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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2016
17. Jahrgang
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1. Nach dem Al-Khawaja-Test ist es erforderlich, nach den folgenden drei Prüfungsschritten zu untersuchen, ob Strafverfahren, in denen Aussagen nicht von der Verteidigung befragter Zeugen verwertet worden sind, mit Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK vereinbar sind. Das Gericht muss prüfen,
(a) ob es einen legitimen Grund für die Nichtanwesenheit des Zeugen und folglich auch für die Zulassung der unkonfrontierten Zeugenaussage als Beweismittel gab;
(b) ob der Zeugenbeweis die einzige oder die entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten gewesen ist und
(c) ob es hinreichende Ausgleichsmaßnahmen insbesondere in Gestalt starker prozessualer Schutzinstrumente gab, welche die für die Verteidigung aus der Zulassung des Beweismittels resultierenden Nachteile kompensieren und damit einen insgesamt fairen Strafprozess sichern konnten.
2. Fehlt es an einem legitimen Grund für die Abwesenheit des Zeugen, bedeutet dies nicht stets eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK. Allerdings kann dieser besonders wichtige Umstand für eine Verletzung in der Abwägung ausschlaggebend sein.
3. Auch dann, wenn die nicht auf einer konfrontativen Befragung beruhende Aussage nicht das einzige oder entscheidende Beweismittel war, müssen ausgleichende Faktoren die Fairness des Verfahrens sicherstellen. Dies gilt besonders dann, wenn die Beurteilung als einziges oder wesentliches Beweismittel umstritten ist.
4. Der Umstand, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden den Zeugen nicht lokalisieren konnten oder dass der Zeuge sich im Ausland befand, ist allein kein legitimer Grund, auf eine Vernehmung unter Gewährung der Verteidigungsrechte zu verzichten. Die Staaten müssen positive Schritte unternehmen, um dem Angeklagten die Wahrnehmung seiner Rechte zu ermöglichen. Dies schließt die aktive Suche nach dem Zeugen ebenso ein wie – grundsätzlich – den Rückgriff auf vorhandene Rechtshilfeinstrumente.
5. Die prozessualen Ausgleichsinstrumente, die Nachteile der Verteidigung kompensieren sollen, müssen eine faire und taugliche Prüfung der Zuverlässigkeit des Beweismittels gewährleisten.
6. Einzelfall einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren unter dem Gesichtspunkt des Konfrontationsrechts durch die Verwertung entscheidender Zeugenaussagen, die unter Ausschluss der prinzipiell organisierbaren Verteidigungsteilhabe im Ermittlungsverfahren, in der Annahme einer ungesicherten späteren Zeugenvernehmung und ohne Anfertigung einer Videoaufzeichnung gemacht worden sind (§ 168c III StPO), und bei denen eine Gewährung des Fragerechts in einem Rechtshilfeverfahren an der (legitimen) Furcht der Zeuginnen bzw. an ihrem Gesundheitszustand gescheitert ist.
1. Aus dem Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG folgt im Hinblick auf gerichtliche Entscheidungen – ebenso wie aus Art. 19 Abs. 4 GG bezüglich Akten der vollziehenden Gewalt – ein Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Die Gerichte dürfen die von der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Betroffenen „leer laufen“ lassen.
2. Die Auslegung und Anwendung des § 345 Abs. 2 StPO, wonach sich die Mitwirkung des Verteidigers nicht in einer bloßen Beurkundung der Revisionsbegründung erschöpfen darf, sondern er sich gestaltend an ihr beteiligen sowie die Verantwortung für sie übernehmen muss, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
3. Zweifel an der Verantwortungsübernahme dürfen nicht allein daraus hergeleitet werden, dass der unterzeichnende Rechtsanwalt zuvor noch nicht für den Angeklagten tätig geworden ist. Auch ist das Erfordernis, den Schriftsatz zu verantworten, nicht gleichzusetzen mit dem Erfordernis, den Schriftsatz selbst zu verfassen.
4. Entwirft der bisherige Verteidiger eine Rechtsmittelbegründung und unterschreibt dann ein anderer bevollmächtigter Rechtsanwalt derselben Kanzlei diesen Schriftsatz, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass letzterer sich den Inhalt des Schreibens zu eigen gemacht hat. Anderes kann nur gelten, wenn der Unterzeichner sich vom Inhalt distanziert oder sonst zu erkennen gibt, dass er die Verantwortung nicht übernehmen kann oder will.
5. Der Zusatz „i. V.“ bei der Unterzeichnung belegt nicht, dass der Unterzeichner keine Verantwortung für den Inhalt des Revisionsbegründungsschriftsatzes übernimmt und sich von ihm distanzieren und dem Gericht gegenüber nur als Erklärungsbote auftreten will, wie dies etwa eine Unterzeichnung „im Auftrag“ nahelegen würde.
6. Auch der weitere Zusatz „nach Diktat verreist“ lässt sich – nicht als Distanzierung von dem Inhalt des Schriftsatzes auffassen; denn Zweifel an der Verantwortungsübernahme dürfen nicht daraus abgeleitet werden, dass der unterzeichnende Rechtsanwalt die Rechtsmittelbegründung nicht auch selbst ausgearbeitet hat.
1. Es begegnet keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, einen Anleger, der eine Orderschuldver-
schreibung bei einer dem Angeklagten zuzurechnenden Gesellschaft gezeichnet hat, als Verletzten im Sinne des § 406e Abs. 1 S. 1 StPO anzusehen und ihm ein Akteneinsichtsrecht zuzubilligen.
2. Wird dem Verletzten einer Straftat Einsicht in die strafrechtlichen Ermittlungsakten gewährt, so greift dies in das informationelle Selbstbestimmungsrecht desjenigen ein, dessen personenbezogene Daten dadurch offenbart werden.
3. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder andere Grundrechte sind jedoch nicht verletzt, wenn sich die dem Verletzten offenbarte Information über den Betroffenen darauf beschränkt, dass dieser für die Gesellschaft eines Angeklagten steuerberatend tätig geworden ist.
1. Nach Art. 19 Abs. 4 GG dürfen die Gerichte ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Betroffenen leer laufen lassen. Dies gilt auch in Bezug auf die Darlegungsanforderungen im Klageerzwingungsverfahren.
2. Verlangt das Oberlandesgericht, ein Prozesskostenhilfeantrag im Klageerzwingungsverfahren müsse mitteilen, was die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen habe, so ist dies jedenfalls dann überzogen, wenn die dem Antragsteller erteilten staatsanwaltschaftlichen Bescheide insoweit keine Angaben enthalten, so dass er diese Kenntnisse nur erlangen kann, indem er einen Rechtsanwalt hinzuzieht, der für ihn die Akte einsieht.
3. Mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar ist auch die Anforderung, dem Antragsvorbringen müsse sich – über den Inhalt der staatsanwaltschaftlichen Bescheide hinausgehend – entnehmen lassen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren eingelassen habe und ob Zeugen vernommen worden seien; denn auch dies hätte zur Folge, dass sich der Antragsteller zur Begründung seines Antrags auf Prozesskostenhilfe eines Rechtsanwalts bedienen müsste.