Beweismittel war.
In Salduz war festgehalten worden, dass ein Beschwerdeführer in der Regel in seinen Rechten aus Art. 6 Abs. 3 EMRK verletzt sei, wenn belastende Angaben aus einer Polizeivernehmung ohne Beistand eines Verteidigers in einer Hauptverhandlung gegen ihn verwendet werden.[22] Daraus wollten die Beschwerdeführer ableiten, dass ein Verfahren immer als unfair zu gelten habe, wenn keine zwingenden Gründe vorliegen. Einer solchen bright-line-rule trat der EGMR jedoch entgegen.[23] Dies habe er auch in Salduz so nicht vertreten: Dort habe er trotz des Fehlens zwingender Gründe noch die Gesamtumstände des Verfahrens analysiert und in die Urteilsfindung mit einbezogen.[24] Das Fehlen zwingender Gründe wirkt sich jedoch erheblich auf die Fairnessprüfung der zweiten Ebene aus. Denn die Abwägung der einzelnen Fairnessaspekte wird durch ein Fehlen von zwingenden Gründen maßgeblich zugunsten des Angeklagten beeinflusst. Die Beweislast, darzulegen, dass das Verfahren selbst durch
die Beschränkung nicht unangemessen beeinträchtigt war, geht auf der zweiten Prüfebene auf den Staat über.[25]
Insoweit präzisiert der EGMR, dass es sich nicht um kumulative Voraussetzungen handelt. Durch die Auswirkungen der ersten Stufe auf die Frage der Beweislast für die Fairness des gesamten Verfahrens auf der zweiten Ebene sind die Voraussetzungen zwar noch alternativ, aber als voneinander abhängig zu betrachten.
Von diesen Maßstäben ausgehend hat der EGMR zunächst eine Verletzung der Beschwerdeführer A, B und C abgelehnt:[26] Es habe ein zwingender Grund vorgelegen, ihr Recht auf Verteidigung zeitweise zu beschränken. Denn die Lage nach den Anschlägen sei unübersichtlich gewesen. Die Polizei habe nicht wissen können, ob zum damaligen Zeitpunkt noch weitere Attentäter die verhinderten Anschläge nachholen wollten. Im Zusammenhang mit den nicht gezündeten Sprengsätzen seien 18 Menschen vorläufig festgenommen worden. Diese seien jeweils isoliert worden, um zu verhindern, dass andere Verdächtige informiert und die Untersuchung durch undichte Stellen gefährdet würde.[27] Ein Zugang zu Verteidigern sei in dieser angespannten Lage nicht machbar gewesen. Dadurch seien ihre Verteidigungsrechte auch nicht unangemessen beeinträchtigt worden:[28] Sie hätten in der Hauptverhandlung die Möglichkeit gehabt, ihre als Beweismittel eingeführten Vernehmungen in Frage zu stellen, und seien zudem durch eine Vielzahl zusätzlicher Beweismittel überführt worden. Die zunächst falsche Belehrung sei versehentlich erfolgt und stelle lediglich einen zu vernachlässigenden Fehler in einer sonst insgesamt nach englischem Recht rechtmäßig durchgeführten Ermittlung dar.
Anders dagegen fiel die Bewertung dieser Maßstäbe für den Beschwerdeführer D aus: Denn dessen Verteidigungsrechte seien bereits ohne zwingenden Grund beschränkt worden. Durch die – nach englischem Recht rechtswidrig – unterlassene Belehrung habe sich D im Unklaren über seine prozessualen Rechte befunden.[29] Dabei käme dem Belehrungserfordernis durch die Strafverfolgungsbehörden erhebliche Bedeutung zu, um den Angeklagten seine Rechtsausübung überhaupt zu ermöglichen.[30] Insbesondere wenn kein Verteidiger die Rechtsausübung absichert, sei diese Aufklärungspflicht der Behörden besonders wichtig.[31] Dem insofern auf zweiter Ebene, der Gesamtfairness, beweisbelasteten Vereinigten Königreich sei der Beweis nicht gelungen, dass das Verfahren insgesamt noch fair gewesen sei.[32]
In diesem Urteil hat der EGMR wichtige Konkretisierungen für die Einschränkung des Rechts auf Verteidigung nachgereicht. Nichtsdestotrotz begegnet gerade die Subsumtion dieser Maßstäbe Bedenken.
Die abstrakte Maßstabsbildung des EGMR an sich verdient Zuspruch. Denn insoweit betont er erneut, die allgemeine Geltung der Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK, unabhängig von der Schwere des geäußerten Verdachts und positioniert sich so gegen ein Sonderstrafverfahren für bestimmte Verdächtige.[33] Bereits zuvor hat der EGMR diese Betrachtung im Hinblick auf die ebenfalls in Art. 6 EMRK garantierte Unschuldsvermutung des Angeklagten gerechtfertigt. Denn die Anwendung eines Sonderstrafverfahrens verlangt eigentlich, denjenigen nicht mehr als unschuldig zu betrachten, sondern als schuldig mit der Folge solcher prozessualen Rechtsfolgen.[34] Mit seiner konkreten Einzelfallbetrachtung tritt der EGMR einer derartigen Generalverdachtsherangehensweise grundsätzlich entgegen.
Zudem schafft er ein Einfallstor für die Berücksichtigung der einfachgesetzlich garantierten Verteidigungsrechte des Angeklagten bereits auf der Ebene der "zwingenden Gründe". Dadurch beachtet er auch auf Ebene der Eingriffsrechtfertigung die Konfliktlage zwischen der Gewährleistung von Beschuldigtenrechten und der Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern im Fall terroristischer Angriffe. Diesen Aspekt hätte er ebenso – und vielleicht passender – als Aspekt bei der Überprüfung der Gesamtfairness des Verfahrens auf der zweiten Stufe einbringen können:[35] Dass er es auf dieser Ebene macht, dürfte sich vorteilhaft für die Berücksichtigung der Verteidigungsrechte an sich auswirken, weil bei ggf. rechtswidriger Behandlung des Angeklagten im Folgenden der Staat bezüglich der Fairness des Verfahrens beweisbelastet ist.
Kritisch ist dagegen die konkrete Subsumtion des EGMR: Diese verfehlt den eigentlichen Kern des an sich streng angelegten Maßstabs.[36] Denn die Frage ist nicht lediglich, ob Leib, Leben oder persönliche Freiheit anderer Menschen gefährdet sind – sondern ob diese Gefährdung – und damit die Auslösung der Schutzpflicht des Staates durch den Zugang auf Verteidigung mitbegünstigt oder herbeigeführt wird. Dies konnte der EGMR in seinem
Urteil nicht belegen.[37] Allein die Unübersichtlichkeit der Lage und, dass noch andere Verdächtige auf freiem Fuß sein konnten, begründen zwar eine generelle Gefährdung der Bevölkerung. Den Zugang zu einem Verteidiger zu beschränken, erscheint insofern aber nur dann als geeignetes Mittel, wenn man eine Komplizenschaft der Verteidigung unterstellt. Im eigentlich umfangreichen Sachverhalt fehlt es an Anhaltspunkten, die eine derartige Gefährdung oder Komplizenschaft belegen. Stattdessen hat der EGMR unter die allgemeine Befürchtung subsumiert, durch die Beiziehung von Verteidigern könnten Informationen an die Öffentlichkeit oder Mittäter gelangen, die den Untersuchungszweck gefährden könnten. In seiner Subsumtion ist der EGMR nicht ganz deutlich, ob er tatsächlich einen Generalverdacht gegenüber der Verteidigerschaft an sich äußert[38] oder ob er lediglich unterlassen hat, in seiner Subsumtion den Maßstab umzusetzen, den er zuvor noch aufgestellt hat. Insofern hätte auch für die Beschwerdeführer A, B und C das Vorliegen "zwingender Gründe" verneint werden müssen.
Jedenfalls für die Beschwerdeführer A und C dürfte deswegen auch in der Gesamtbetrachtung das Verfahren unangemessen beeinträchtigt gewesen sein. Es erscheint fraglich, ob Großbritannien hätte belegen können, dass die Angriffsmöglichkeiten der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung noch die Gesamtfairness des Verfahrens wiederherstellen konnten.[39] Für den Beschwerdeführer B dürfte etwas Anderes gelten, weil er der Verwertung des Inhalts der Sicherheitsvernehmungen in der Hauptverhandlung zugestimmt hat.[40]
Insgesamt entspricht die zweistufige Prüfung der Rechtsprechungslinie des EGMR, im Rahmen von Art. 6 EMRK auf die Gesamtfairness des Verfahrens und nicht auf einzelne Verstöße abzustellen.[41] Diese Form der Gesamtbetrachtung begegnet grundsätzlich keinen Bedenken: Die vielgestaltigen Fallkonstellationen des Art. 6 Abs. 3 EMRK würden durch eine rein schematisch anwendbare Regel nicht immer treffend abgebildet.[42] Gleichwohl birgt eine solche, auf eine Vielzahl von Faktoren gestützte Abwägung die Gefahr nicht vorhersehbarer Judikate.
Im Fall des Beschwerdeführers D ist bedauerlich, dass der EGMR keine "bright-line-rule" bei fehlenden zwingenden Gründen etabliert hat. Die Vernehmung Ds wurde gezielt unter Umgehung seiner Rechte durchgeführt. Obwohl die zuständigen Polizeibeamten erkannt hatten, dass er als Beschuldigter belehrt werden müsste, haben sie es vorsätzlich nicht getan, um mehr Informationen zu gewinnen. Wann soll ein Verwertungsverbot überhaupt existieren, wenn nicht bei einer derart willkürlichen Umgehung der Verteidigungsrechte des Angeklagten? Grundsätzlich betont der EGMR zwar, dass die Verwertbarkeit von Beweisen den nationalen Rechtsordnungen unterliege.[43] Davon weicht der EGMR aber gerade ab, wenn es sich um einen Fall erheblichen staatlichen Fehlverhaltens handelt, wie z.B. der aktiven Beeinflussung bei der sog. rechtsstaatswidrigen Tatprovokation.[44] Zwar unterscheiden sich die Fälle der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation vom vorliegenden Fall dadurch, dass das später angeklagte Verbrechen selbst von den Strafverfolgungsbehörden in aktiver Weise verursacht wurde. Doch der Kerngedanke ist ein ähnlicher: Es geht darum, zu verhindern, dass dem Angeklagten von Beginn an, kein faires Verfahren zuteilwird. Diese Gefahr besteht jedoch auch dann, wenn die Strafverfolgungsbehörden verhindern, dass einem Angeklagten seine Rechte bekannt werden. Denn der Angeklagte, der sich zu Beginn des Ermittlungsverfahrens in Unkenntnis seiner Rechte selbst belastet, ermöglicht so die Ermittlung weiterer Beweismittel gegen ihn und verspielt so regelmäßig seine Verteidigungschancen im späteren Verfahren.
Die insgesamt wünschenswerte Konkretisierung zu den Einschränkungsmöglichkeiten von Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK werden leider im Konkreten nicht so streng gehandhabt, wie es in Anbetracht der Bedeutung dieses Rechts für den Angeklagten sein sollte. Es ist verständlich, dass der EGMR sich gerade im Fall von Terrorismusvorwürfen und Verurteilungen damit zurückhält, übermäßige Hürden für die Strafverfolgung aufzustellen. Jedoch hat er dadurch im konkreten Fall von A, B und C die Verteidigungsrechte einer abstrakten Gefährdungsbetrachtung geopfert.[45] Ein strengerer Ansatz, der die Strafverfolgungsbehörden auch in Krisensituationen zur genauen Einhaltung der Verteidigungsrechte anhält, wäre wünschenswert gewesen.
[*] Die Autorin ist Promotionsstudentin bei Prof. Dr. Karsten Gaede an der Bucerius Law School (Hamburg).
[1] Vgl. für den nachfolgenden Sachverhalt EGMR, Urteil v. 13.09.2016 – 50541/08 u.a., Ibrahim u.a. ./. GB, Rn. 14 ff.
[2] "You do not have to say anything. But it may harm your defence if you do not mention when questioned something which you later rely on in Court. Anything you do say may be given in evidence."
[3] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 137 ff.
[4] EGMR, Urteil v. 27.11.2008 – 36391/02, Salduz ./. TR, HRRS 2008 Nr. 1145.
[5] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 251.
[6] Vgl. zu diesem zeitlichen Moment des Begriffes ebenso Plekksepp, Die gleichmäßige Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand – Eine Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Gerichtsentscheidungen in Europa (2012), S. 63; Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007), S. 188; abl. dagegen das zust. Votum von Richter Mahoney v. 13.09.2016 – 50541/08 u.a., Ibrahim u.a. ./. GB, Rn. 3 ff., der für eine Vorwirkung der Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK plädiert – dies dürfte jedoch der expliziten Anklagedefinition des Gerichtshofs auch schon in früherer Rechtsprechung entgegenstehen, die de facto auch den reinen Verdacht genügen lässt, vgl. dazu grundlegend EGMR, Urteil v. 27.02.1980 – 6903/75, Deweer ./. BE, Rn. 42 f., 46.
[7] St. Rspr., EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 249; Deweer ./. BE, a.a.O. Fn. 5, Rn. 46; insoweit entspricht dieser Anklagebegriff dem Beschuldigtenbegriff des deutschen Strafprozessrechts, vgl. so zutr. Jahn, JuS 2017, 177, 178.
[8] Vgl. früher noch offen, EKMR, Entscheidung v. 11.12.1976 – 7641/76, X. u. Y. ./. DE, S. 5.
[9] S. EGMR, Urteil v. 24.11.1993 – 13972/88, Imbrioscia ./. CH, Rn. 36; Urteil v. 08.02.1996 – 18731/91, John Murray ./. GB, Rn. 62; vgl. ähnlich ebenso Urteil v. 20.06.2002 – 27715/95 u. 30209/96, Berlinski ./. PL, Rn. 75 und Entscheidung v. 12.10.2004 – 16743/03, Beale ./. GB, S. 4.
[10] EGMR, Salduz ./. TR, a.a.O. Fn. 3, Rn. 41 ff.
[11] Ebd., Rn. 52, 54; wiederholt in EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 253; dies ist jedoch abhängig von den Eigenheiten der jeweiligen Verfahrensordnung und den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, so grundlegend in Imbrioscia ./. CH, a.a.O. Fn. 8, Rn. 38.
[12] Vgl. EGMR, Salduz ./. TR, a.a.O. Fn. 3, Rn. 45.
[13] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 258; so bereits in Salduz ./. TR, a.a.O. Fn. 3, Rn. 44 f.
[14] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 258.
[15] Ebd.; krit. dazu gemeinsam abw. Votum der Richter Sajò u. Laffranque v. 13.09.2016 – 50541/08 u.a., Ibrahim u.a. ./. GB, Rn. 19 a.E., die als zusätzliches Kriterium eine unmittelbar bevorstehende Bedrohung verlangen.
[16] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 259 a.E.
[17] So jedenfalls deutlich in EGMR, Salduz ./. TR, a.a.O. Fn. 3, Rn. 44 a.E.
[18] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 252.
[19] Ebd.
[20] Ebd., Rn. 259, mit Verweis darauf, dass solche Ausnahmen vom Recht auf Verteidigungsbeistand auch in den USA und in der Richtlinie der EU zum Recht auf Verteidigungsbeistand anerkannt sind.
[21] Ebd., Rn. 274.
[22] EGMR, Salduz ./. TR, a.a.O. Fn. 3, Rn. 45 a.E.
[23] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 260.
[24] Ebd.
[25] Ebd., Rn. 264.
[26] Ebd., Rn. 275 ff.
[27] Ebd., Rn. 28, 43, 51, 278.
[28] Ebd., Rn. 280 ff.
[29] Ebd., Rn. 299; krit. zum vermeintlich zu prozessualem Ansatz unter Vernachlässigung des Gesamtbildes, vgl. gemeinsam abw. Votum der Richter Hajiyev u.a. v. 13.09.2016 – 50541/08 u.a., Ibrahim u.a. ./. GB, Rn. 11 ff., 18.
[30] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 272.
[31] Ebd., Rn. 273; ebenso in Urteil v. 18.02.2010 – 39660/02, Aleksandr Zaichenko ./. RU, HRRS 2010 Nr. 228, Rn. 86.
[32] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 302 ff.
[33] Vgl. EGMR, Urteil v. 09.06.1998 – 25829/94, Teixeira de Castro ./. PT, Rn. 36 (in Fällen organisierter Drogenkriminalität); Urteil v. 17.12.1996 – 19187/91, Saunders ./. GB, Rn. 74 (bei Umfangsverfahren); John Murray ./. GB, a.a.O. Fn. 8, Rn. 62 ff. (bei Terrorismusvorwürfen); zust. Gaede, a.a.O. Fn. 5, S. 707 ff.; ebenso Esser, in: Esser/Günther u.a. (Hrsg.), FS H.-H. Kühne (2013), S. 541 bezgl. eines rechtsstaatlich organisierten Strafverfahrens.
[34] S. Gaede, a.a.O. Fn. 5, S. 709.
[35] Dazu krit. das abw. Votum der Richter Hajiyev u.a., Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 29, Rn. 15.
[36] Ebenso das abw. Votum der Richter Sajò und Laffranque, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 15, Rn. 22.
[37] EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 278.
[38] Insofern krit. Seet, C.L.J. 74 (2015), 208, 209 f.
[39] Vgl. zu den prozessualen Möglichkeiten und der Gesamtabwägung, EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 280 ff.; dazu, dass auch bei Vorliegen zwingender Gründe, die Abwägung eine Verletzung von A, B und C hätte ergeben müssen, vgl. Seet, C.L.J. 74 (2015), 208, 210.
[40] Vgl. für B, EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 64 f., 69 f., 282; dazu, dass das Verfahren grds. fair ist, wenn ein zuvor konventionswidrig erlangtes Geständnis in der Hauptverhandlung freiwillig wiederholt wird: Urteil v. 30.06.2008 – 22978/05, Gäfgen ./. DE, HRRS 2008 Nr. 627, Rn. 107 f.
[41] Vgl. dazu m.w.N. EGMR, Ibrahim u.a. ./. GB, a.a.O. Fn. 1, Rn. 250.
[42] A.A. Jahn, JuS 2017, 177, 178 a.E.
[43] Vgl. m.w.N. EGMR, Urteil v. 23.10.2014 – 54648/09, Furcht ./. DE, HRRS 2014 Nr. 1066, Rn. 47.
[44] So z.B. bei der sog. rechtsstaatswidrigen Tatprovokation, ebd., Rn. 65; in der dt. Rspr. umgesetzt als absolutes Verfahrenshindernis, vgl. BGH, Urteil v. 10.06.2015 – 2 StR 97/14, HRRS 2015 Nr. 1104, Rn. 40 ff.
[45] Insgesamt krit. Seet, C.L.J. 74 (2015), 208, 211 ("disappointing").