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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2017
18. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Christian Fahl, Greifswald[*]
Das Urteil des Bundesgerichtshofs in der Sache Oskar Gröning ist zu begrüßen. Der Prozess gegen den in der Presse als "Buchhalter" oder – entsprechend seiner ursprünglichen Verwendung in verschiedenen Besoldungsstellen – auch "Zahlmeister der SS" bezeichneten Oskar Gröning, wurde möglich durch das Demjanjuk-Urteil des LG München II,[1] das jedoch nicht rechtskräftig geworden ist, weil der Angeklagte vor der Entscheidung über seine Revision im Alter von 91 Jahren verstorben ist.
Der vorliegende Beschluss ist damit die erste Stellungnahme des obersten deutschen Strafgerichts seit Jahrzehnten – aber nicht die erste zu den Geschehnissen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. In den 1960er Jahren hatte der Bundesgerichtshof[2] schon einmal über eine Revision gegen einige Freisprüche im – für die Bedeutung der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts gar nicht hoch genug einzuschätzenden und maßgeblich durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer beförderten – Frankfurter Auschwitz-Prozess[3] zu befinden. Der Bundesgerichtshof bestätigte damals die Freisprüche mit der Erwägung, dass nicht jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers eingegliedert war und dort irgendwie anlässlich dieses Programms tätig wurde, für alles, was auf Grund dieses Programms geschah, verantwortlich zu machen sei.
Auf der Grundlage dieser Entscheidung sind in den folgenden Jahrzehnten bis zum Demjanjuk-Prozess viele Verfahren gegen SS-Wachmannschaften eingestellt worden, bei denen zwar die Zugehörigkeit zum SS-Wachbataillon, aber keine konkrete Einzeltat, wie z.B. die Erschießung eines Häftlings – eine sog. Exzesstat – nachzuweisen war. Diese Auslegung des Gesetzes war falsch.[4] Nicht nur stand die Verurteilung wegen der Mitwirkung an der Erschießung einer Handvoll Geflohener im merkwürdigen Widerspruch zu der ungesühnten Mitwirkung an der Vergasung Zehntausender, die Ansicht war auch kaum in Einklang zu bringen mit den allgemeinen Grundsätzen der Beteiligungsdogmatik. Es bedarf keines konkreten Einzeltatnachweises, um eine Beihilfe zur Ermordung der in den Konzentrationslagern eingepferchten Menschen durch das Geleit zu den Gaskammern, Bewachung, Beaufsichtigung von Arbeitseinsätzen etc.[5] anzunehmen. Der Bundesgerichtshof gibt damit nun – ohne es zu zitieren – indirekt auch dem LG München II recht, das sich als erstes Gericht von dieser jahrzehntelang praktizierten falschen Rechtsauffassung gelöst hatte.
Wie es zu dieser für die Tausenden von Wachleuten günstigen Entwicklung im Anschluss an das Auschwitz-Urteil kommen konnte, erscheint im Nachhinein kaum noch nachvollziehbar. Mangelnden Verfolgungswillen wird man dem einzelnen Staatsanwalt und der Ludwigsburger Zentralstelle kaum unterstellen können: War es also ein auch dort vorherrschendes Missverständnis der Entscheidung des 2. Senates aus dem Jahre 1969, von der "diese Praxis… in keiner Weise gedeckt" wurde, wie Roxin schreibt,[6] oder fehlten schlicht die Richter und Staatsanwälte für die Tausende von Verfahren, die sonst nötig gewesen wären, wie Roxin[7] vermutet?
Der Bundesgerichtshof übt sich im "distinguishing": Dem Angeklagten werde nicht "alles" zugerechnet, was in Auschwitz geschah; vielmehr gehe es um "die im Rahmen des fest umgrenzten Komplexes der ‚Ungarn-Aktion‘ durchgeführten Mordtaten". Das geht es freilich immer. Der BGH selbst erwähnt die "Aktion Reinhard", bei der im Anschluss an die Ermordung des (stellvertretenden) Reichsprotektors (von Böhmen und Mähren) und RSHA-Chefs, Reinhard Heydrich, in Prag zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 über zwei Millionen Juden und rund 50.000 Roma aus den Distrikten des Generalgouvernements (Warschau, Lublin, Radom, Krakau und Galizien) ermordet wurden. Auch sei der Angeklagte Oskar Gröning nicht "irgendwie anlässlich des Vernichtungsprogramms" tätig geworden, sondern es seien "konkrete Handlungsweisen des Angeklagten mit unmittel-
barem Bezug[8] zu dem organisierten Tötungsgeschehen… festgestellt". – Das ist freilich auch stets mehr oder weniger der Fall: Der Bundesgerichtshof stellt u.a. darauf ab, dass der Angeklagte – "uniformiert und mit einer Pistole bewaffnet" – der Senat sagt: "während der Ausübung seiner ‚Rampendienste‘" – aber natürlich auch sonst – "Teil der Drohkulisse" war, "die jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht bereits im Keim ersticken sollte".[9] Das waren freilich alle Uniform- und Waffenträger im "Dritten Reich", von denen es weiß Gott viele gab, nicht nur Wehrmachtsangehörige und Polizisten etwa, sondern auch Zivilisten. Der BGH betont: "Überdies oblag es dem Angeklagten während seiner Diensttätigkeit jederzeit, die Deportierten zu überwachen und Widerstand oder Fluchtversuche nötigenfalls mit Waffengewalt zu unterbinden".[10] Das trifft ebenfalls auf das gesamte Lagerpersonal ungeachtet seiner Funktion zu.
Der BGH nähert sich damit der – freilich damals vom 2. Strafsenat bewusst zurückgewiesenen[11] – Position von Bauer, der die Ansicht vertrat, dass jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert war und dort irgendwie anlässlich dieses Programms tätig wurde, sich objektiv an den Morden beteiligt habe und für alles Geschehene verantwortlich sei.[12] – "Im Ausgangspunkt zutreffend" habe das LG darauf hingewiesen, dass der Angeklagte "durch seine allgemeine Dienstausübung bereits den Führungspersonen in Staat und SS Hilfe leistete"[13] – in dem Sinne, "dass die Verantwortlichen in Staat und SS jederzeit ein in Auschwitz zu exekutierende Vernichtungsaktion beschließen und anordnen konnten, weil auf die dortige Umsetzung ihrer verbrecherischen Befehle Verlass war".[14] Das gilt freilich in ähnlicher Weise auch für den Befehl, Polen oder Russland zu überfallen.
Der BGH wird in Zukunft womöglich entscheiden müssen, wie sich ein Sanitäter strafbar gemacht hat, der – während seines einmonatigen Dienstes in Auschwitz-Birkenau – möglicherweise nichts anderes getan hat, als den SS-Wachmannschaften ein Pflaster zu kleben. Würde man ausnahmslos alle, die im NS-Staat Uniform, Waffen oder auch nur Parteiabzeichen trugen, wegen Beihilfe zum Massenmord bestrafen wollen, so würde nicht einmal derjenige straffrei sein, der unter diesem Deckmantel ausschließlich Gutes tat. Nicht einmal Behinderungen des Mordapparates wären dann straffrei.[15] Auch Roxin hält hier eine Einschränkung für nötig: Er meint, dass Handlungen nur dann als strafbare Beihilfe beurteilt werden dürfen, wenn sie eine "deliktischen Sinnbezug" aufweisen,[16] und dass die Bereitstellung einer ärztlichen Behandlung auch keine "psychische Beihilfe" ist, weil solche "neutralen Handlungen" keine Zustimmung zu den im KZ begangenen Verbrechen ausdrücken.[17] Etwas unklar ist allerdings, ob das nur auf die ärztliche Versorgung der Häftlinge gemünzt ist und die ärztliche Versorgung des an der Tötungsmaschinerie beteiligten Personals – nach Roxin – nicht doch einen hinreichenden "deliktischen Sinnbezug" aufwiese.[18] Ich habe vorgeschlagen, die Grenze da zu ziehen, wo das fragliche Tun des Gehilfen als "Solidarisierung" mit der Tat und den Tätern zu verstehen ist. Denn dann verliert es seinen "Alltagscharakter" und handelt es sich nicht mehr um ein "neutrales" Verhalten.[19] Nach diesen Grundsätzen kann die Hilfeleistung, die unabhängig von den kriminellen Absichten des Haupttäters einen eigenständigen erlaubten Sinn behält (z.B. ärztliche Versorgung), keine strafbare Beihilfe darstellen.[20] Wer einen anderen verarztet oder ihm einen Zahn zieht, der solidarisiert sich nach allgemeiner Auffassung dadurch noch nicht mit dem, was der andere tut. Das schließt es nicht aus, dass auch ein Sanitäter sich im Einzelfall doch strafbar gemacht hat, z.B. bei den sog. Selektionen oder auch als "Desinfektor".[21] Dafür bedarf es dann aber eben über die Zugehörigkeit zur Sanitätsstaffel hinaus doch eines sog. Einzeltatnachweises.[22]
Warum die Staatsanwaltschaften freilich noch immer davor zurückschrecken, die Wachmannschaften anderer Konzentrationslager anzuklagen, die nicht zu den "Vernichtungs-" oder "Todeslagern" im eigentlichen Sinne (Auschwitz II, Belzec, Chelmno, Sobibor, Treblinka) gehörten, ist unverständlich.[23] Tatsächlich war Hubert Zafke, der SS-Sanitäter, offenbar von Oktober 1943 bis Januar 1944 im Stammlager (Auschwitz I) eingesetzt. Die Anklage beschränkt sich aber auf einen einzigen Monat, den er in Auschwitz II (Birkenau) Dienst tat. Die Unterscheidung geht erst auf die spätere Wissenschaft zurück. Die Nationalsozialisten selbst haben nicht zwischen Todeslagern und andern Lagern unterschieden. Sie alle waren Teil des Vernichtungssystems (Stichwort: "Vernichtung durch Arbeit"[24] ). Auch in diesen Lagern (Bergen-Belsen, Dachau, Ravensbrück, Theresienstadt uvm.) ist gelitten und gestorben worden.
Hier droht erneut ein später kaum noch gut zu machendes und kaum zu erklärendes Versäumnis der deutschen Nachkriegsbehörden.[25] Denn die Anklage all jener, die als kleines Rad der Vernichtungsmaschinerie zum Gelingen der "Endlösung" beigetragen haben, wegen Beihilfe zum Mord an den während ihres Lagereinsatzes in dem betreffenden Lager ermordeten Opfern ist dogmatisch konsequent und überfällig.[26] Das gilt für diejenigen, die innerhalb des Lagers, z.B. als Rapportführer, Schutzhaftlagerführer oder dergleichen, Dienst taten, ebenso wie für die, die nur außerhalb des Lagers zur Bewachung eingesetzt waren – und dabei Waffen und Uniform trugen – und darüber hinaus für alle, die – Vorsatz immer vorausgesetzt[27] – physische oder psychische[28] Beihilfe geleistet haben, z.B. durch das Zusammenstellen, Begleiten und Bewachen der Deportationszüge am Ausgangsort. Letztlich gilt das sogar für die bei der mittelständischen Firma Topf & Söhne, welche die Verbrennungsöfen für die Konzentrationslager konstruierte, lieferte und wartete, in Erfurt angestellten Nicht-Waffenträger, für den Hersteller des Rattengifts Zyklon B und für die im Demjanjuk-Urteil erwähnten Reichsbahnangehörigen, die die Deportationszüge bereit gestellt oder als Lokführer nach Auschwitz gelenkt haben.
* Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Greifswald.
[1] LG München II, Urt. v. 12.5.2011 – 1 KS 115 JS 12496/08 – dazu bereits Fahl HRRS 2015, 210; s. auch Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, 339; zu demselben Fall auch schon Fahl ZJS 2011, 229, 230.
[2] BGH, Urt. v. 20.2.1969 – 2 StR 280/67 = NJW 1969, 2056.
[3] LG Frankfurt a.M., Urt. v. 19./20.8.1965 – 4 Ks 2/63.
[4] So bereits Fahl HRRS 2015, 210, 216.
[5] Vgl. auch schon Fahl ZJS 2011, 229, 230.
[6] Roxin JR 2017, 88, 89; s. dazu auch Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, 339, 348 ff.
[7] Roxin JR 2017, 88, 89.
[8] Roxin JR 2017, 88, 89, sieht darin eine ausdrückliche Bestätigung seines, von ihm für die Strafbarkeit geforderten "deliktischen Sinnbezugs".
[9] BGH Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16, Rn. 11.
[10] BGH Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16, Rn. 12.
[11] BGH NJW 1969, 2056, 2056 f.
[12] Siehe Bauer JZ 1967, 625, 628.
[13] BGH Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16, Rn. 22.
[14] BGH Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16, Rn. 25.
[15] Vgl. zu diesem argumentum ad absurdum bereits BGH NJW 1969, 2056, 2057.
[16] Roxin JR 2017, 88.
[17] Roxin JR 2017, 88, 89; anders Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, 339, 349, wonach jede noch so unverfängliche Tätigkeit, die sich konstruieren lasse, dort Beihilfe gewesen sei, selbst die Versorgung der Arbeitshäftlinge mit Lebensmitteln.
[18] Bei Oskar Gröning fehlt dieser Bezug freilich nicht, da sein "Rampendienst" zwar nicht, wie der Dienst auf den dort aufgestellten hölzernen Wachtürmen, der Bewachung der Ankommenden, sondern des dort zurückzulassenden Gepäcks diente – nicht weil Diebstähle durch SS-Angehörige an jüdischem Eigentum nicht stillschweigend akzeptiert worden wären, sondern weil das nicht vor den Augen der Häftlinge geschehen sollte –, was nötig war, "um deren für den weiteren Ablauf der Selektion und Vergasung für unerlässlich gehaltene Arglosigkeit nicht zu gefährden", so ausdr. BGH, Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 49/16, Rn. 11; wie Roxin JR 2017, 88, 89, richtig schreibt, bezog sich die Buchung und Weiterleitung der erbeuteten Wertgegenstände auch deshalb auf die im KZ verübten Morde, weil es sich um Raubmorde gehandelt hat. Überhaupt kann zwar die Tätigkeit von SS-Wachleuten in gewisser Weise "berufstypisch" sein (wie die von Wärtern im Justizvollzugsdienst), aber eben nicht (im wahrsten Sinne des Wortes) "neutral". Oder anders ausgedrückt: deren "Beruf" war "Mord". Das führt zur Strafbarkeit und schließt sie nicht aus! Siehe auch Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, 339, 345, zur Revision im erstinstanzlich vor dem LG Bonn geführten sog. Kulmhof (Chelmno)-Verfahren, in dem die Angeklagten vorbrachten, sie seien rechtsfehlerhaft als Gehilfen verurteilt worden, weil sie lediglich eine Tätigkeit ausgeübt hätten, "dies sich… im Rahmen der damaligen Aufgaben der Schutzpolizei gehalten habe, also ‚wertneutral‘ gewesen sei".
[19] Fahl HRRS 2015, 210, 217 m.w.N. zum "Solidarisierungsgedanken" auch aus der Rspr.
[20] Vgl. zu diesem Gedanken Murmann, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), StGB, Kommentar, 3. Aufl. (2016), § 27 Rn. 6.
[21] So nannte man die "Sanitäter", die nach einer Zusatzausbildung im Umgang mit Zyklon B das Vergasungsmittel in die Gaskammern geworfen haben.
[22] So bereits Fahl HRRS 2015, 210, 217; abw. Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, 339, 348 ff.
[23] Abweichend – im Sinne der Beschränkung der neu gewonnenen Beihilfegrundsätze auf sog. Vernichtungslager – Kurz ZIS 2013, 122, 128; s. auch Werle/Burghardt, Beulke-FS, 2015, 339, 351, die lediglich die Besonderheiten der beiden "multifunktionalen" Vernichtungslager Auschwitz(-Birkenau) und Majdanek hervorheben, aber darüber augenscheinlich auch nicht hinaus gehen wollen.
[24] Siehe dazu jetzt auch Rommel NStZ 2017, 161, 162, unter Verweis auf die Entscheidung des LG Detmold v. 17.6.2016 im Fall Hanning .
[25] Vgl. auch Grünewald NJW 2017, 500, 501, zur beschämenden Seite des Beschlusses; s. auch Safferling JZ 2017, 258 ff.
[26] So bereits Fahl HRRS 2015, 210, 217.
[27] Wobei freilich nach allgemeinen Regeln dolus eventualis ausreicht.
[28] Das mag die Deutschen betreffen, die beim Zusammentreiben der jüdischen Bevölkerung die Kolonnen begleiteten und klatschten.