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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2016
17. Jahrgang
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1. Ein Angeklagter kann eine Entscheidung nur dann zulässig anfechten, wenn er durch sie beschwert ist. Dies bedeutet, dass die Urteilsformel einen unmittelbaren Nachteil für den „Beschwerten“ enthalten muss, der seine Rechte und geschützten Interessen unmittelbar beeinträchtigt. Es genügt nicht, wenn ihn nur der Inhalt der Urteilsgründe in irgendeiner Weise belastet (st. Rspr.).
2. Die Freisprechung wegen nicht erwiesener Schuldfähigkeit im Sinne von § 20 StGB beschwert den Angeklagten nicht. Sie kann deshalb von ihm nicht mit der Revision angefochten werden.
3. Die Gestaltung des strafprozessualen Rechtsmittelverfahrens und die Auslegung der dafür geltenden Rechtsnormen ist originäre Anwendung des einfachen Rechts. Einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Rechtsmittelkontrolle durch eine übergeordnete Instanz schlechthin gibt es nicht (vgl. BVerfGE 4, 74, 94 f.).
4. Indes kann in seltenen Ausnahmefällen auch ein freisprechendes Urteil durch die Art seiner Begründung Grundrechte verletzen (vgl. BVerfGE 6, 7, 9). So kann in einzelnen Ausführungen der Entscheidungsgründe eine Grundrechtsverletzung dann erblickt werden, wenn sie – für sich genommen – den Angeklagten so schwer belasten, dass eine erhebliche, ihm nicht zumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Bereichs festzustellen ist, die durch den Freispruch nicht aufgewogen wird. Das ist nicht schon dann anzunehmen, wenn die Entscheidungsgründe einzelne, den Beschwerdeführer belastende oder für ihn „unbequeme“ Ausführungen enthalten (vgl. BVerfGE 28, 151, 161).
5. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt gleichfalls keinen Anlass, das Erfordernis der Tenorbeschwer für die Zulässigkeit der strafprozessualen Revision aufzugeben (vgl. zuletzt EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland). Der im nationalen Recht geltende Grundsatz der Tenorbeschwer steht zu dieser Rechtsprechung nicht in Widerspruch; er fügt sich in seiner richterrechtlichen Ausprägung sogar in diese ein.
6. Erfolgt ein Freispruch aus rechtlichen Gründen, sind Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen in den Urteilsgründen aus Rechtsgründen erforderlich und geboten. Dies gilt mit Blick auf die für den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft gleichermaßen bestehende Rechtsmittelbefugnis in besonderem Maße, wenn der Freispruch wegen fehlender Schuldfähigkeit erfolgt. Denn Schuld im Sinne von § 20 StGB bedeutet Vorwerfbarkeit und ist ein Rechtsbegriff, keine empirisch-medizinische Diagnose. Für deren Vorliegen kommt es auf den Zustand des Angeklagten bei Begehung der Tat an; sein Zustand ist genau für diesen Zeitpunkt festzustellen und zu bewerten (vgl. BGHSt 43, 66, 77).
7. So setzt die rechtsfehlerfreie Anwendung des auch für die Frage der (vollen) Schuldfähigkeit geltenden Zweifelssatzes die umfassende Prüfung des Vorliegens und der Schwere eines festgestellten Eingangsmerkmals des § 20 StGB voraus. Die Urteilsgründe müssen sich dazu verhalten, in welchem Ausmaß sich das Eingangsmerkmal beim Tatentschluss oder der Tatausführung ausgewirkt hat. Etwa das Gewicht der Tat und die dadurch beeinflusste Höhe der von ihr ausgehenden Hemmschwelle können dabei für die Beurteilung Bedeutung gewinnen. Sie müssen deshalb festgestellt und in den Urteilsgründen in für das Revisionsgericht nachprüfbarer Weise dargelegt werden (vgl. BGHSt 14, 114, 116). Soweit entsprechende Feststellungen für den freigesprochenen Angeklagten ungünstig sind und ihn in tatsächlicher Hinsicht beschweren, hat der Gesetzgeber dies grundsätzlich als Folge des justizförmigen Strafverfahrens hingenommen.
1. Nicht jeder Fehler bei der Heranziehung von Hilfsschöffen – hier ungenaue Erfassung des Eingangszeitpunkts richterlicher Anordnungen – kann mit der Beset-
zungsrüge erfolgreich geltend gemacht werden. Es muss sich vielmehr um einen gravierenden, die Grenzen des Hinnehmbaren überschreitenden Fehler handeln, also nicht nur um einen bloßen Verfahrensfehler. Die fehlerhafte Auslegung von Zuständigkeitsnormen fällt hierunter nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar ist.
2. Etwas anderes gilt lediglich in dem Fall, dass nicht die Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsregel, sondern die Verfassungsmäßigkeit der der Rechtsanwendung zugrunde liegenden Zuständigkeitsregel selbst (etwa eines Geschäftsverteilungsplans) zu prüfen ist.
3. Nach § 23 Abs. 1 StPO darf an Rechtsmittelentscheidungen nicht mitwirken, wer bei der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat. Ein Richter ist demgegenüber nicht etwa allein deshalb kraft Gesetzes oder wegen Besorgnis der Befangenheit von der Ausübung des Richteramts in einer vom Revisionsgericht zurückverwiesenen Sache ausgeschlossen, weil er bereits an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hatte.
4. Eine „strukturelle Inkaufnahme einer Doppelbefassung“ derselben Richter mit einem zurückverwiesenen Verfahren liegt ausgesprochen nahe, wenn aufgrund eines Geschäftsverteilungsplans die Bearbeitung vom Revisionsgericht zurückverwiesener Sachen einer mit solchen Richtern besetzten Strafkammer zugewiesen wird, die zuvor aufgrund einer anderen Kammerzugehörigkeit regelmäßig an den in Rede stehenden zurückverwiesenen Sachen beteiligt waren. Dagegen ist es regelmäßig unbedenklich, wenn sich die ehemals mit der Sache befassten Richter lediglich mit einem Befangenheitsgesuch gegen die nach der Zurückverweisung zuständigen Richter befassen.
1. Wird die Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung den Angeklagten gem. § 171b Abs. 1 GVG wegen der aus seinem persönlichen Lebensbereich zur Sprache kommenden Umstände ausgeschlossen, begründet es nicht ohne Weiteres einen Rechtsfehler, wenn im Zuge dessen nichtöffentlich Gespräche nach §§ 257b, 257c StPO geführt und diese auch nachträglich nicht bekannt gegeben werden.
2. Wenn sich der Ausschluss der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt beschränkt (hier: die Einlassung des Angeklagten), umfasst er alle Verfahrensvorgänge, die mit diesem in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang stehen. Ein solcher besteht zwischen der Einlassung des Angeklagten und einer möglichen Verständigung in der Regel, da sich der einem etwaigen Geständnis zu Grunde zu legende Sachverhalt regelmäßig erst aus der Einlassung (mit-)ergibt.
Der Senat neigt zu der Ansicht, dass eine Teilaussage eines Berufsgeheimnisträgers nicht den pauschalen Zugriff auf alle seine schriftlichen Erklärungen ermöglicht. Macht ein Zeuge zu einem bestimmten Sachverhaltskomplex von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch, würde die Verlesung der von ihm stammenden schriftlichen Erklärung dazu dienen, seine mündliche Vernehmung insoweit zu ersetzen. Dies würde zu einer Umgehung des durch § 53 StPO bezweckten Schutzes des Vertrauensverhältnisses zwischen den dort genannten Berufsgeheimnisträgern und einem Angeklagten führen.
1. Beim Betrug ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Erlangung des letzten vom Tatplan umfassten Vermögensvorteils maßgeblich für den Zeitpunkt der Beendigung. Besteht der Taterfolg in einer Mehrzahl von Ereignissen, dann ist für die Beendigung der Zeitpunkt der Erlangung des letzten vom Tatvorsatz umfassten Vermögensvorteils maßgebend (vgl. BGHSt 59, 205, 217).
2. Zwar hat das Revisionsgericht grundsätzlich selbst über die Voraussetzungen eines Verfahrenshindernisses aufgrund der vorliegenden oder von ihm noch weiter zu treffenden ergänzenden Feststellungen und des Akteninhalts zu entscheiden (vgl. BGHSt 16, 399, 403). Es ist ihm aber nicht verwehrt, die Sache zur Nachholung fehlender Feststellungen an den Tatrichter zurückzuverweisen (vgl. BGHSt 46, 307, 309 f). Dazu kann insbesondere dann Anlass bestehen, wenn die Ermittlung der maßgebenden Tatsachen eine Beweisaufnahme wie in der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter erforderlich machen würde (vgl. BGH wistra 1988, 23).
1. Auf einem fehlerhaft unterbliebenen Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussanträge kann das Urteil beruhen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte im Rahmen seines letzten Wortes noch Ausführungen gemacht hätte, die den Urteilsspruch zu seinen Gunsten beeinflusst hätten.
2. Gemäß § 171b Abs. 5 GVG sind zwar Entscheidungen nach den Absätzen 1 bis 4 über den Ausschluss der Öffentlichkeit unanfechtbar und damit der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen. Dies betrifft aber nur die inhaltliche Überprüfung der gerichtlichen Ausschließungsanordnung darauf, ob die in § 171b Abs. 1 und 2 GVG normierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen. Damit ist es dem Revisionsgericht zwar verwehrt, die Begründung einer nach § 171b GVG ergangenen Entscheidung inhaltlich zu überprüfen, nicht gehindert ist es dagegen, die generelle Befugnis für den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des Anklagesatzes zu prüfen (vgl. BGHSt 57, 273, 275).
3. Nichts anderes kann gelten, wenn nur der Vorsitzende in einem Verfahrensabschnitt vor Anbringung der Schlussanträge die Wiederherstellung der Öffentlichkeit angeordnet hat und das Gericht weiterverhandelt und überhaupt keine Entscheidung über die Öffentlichkeit des Verfahrens getroffen hat. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das erkennende Gericht nach dem Gesetzeswortlaut keinen Beurteilungsspielraum hatte.
1. Bestreitet der Angeklagte in wesentlichen Tatteilen den gegen ihn erhobenen Vorwurf, genügt es nicht, im Rahmen der Beweiswürdigung allgemein darauf hinzuweisen, dass der einzige Tatzeuge in seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung die in der polizeilichen Aussagesituation gemachten Angaben im Kern widerspruchsfrei wiederholt habe. Zur Überprüfung der vom Tatgericht für glaubhaft angesehenen Aussage durch das Revisionsgericht ist es in einem solchen Fall erforderlich, den Inhalt der den Angeklagten belastenden Aussagen vor der Polizei und in der Hauptverhandlung im Einzelnen darzustellen (vgl. BGH StV 2011, 7). Nur so lässt sich auch nachvollziehen, aufgrund welcher Angaben die Strafkammer zu den getroffenen Feststellungen gelangt ist und ob dies ohne Rechtsfehler geschehen ist.
2. Ebenso wenig ist es ausreichend festzustellen, die in der Hauptverhandlung abgegebenen Erklärungen der Angeklagten seien nicht geeignet, die Angaben des Nebenklägers mit Erfolg in Zweifel zu ziehen, und sich anschließend lediglich beispielhaft mit der einen oder anderen Erwägung in den Urteilsgründen auseinander zu setzen. Hier ist eine ins Einzelne gehende Darlegung vonnöten, warum die jeweiligen konkreten Einlassungen der Angeklagten die Angaben des Nebenklägers nicht in Frage stellen können.
Der Tatrichter ist verpflichtet, Art und Ausmaß einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 21). Das Revisionsgericht muss anhand der Ausführungen in den Urteilsgründen jedenfalls im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen können, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen, und ob sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eröffneten Bewertungsspielraums hält.
br />1. Das Tatgericht hat in den Fällen, in denen es dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind.
2. Für die Darstellung des Ergebnisses einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung ist danach erforderlich, dass der Tatrichter mitteilt, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, inwieweit dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war (vgl. BGH NJW 2014, 2454).
3. Eine Einziehung nach § 74 StGB hat den Charakter einer Nebenstrafe und stellt damit eine Strafzumessungsentscheidung dar. Wird dem Täter auf diese Weise eine ihm gehörende Sache von nicht unerheblichem Wert entzogen, ist dies deshalb ein bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafe und insoweit im Wege einer Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen angemessen zu berücksichtigen (st. Rspr).
Ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs ist während eines Konkurrentenstreitverfahrens, im Zuge dessen der Abschluss des eines Wiederbesetzungsverfahrens verwaltungsgerichtlich durch einstweilige Anordnung untersagt wird, ordentlich besetzt, wenn der Vorsitz von dem durch das Präsidium bestimmten Vertreter (§ 21f Abs. 2 Satz 1 GVG) geführt wird. Das gilt jedenfalls dann, das Besetzungsverfahren zügig eingeleitet und betrieben wurde und wenn die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Senats hinreichend gewährleistet ist. Die Einrichtung eines „Doppelvorsitzes“ ist demgegenüber nicht ohne Weiteres eine vorzugswürdige alternative Lösung.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können die Voraussetzungen des § 44 Satz 1 StPO nicht vorliegen, wenn der die Wiedereinsetzung begehrende Rechtsmittelführer von einem befristeten Rechtsbehelf bewusst keinen Gebrauch macht (vgl. BGH NStZ 2012, 652); das ist sowohl bei einem bloßen Verstreichenlassen der Rechtsmittelfrist (vgl. BGH NStZ 2012, 652) als auch bei einer Rücknahme des Rechtsmittels (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 381 f.) und bei wirksamem Rechtsmittelverzicht (vgl. BGH NStZ 1997, 611, 612) der Fall.