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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2015
16. Jahrgang
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1. Eine nationale Verjährungsregelung für Straftaten wie die des Art. 160 letzter Absatz in Verbindung mit Art. 161 des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251 vom 5. Dezember 2005, die zu der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit vorsah, dass eine Unterbrechungshandlung im Rahmen der Strafverfolgung von schwerem Mehrwertsteuerbetrug die Wirkung hat, die Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel ihrer ursprünglichen Dauer zu verlängern, kann die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen beeinträchtigen, falls diese nationale Regelung die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union
gerichteten schweren Betrugsfällen verhindern oder für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats längere Verjährungsfristen als für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union vorsehen sollte, was zu überprüfen Sache des nationalen Gerichts ist. (EuGH)
2. Das nationale Gericht ist verpflichtet, Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV volle Wirkung zu verleihen, indem es erforderlichenfalls die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lässt, die die Wirkung hätten, den betreffenden Mitgliedstaat an der Erfüllung der ihm durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen zu hindern. (EuGH)
3. Eine Verjährungsregelung für Mehrwertsteuerdelikte wie die des Art. 160 letzter Absatz in Verbindung mit Art. 161 des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251 vom 5. Dezember 2005 kann nicht im Licht der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV beurteilt werden. (EuGH)
4. Die Mitgliedstaaten können zwar die anwendbaren Sanktionen – bei denen es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination der beiden handeln kann – frei wählen, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 und Art. 325 AEUV zu gewährleisten. Strafrechtliche Sanktionen können aber unerlässlich sein, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen. (Bearbeiter)
5. Es obliegt dem nationalen Gericht, unter Beachtung aller relevanten rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu prüfen, ob die anwendbaren nationalen Bestimmungen erlauben, schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union wirksam und abschreckend zu ahnden. (Bearbeiter)
6. Es ist fraglos mit dem Unionsrecht vereinbar, eine Verjährungsfrist für die Taten vorzusehen, die einen Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begründen. Das nationale Verjährungsrecht muss aber der Komplexität und der Länge der Strafverfahren bis zum Erlass eines endgültigen Urteils gerecht werden. Dies ist nicht der Fall, wenn die Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Unterbrechung der Verjährung zur Folge haben sollte, dass in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen Taten, die einen schweren Betrug begründen, nicht strafrechtlich geahndet werden, weil sie im Allgemeinen verjährt sind, bevor die vom Gesetz vorgesehene strafrechtliche Sanktion durch eine endgültige gerichtliche Entscheidung verhängt werden kann. Zudem darf – auch wenn unterschiedliche Steuern betroffen sind – beim Schutz der finanziellen Interessen der EU keine Ungleichbehandlung zum Schutz nationaler Steuern bestehen. (Bearbeiter)
7. Die Pflicht der Mitgliedstaaten, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu bekämpfen, sowie ihre Pflicht, zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen diese Interessen richten, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten, bedeuten genaue Ergebnispflichten, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel an keine Bedingung geknüpft sind. (Bearbeiter)
8. Die Bestimmungen des Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV haben gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in ihrem Verhältnis zum innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten zur Folge, dass allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird. (Bearbeiter)
9. Die Nichtanwendung der fraglichen nationalen Bestimmungen hätte hier nur zur Folge, dass die allgemeine Verjährungsfrist im Rahmen eines anhängigen Strafverfahrens nicht verkürzt wird, dass eine wirksame Verfolgung der strafbaren Handlung ermöglicht wird und dass gegebenenfalls sichergestellt wird, dass mit Sanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union bzw. der Italienischen Republik gleich verfahren wird. Eine solche Nichtanwendung des nationalen Rechts würde die Rechte der Angeschuldigten, wie sie von Art. 49 GRC gewährleistet werden, nicht verletzen. (Bearbeiter)
10. Die Verlängerung der Verjährungsfrist und ihre unmittelbare Anwendung führen zu keiner Beeinträchtigung der von Art. 7 EMRK gewährleisteten Rechte, da diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden kann, dass sie eine Verlängerung der Verjährungsfristen verhindert, wenn die vorgeworfenen Taten zuvor nie verjährt sind. (Bearbeiter)
1. Art. 104 Abs. 1 GG sichert das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Grundrecht auf Freiheit der Person in besonderer Weise ab, indem er die Pflicht, die sich aus einem freiheitsbeschränkenden Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt.
2. Auflagen und Weisungen im Rahmen einer Strafaussetzung zur Bewährung müssen dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Danach hat das Gericht und nicht erst der Bewährungshelfer die Vorgaben so bestimmt zu formulieren, dass Verstöße einwandfrei festgestellt werden können und der Verurteilte unmissverständlich weiß, wann er einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten hat.
3. Allerdings können gewisse Konkretisierungen der Verhaltensmaßgaben eines Bewährungsbeschlusses dem
Bewährungshelfer überlassen werden, soweit eine Festlegung unmittelbar durch den gerichtlichen Bewährungsbeschluss nicht sinnvoll praktikabel ist – wie etwa im Hinblick auf organisatorische oder durch Interessen des Verurteilten bedingte Flexibilitätserfordernisse.
4. Bei der Festsetzung einer Arbeitsauflage erfordert das Bestimmtheitsgebot, dass das Gericht Art und Umfang der geforderten Arbeitsleistung sowie den Zeitraum, innerhalb dessen diese zu erbringen ist, festlegt. Eine Konkretisierung hinsichtlich des Ortes oder der Institution, bei der die Arbeitsauflage zu erfüllen ist, ist hingegen verfassungsrechtlich nicht geboten.
5. Die Bewährungsauflage, nach Weisung der Gerichtshilfe 50 Stunden gemeinnützige Arbeit „unverzüglich nach Rechtskraft des Urteils“ zu leisten, genügt den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht, weil damit das Fristende durch das Gericht nicht ausreichend bestimmt ist. Auch eine Weigerung des Verurteilten zur Erbringung der Arbeitsleistung heilt die mangelnde Bestimmtheit der Auflage nicht (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 14. Oktober 2014 [= HRRS 2015 Nr. 4]).
6. Ist das Fristende nicht ausreichend bestimmt worden, steht dem Verurteilten für die Ableistung der Arbeitsauflage grundsätzlich die gesamte Bewährungszeit zur Verfügung, solange der Bewährungsbeschluss nicht abgeändert oder neu gefasst worden ist.
1. Werturteile, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet sind, unterfallen dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit, gleich ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist und ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird. Auch eine polemische und verletzende Formulierung entzieht eine Äußerung grundsätzlich nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit.
2. Die Einstufung einer Äußerung als Schmähkritik, die ohne einzelfallbezogene Abwägung zur Strafbarkeit der Aussage führt, ist nur dann mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar, wenn der Begriff der Schmähkritik eng ausgelegt wird. Daher muss auch bei einer überzogenen oder ausfälligen Kritik hinzutreten, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht und die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängt.
3. Bezeichnet der Beschuldigte in einem Strafbefehlsverfahren die Anzeigenerstatterin als „Psychopathin“, nachdem sie gegen ihn – aus seiner Sicht haltlose – Vorwürfe erhoben hat, so geht es ihm ersichtlich in erster Linie um die Verteidigung gegen die Anschuldigungen und nicht allein um eine Diffamierung der Anzeigenden.
4. Bei der gebotenen Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass es dem Beteiligten einer (straf)rechtlichen Auseinandersetzung grundsätzlich erlaubt ist, zur plastischen Darstellung seiner Position auch starke und eindringliche Formulierungen zu verwenden, ohne jedes Wort auf die Waagschale legen zu müssen.
1. Bei Einstellung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens aus Opportunitätsgründen können die Verfahrenskosten dem Betroffenen nach dem Gesetz nur bei schuldhafter Versäumung eines Termins oder einer Frist auferlegt werden. Eine Entscheidung, die dem nicht säumigen Betroffenen – zumal unter inhaltsleerem Verweis auf die „Sach- und Rechtslage“ – gleichwohl die Verfahrenskosten auferlegt, ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verständlich und damit schlechthin unvertretbar und willkürlich.
2. Dasselbe gilt für die Auslagenentscheidung, wenn keine Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass der Betroffene entlastende Umstände nicht rechtzeitig vorgetragen hat, oder dass seine notwendigen Auslagen aus einem anderen gesetzlich geregelten Grund nicht der Staatskasse aufzuerlegen wären. Eine für den Betroffenen nachteilige Auslagenentscheidung aus Ermessensgründen – etwa mit Blick auf die Stärke des Tatverdachts – bedarf jedenfalls einer tragfähigen, nicht lediglich formelhaften Begründung.
3. Geeignet, die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde offen zu halten, sind alle Rechtsbehelfe, die nicht von vornherein aussichtslos sind. Aussichtslos ist ein Rechtsbehelf nur dann, wenn er offensichtlich unstatthaft oder unzulässig ist.
4. Eine Anhörungsrüge und eine Beschwerde gegen ihre Zurückweisung sind nicht von vornherein aussichtslos,
wenn das Gericht den Betroffenen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens vor der Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen und insbesondere zu der beabsichtigten, ihn belastenden Kosten- und Auslagenentscheidung nicht angehört hatte. Denn das Gericht kann auf die Anhörungsrüge hin seine an sich unanfechtbare Entscheidung über die Kosten und Auslagen prüfen und ändern.
5. Zum Rechtsweg, der vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfen ist, gehören alle dem Beschwerdeführer gesetzlich zur Verfügung stehenden, nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe. Von einem Rechtsmittel ist grundsätzlich auch dann Gebrauch zu machen, wenn zweifelhaft ist, ob es statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann.
6. Die Beschwerde gegen eine auf eine Anhörungsrüge ergangene Entscheidung wird überwiegend zumindest dann als statthaft angesehen, wenn das Gericht die Durchführung des Nachverfahrens aus formellen Gründen abgelehnt hat, etwa weil es der unzutreffenden Ansicht war, Rechtsvortrag – im Unterschied zu Vortrag über Tatsachen und Beweisergebnisse – im Anhörungsverfahren generell nicht berücksichtigen zu müssen. Die Beschwerde gehört in diesen Fällen zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg.
7. Zur Vermeidung von Lücken im verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz ist die Verfassungsbeschwerde auch dann statthaft, wenn der Beschwerdeführer eine Kostenentscheidung isoliert angreift, ohne zugleich gegen die damit verbundene Entscheidung in der Hauptsache vorzugehen.