HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2017
18. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

200. BVerfG 2 BvR 2584/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar 2017 (KG)

Eintragung einer spanischen Schnellverurteilung in das Bundeszentralregister (keine unionsrechtliche Determiniertheit der inländischen Verwendung von Registereintragungen aus einem anderen Mitgliedsstaat; gegenseitige Anerkennung: grundsätzliches Vertrauen gegenüber Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz; Vereinbarkeit mit den unabdingbaren grundrechtlichen Mindeststandards; Pflicht zur Nachprüfung bei substantiiert dargelegten Einwänden; Rechtsschutzgarantie; Vorrang der Beseitigung von Verfahrensmängeln im erkennenden Staat; Zumutbarkeit der Rechtsmitteleinlegung; grundlegende Einwände gegen das Schnellverfahren in Spanien; Grundsatz des fairen Verfahrens; Willkürverbot; nicht nachvollziehbare Würdigung des Vortrags des Betroffenen).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; § 53a Abs. 2 BZRG; § 54 Abs. 1 BZRG; § 55 Abs. 1 BZRG; § 55 Abs. 2 Satz 3 BZRG; § 23 EGGVG

1. Nach dem Rahmenbeschluss 2009/315/JI des Rates speichern die Registerbehörden der Mitgliedstaaten Informationen über im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates ergangene und in das dortige Strafregister eingetragene Verurteilungen eigener Staatsangehöriger und leiten diese auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats weiter. Der Rahmenbeschluss trifft jedoch keine Regelung über die innerstaatliche Verwendung der ge-

speicherten Daten, so dass diese nicht unionsrechtlich determiniert ist.

2. Einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ist im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Dieses Vertrauen wird jedoch erschüttert, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen grundrechtliche Mindeststandards darlegt. Mit derartigen Darlegungen haben sich die Fachgerichte auseinanderzusetzen; die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG erstreckt sich auch hierauf.

3. Im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG sind die Gerichte dazu aufgerufen, Entscheidungen über die Eintragung einer ausländischen Verurteilung im Bundeszentralregister auf ihre Vereinbarkeit mit den unabdingbaren grundrechtlichen Mindeststandards hin zu überprüfen. Diesen Prüfungsauftrag dürfen sie mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht dadurch verengen, dass sie die Feststellungen des einzutragenden Urteils auch dann ohne Weiteres übernehmen, wenn der Vortrag des Antragstellers konkret Anlass zur Prüfung gegeben hätte.

4. Allerdings kann sich der Betroffene auf eine Verletzung seiner Verfahrensrechte durch den erkennenden Staat nur berufen, wenn er alles ihm nach den Umständen des jeweiligen Falles Zumutbare unternommen hat, um die behaupteten Verfahrensmängel vor dem zuständigen Gericht des erkennenden Staates, gegebenenfalls im Rechtsmittelweg, zu beseitigen. Die Einlegung eines Rechtsmittels ist dem Betroffenen nicht zumutbar, wenn ihm eine Rechtsmittelbelehrung nicht oder nicht in einer ihm verständlichen Sprache erteilt worden ist oder wenn seine Freilassung vor Ort an einen Rechtmittelverzicht geknüpft worden ist.

5. Ein Gericht verletzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn es eine beantragte Beweiserhebung mit Blick auf das zu der Verurteilung führende Verfahren unterlässt, obwohl der Betroffene substantiiert dargelegt und auch Beweis dafür angeboten hat, dass das gegen ihn ergangene Urteil die tatsächlichen Gegebenheiten hinsichtlich der Anwesenheit eines Verteidigers sowie der Anhörung durch einen Richter unzutreffend wiedergibt.

6. Die Rechtsschutzgarantie wird außerdem dadurch verletzt, dass das Gericht Einwände gegen das zu der Verurteilung führende Verfahren – hier: ein spanisches Schnellverfahren – pauschal zurückweist, obwohl der Betroffene insoweit detailliert und unter Berufung auf einen Fachaufsatz dargelegt hatte, dass das Verfahren in seiner rechtlichen Konzeption und allgemeinen praktischen Handhabung gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt.

7. Eine gerichtliche Entscheidung verstößt gegen das Willkürverbot, wenn sie den Vortrag des Betroffenen in nicht nachvollziehbarer Weise würdigt, indem sie etwa auf tatsächlich nicht vorhandene Widersprüche verweist oder das Fehlen tatsächlich vorhandener Ausführungen beanstandet.


Entscheidung

199. BVerfG 2 BvR 2272/16 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar 2017 (LG Heilbronn / AG Heilbronn)

Einspruch gegen einen Strafbefehl (Recht auf rechtliches Gehör; grundsätzlich keine Pflicht zur Bescheidung jeden Vorbringens; Gehörsverstoß bei besonderen Umständen des Einzelfalls; Übergehen von Hinweisen auf mangelnde Deutschkenntnisse des Beschuldigten; Wirksamkeit der Zustellung; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 37 Abs. 3 StPO; § 410 StPO; § 187 Abs. 2 GVG

1. Das Recht auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte nicht, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, sofern sich nicht aus den besonderen Umständen des Falles Gegenteiliges ergibt.

2. Das Recht auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn ein Gericht im Verfahren über den Einspruch gegen einen Strafbefehl davon ausgeht, der Beschuldigte spreche hinreichend deutsch, ohne sich damit auseinanderzusetzen, dass dieser über seinen Verteidiger auf einen ausdrücklichen Vermerk in der Strafanzeige hingewiesen hat, wonach der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht mächtig ist.


Entscheidung

198. BVerfG 2 BvR 1541/15 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. Dezember 2016 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Anspruch eines Strafgefangenen auf Einsicht in seine Krankenakte (Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; Informationsinteresse und Selbstbestimmungsrecht des Patienten; stärkere Gefährdung des Selbstbestimmungsrechts und erhöhtes Informationsinteresse im Strafvollzug und Maßregelvollzug; Einschränkung des Akteneinsichtsrechts nur bei gewichtigen entgegenstehenden Belangen; Interessenabwägung); Recht auf effektiven Rechtsschutz (Absehen von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung; Leerlaufen des Rechtsmittels; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; Abweichen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 8 EMRK; § 109 StVollzG; § 116 Abs. 1 StVollzG; § 119 Abs.  3 StVollzG; Art. 203 BayStVollzG; Art. 10 Abs. 5 BayDSG

1. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet seinem Träger auch Zugang zu über ihn gespeicherten persönlichen Daten. Danach steht jedem Patienten gegenüber seinem Arzt grundsätzlich ein Anspruch auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen zu. Dieses Einsichtsrecht muss nur zurücktreten, wenn ihm entsprechend gewichtige Belange entgegenstehen.

2. Bei der danach gebotenen Abwägung kommt dem Informationsinteresse des Patienten regelmäßig erhebli-

ches Gewicht zu. Wegen des Bezugs von Krankenunterlagen zur Privatsphäre des Patienten und der Bedeutung der enthaltenen Informationen für selbstbestimmte Entscheidungen des Behandelten hat dieser ein geschütztes Interesse daran zu erfahren, wie mit seiner Gesundheit umgegangen worden ist, welche Daten sich dabei ergeben haben und wie man die weitere Entwicklung einschätzt.

3. Dieser grundrechtlich verankerte Anspruch besteht gerade auch dann, wenn der Patient im Strafvollzug oder Maßregelvollzug untergebracht ist, weil hier das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in stärkerem Maße gefährdet ist als bei privatrechtlichen Behandlungsverhältnissen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das Vertrauensverhältnis zu dem behandelnden Arzt und die fehlende Möglichkeit, ein Behandlungsverhältnis zu beenden.

4. Der Anspruch auch von Patienten, denen die Freiheit entzogen ist, auf Einsicht in ihre Krankenakten wird durch die Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstrichen.

5. Die Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer, die einem Strafgefangenen ohne Nennung konkreter Ausschlussgründe und ohne Abwägung mit dessen Selbstbestimmungsrecht die Einsicht in seine Krankenakte verwehrt und ihn lediglich auf einen von ihm näher zu begründeten Anspruch auf Aktenauskunft verweist, verletzt den Betroffenen in seinem grundrechtlich geschützten Informationsinteresse.

6. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs.  3 StVollzG von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leer läuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, weil sie von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.


Entscheidung

196. BVerfG 1 BvR 1593/16 (3. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 16. Januar 2017 (OLG München / LG Ingolstadt)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung durch Verwendung des Akronyms „ACAB“ bei einem Fußballspiel (Schutzbereich und Schranken der Meinungsfreiheit; Wechselwirkungslehre; Kollektivbeleidigung; Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung; persönliche Betroffenheit der Mitglieder des Kollektivs; hinreichende Individualisierung des negativen Werturteils).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; § 185 StGB

1. Das Tragen einer Weste mit dem deutlich sichtbaren Aufdruck „A. C. A. B.“ (als Abkürzung für die allgemein und auch bei der Polizei bekannte englische Parole „all cops are bastards“) im Brustbereich bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck und fällt damit in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.

2. Der in einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Beleidigung liegende Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt, wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung nicht beachtet worden sind.

3. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen dabei jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.

4. Eine herabsetzende Äußerung, die nicht erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne Individualisierung ein Kollektiv erfasst, kann unter bestimmten Umständen als Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs gewertet werden. Dabei ist die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds des Kollektivs allerdings umso schwächer, je größer das Kollektiv ist.

5. Für die Annahme, eine alle Angehörigen einer Gruppe – hier: alle Polizeibeamten – erfassende Äußerung beziehe sich tatsächlich nur auf eine abgegrenzte Personengruppe – hier: auf die Parole wahrnehmende Polizeikräfte am Rande eines Fußballspiels – bedarf es konkreter Anhaltspunkte, die auf eine hinreichende Individualisierung des negativen Werturteils schließen lassen. Hierfür reicht der bloße Aufenthalt des Beschuldigten in einem Fußballstadion in dem Bewusstsein, dass dort die Polizei präsent ist, ebensowenig aus wie das Passieren einer mit Ordnern und Polizeibeamten besetzten Eingangskontrollstelle.


Entscheidung

197. BVerfG 2 BvR 476/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19. Januar 2017 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Strafvollzug (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Verbot der Rechtswegverkürzung durch Außerachtlassen des verfolgten Rechtsschutzziels; Maßnahmebegriff; Ablösung von der Arbeit; konkludente Ablehnung einer Krankschreibung durch den Anstaltsarzt); Absehen von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung (Leerlaufen des Rechtsmittels; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; offensichtliches Abweichen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 109 StVollzG; § 116 Abs. 1 StVollzG; § 119 Abs.  3 StVollzG; Art. 43 BayStVollzG

1. Legt ein Gericht den Verfahrensgegenstand in einer Weise aus, die das erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, und verstellt es sich dadurch die an sich gebotene Sachprüfung, so liegt darin eine Rechtswegverkürzung, die den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

2. Von einer derartigen Rechtsschutzverkürzung ist auszugehen, wenn eine Strafvollstreckungskammer den Feststellungsantrag eines Strafgefangenen hinsichtlich der von ihm begehrten Ablösung von seiner Arbeit als unzulässig verwirft, weil es an einer Maßnahme der Anstalt i. S. d. §§ 109 ff. StVollzG fehle, obwohl der Gefangene vorträgt, sein Begehren, krankgeschrieben oder von der Arbeit abgelöst zu werden, mehrfach erfolglos gegenüber dem Anstaltsarzt geäußert zu haben. Ein derartiger Antrag richtet sich nicht nur gegen eine Untätigkeit des Anstaltsarztes, sondern auch gegen die – zumindest konkludente – fortgesetzte Ablehnung des Begehrens durch diesen Arzt, in dessen Kompetenz jedenfalls die erstrebte Krankschreibung fällt.

3. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs.  3 StVollzG von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leer läuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, weil sie offensichtlich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.