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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2017
18. Jahrgang
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1. Das Recht auf Verteidigerbeistand ist eines der fundamentalen Bestandteile eines jeden fairen Strafverfahrens. Seine Missachtung kann für eine Konventionsverletzung für sich genommen genügen. Dies ist aber nicht stets der Fall. Es kommt auch diesbezüglich regelmäßig auf eine Betrachtung der Fairness des gesamten Verfahrens an.
2. Ob die Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist, ist in zwei Schritten zu prüfen. Zunächst muss das Gericht darüber entscheiden, ob zwingende Gründe für die Beschränkung bestehen. In einem zweiten Schritt muss das Gericht den Einfluss der Beschränkung auf die Gesamtfairness des Verfahrens abschätzen und entscheiden, ob das Verfahren insgesamt fair war. Fehlt ein zwingender Grund, macht dies die Verwertung von Aussagen, die während der Beschränkung vom Beschuldigten erlangt worden sind, nicht stets gemäß Art. 6 EMRK unzulässig. Allerdings ist in diesen Fällen eine sehr strikte Prüfung der Gesamtfairness notwendig. Der verantwortliche Vertrags-
staat muss hier überzeugend darlegen, weshalb das konkrete Verfahren ausnahmsweise noch fair gewesen sein sollte.
3. Ein zwingender Grund kann vorliegen, wenn überzeugend dargelegt wird, dass eine Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger dringend erforderlich ist, um schwere nachteilige Folgen der Straftat für Leben, Freiheit oder physische Integrität zu vermeiden. In dem Fall sind die Behörden verpflichtet, die Rechte von potentiellen oder tatsächlichen Opfern aus den Art. 2, 3 und 5 I EMRK zu schützen. Die unspezifische Behauptung der Behörden, dass durch Verteidigerbeistand ungewollt sensible Informationen an die Öffentlichkeit kämen und andere Verdächtigte gewarnt würden, stellt für sich genommen hingegen keinen zwingenden Grund dar. Ebenso ist auch in einer Lage, in der schwere nachteilige Folgen der Straftat für Leben, Freiheit oder physische Integrität zu vermeiden sind, unzulässig, eine als Beschuldigte angesehene Person fernab der gesetzlichen Regelungen als Zeugen zu vernehmen, ohne sie über ihr Schweigerecht und das grundsätzliche Recht auf Verteidigerbeistand zu belehren.
4. Bei der Untersuchung, ob die Verwertung der während der Befragung getätigten Aussagen das Strafverfahren als Ganzes unfair gemacht haben, muss insbesondere das Gewicht der Nachteile für die Rechte des Angeklagten berücksichtigt werden. Zu einem Einzelfall, in dem die Verwertung durch den EGMR auf der Basis zwingender Gründe (Terrorismusabwehr) trotz einer problematischen Belehrung auch im Licht der übrigen Beweise als zulässig erachtet wurde.
1. Die aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitende Unschuldsvermutung schließt es nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten. An diesen dürfen auch Rechtsfolgen ohne Strafcharakter geknüpft werden.
2. Aus der Begründung solcher Entscheidungen muss allerdings deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage.
3. Die Begründung der Mitteilung über ein Absehen von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG verstößt gegen die Unschuldsvermutung, wenn sie die Formulierung enthält, der Beschuldigte habe „sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht“, und damit nicht mehr nur als gebotene Beschreibung einer Verdachtslage ausgelegt werden kann.
1. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange anzunehmen, wie in dem gerichtlichen Verfahren eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff beseitigt werden kann.
2. Darüber hinaus verpflichtet Art. 19 Abs. 4 GG die Gerichte allerdings, in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe vom Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses auch dann auszugehen, in denen sich die direkte Belastung durch den Eingriff typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann.
3. Die Gewährung von Akteneinsicht für den Bevollmächtigten der Nebenklägerin in einem Strafverfahren kann im Einzelfall einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Angeklagten auf informationelle Selbstbestimmung beziehungsweise sein allgemeines Persönlichkeitsrecht darstellen.
4. Insoweit ist der konkret betroffene Akteninhalt zu würdigen, wobei für eine besondere Eingriffsschwere sprechen kann, dass dort Einlassungen des wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen Angeklagten enthalten sind, die nicht nur die in Rede stehenden Taten, sondern auch Einzelheiten seiner Beziehung zur Kindesmutter betreffen.
5. Der Grundrechtseingriff wird außerdem dadurch vertieft, dass der Nebenklägerin im Verlauf des Verfahrens mehrfach ohne die – grundsätzlich gebotene – vorherige Anhörung des Beschuldigten Akteneinsicht gewährt worden ist, so dass dieser keine Gelegenheit hatte, seine Einwendungen gegen die Akteneinsicht geltend zu machen.
1. Kritisiert ein Beschuldigter schriftlich das Verhalten der Polizei bei einer gegen ihn gerichteten Wohnungsdurchsuchung und äußert er dabei den Verdacht, ein Polizeibeamter habe die Gelegenheit genutzt, um bei ihm unerlaubte Substanzen zu deponieren, so handelt es sich bei der Äußerung weder um eine Schmähkritik, die ohne Abwägung zwischen dem Gewicht der Persönlichkeitsbeeinträchtigung und dem Grundrecht der Meinungsfreiheit generell strafbar wäre, noch um eine vom Schutz der Meinungsfreiheit nicht erfasste reine Tatsachenbehauptung.
2. Allerdings hat mit Blick auf die genannte Verdachtsäußerung die Meinungsfreiheit im Rahmen der gebotenen Abwägung hinter den Belangen der persönlichen Ehre zurückzutreten, weil der konkrete Vorwurf eines strafbaren Verhaltens den Polizeibeamten schwer diffamiert.
1. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage rechtfertigt.
2. Die Darlegungsanforderungen werden nicht überspannt, wenn das Oberlandesgericht einen Klageerzwingungsantrag als nicht den Formerfordernissen genügend bewertet, der ganz überwiegend aus eingescannten Dokumenten zusammengefügt ist und in den übrigen Teilen keine substantiellen Ausführungen enthält, die die Prüfung einer Strafbarkeit erlauben würden.