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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2015
16. Jahrgang
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Von Hans Meyer-Mews, Bremen [*]
Beweisverwertungsverbote (= BVV) können Wirksamkeit in verschiedene Richtungen entfalten.
So können BVV eine Vorwirkung entfalten, etwa dann, wenn beispielsweise Beweise, die einem Verwertungsverbot unterliegen, nicht zur Begründung des für die Anordnung der Untersuchungshaft vorausgesetzten dringenden Tatverdachts herangezogen werden dürfen.[1]
Ferner kann ein BVV zeitlich auch in die andere Richtung wirksam werden. Man spricht von Fortwirkung eines BVV, wenn die erneute, diesmal rechtmäßige Beweiserhebung wegen der fortwirkenden Kausalität des Fehlers in der vorherigen Beweiserhebung nicht oder noch nicht möglich ist.[2]
Mit Drittwirkung wird die Ausstrahlung eines BVV auf andere Beschuldigte bezeichnet. Drittwirkung entfaltet das BVV aus § 252 StPO.
Als Weiterwirkung bezeichnet Jahn das Phänomen, dass die Berufs- und ggfs. auch die Laienrichter die Kenntnis von einem verbotenen Beweis bei der Beweiswürdigung vergessen müssen und auch nicht unbewusst berücksichtigen dürfen.[3] Die Weiterwirkung ist der Fernwirkung verwandt.
Von Frühwirkung spricht man, wenn das in einem Verfahren bestehende BVV die durch die verbotenen Beweise für die Einleitung eines neuen Strafverfahrens hindert.[4] Die Frühwirkung ist ebenfalls der Fernwirkung verwandt. Der Sache nach handelt es sich bei der Frühwirkung um ein Verwendungsverbot.
Mit Fernwirkung ist die Reichweite eines BVV gemeint. Ein BVV hat immer dann Fernwirkung, wenn die den verbotenen Beweisen zu entnehmenden Spuren- oder Ermittlungsansätze nicht verwertet werden dürfen. Ob BVV Fernwirkung haben, ist in Rspr. und Lit. noch immer ungeklärt. Die klärungsbedürftige Frage ist, ob weitere Ermittlungsergebnisse, die aufgrund eines unverwertbaren Beweismittels erzielt wurden, ebenfalls einem Verwertungsverbot unterliegen. Die dazu bisher ergangene Rspr. betrifft Einzelfälle und ist ohne jedes innere Band. Ein Verfahrensfehler, der ein Verwertungsverbot für ein Beweismittel bewirkt, solle, so der BGH in st. Rspr., nicht ohne Weiteres dazu führen, dass das gesamte Strafverfahren lahmgelegt werde. Dies sei im Blick auf das Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung geboten.[5]
In der Lit. wird in Anlehnung an die amerikanische fruit of the poisonous tree doctrine die Ansicht vertreten, dass auch bloß mittelbar durch einen Verfahrensverstoß erlangte Beweismittel unverwertbar sein sollen, um die Schutzfunktion der Beweisverwertungsverbote nicht zu unterlaufen. Beweisverwertungsverbote würden, worauf Lesch[6] mit Recht hinweist, nämlich leerlaufen, wenn die Strafverfolgungsbehörden die bewusst oder willkürlich rechtswidrig erlangten Informationen für weitere Ermittlungsmaßnahmen verwenden könnten. Die Disziplinierungsfunktion der fruit of the poisonous tree doctrine erweise sich damit jedenfalls als rechtsstaatliche Notwendigkeit; nur der Rechtsstaat, der die Verbindlichkeit seiner Normen absolut und unmissverständlich selbst ernst nehme, habe überhaupt das Recht und die Kompetenz, die Geltung von Normen zu demonstrieren.
Das hat das BVerfG für die Fälle der Verletzung des Telekommunikationsgeheimnisses bzw. des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ganz ähnlich gesehen und ausgeführt, dass eine verhältnismäßige Ausgestaltung der Telekommunikationsüberwachung (=TKÜ) "wirksame Sanktionen bei Rechtsverletzungen voraus(setzt). Würden auch schwere Verletzungen des Telekommunikationsgeheimnisses im Ergebnis sanktionslos bleiben mit der Folge, dass der Schutz des Persönlichkeitsrechts, auch soweit er in Art. 10 I GG eine spezielle Ausprägung gefunden hat, angesichts der immateriellen Natur dieses Rechts verkümmern würde (…), widerspräche dies der Verpflichtung der staatlichen Gewalt, dem Einzelnen die
Entfaltung seiner Persönlichkeit zu ermöglichen (…) und ihn vor Persönlichkeitsrechtsgefährdungen durch Dritte zu schützen (…). Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn unberechtigt gewonnene Daten weitgehend ungehindert verwendet werden dürften oder eine unberechtigte Verwendung der Daten mangels materiellen Schadens regelmäßig ohne einen der Genugtuung der Betroffenen dienenden Ausgleich bliebe."[7]
Diese Ausführungen des BVerfG stützen die Ansicht, dass BVV, die an eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anknüpfen, Fernwirkung entfalten.
Auch in den Fällen einer durch § 100a StPO nicht gedeckten TKÜ hat der BGH in der Vergangenheit die Fernwirkung eines BVV anerkannt:
"Allerdings war der die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs bei der L. GmbH und dem Angeklagten S. anordnende Beschluss des Amtsgerichts Kleve vom 8. November 1979 von § 100a StPO nicht gedeckt. Straftaten nach § 148 StGB, deren die Angeklagten verdächtig waren, gehören nicht zu den in dieser Vorschrift abschließend aufgeführten Katalogtaten, deren Gefährlichkeit den Eingriff in das grundrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis ausnahmsweise gestatten kann. Auch dürfen die aus einer rechtswidrig angeordneten Telefonüberwachung gewonnenen Erkenntnisse nicht als Beweismittel in Strafverfahren verwendet werden (BGHSt 31,304, 309). Richtig ist es schließlich auch, dass ein Beweisverwertungsverbot für solche Bekundungen von Beschuldigten besteht, die unter dem Eindruck des Vorhalts von unzulässig gewonnen Erkenntnissen aus einer Telefonüberwachung gemacht worden sind (vgl. für den Fall des unzulässigen Vorhalts zulässig gewonnener Erkenntnisse BGHSt 27, 355) ."[8]
Der Lit. ist die Feststellung zu entnehmen, der BGH habe bisher lediglich in BGHSt 29, 244, 247 eine das BVV der TKÜ nach dem G 10-Gesetz betreffende Fernwirkung anerkannt.[9] Richtig daran ist, dass sich der BGH in dieser Entscheidung ausdrücklich zur Geltung einer Fernwirkung bekannt hat. Die Entscheidung eignet sich trefflich zur Begründung einer Fernwirkung von BVV bei Eingriffen in das Telekommunikationsgeheimnis bzw. in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Der Begründung dieser Entscheidung lässt sich entnehmen, dass die Anerkennung einer Fernwirkung bei Verletzungen des Grundrechts aus Art. 10 I GG von Verfassungs wegen geboten ist:
"Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, ob sich das Beweisverwertungsverbot auch auf solche Beweismittel erstreckt, die gegenüber den unmittelbar durch die Abhörmaßnahmen erlangten Beweisen Selbstständigkeit besitzen, auf die der Zugriff aber erst durch die unmittelbar gewonnenen Erkenntnisse ermöglicht wurde. Der Senat bejaht die Frage.
(…)
Im Lichte der Verfassung macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob derjenige, der von einer Telefonüberwachung betroffen und dadurch in seinem Grundrecht aus Artikel 10 I GG beeinträchtigt ist, aufgrund der unmittelbar oder nur der mittelbar erlangten Beweismittel strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt wird."[10]
Darüber hinaus hat die Rechtsprechung immer mal wieder Fernwirkungen von BVV anerkannt.
Über die Fälle der TKÜ nach dem G 10-Gesetz hinaus hat das BVerfG bei Verletzungen des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ein absolutes BVV, das Fernwirkung entfaltet, anerkannt.[11] Das Urteil des BVerfG zur akustischen Wohnraumüberwachung ist die Grundlage der Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote aus § 100a IV StPO. Die Vereinbarkeit des § 100a IV StPO mit der Rechtsprechung des 1. Senats des BVerfG zur akustischen Wohnraumüberwachung hatte der 2. Senat des BVerfG zu prüfen; dort heißt es:
"Für den Fall, dass bei einer Überwachungsmaßnahme Daten erfasst werden, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren, bietet das in § 100a IV S. 2 StPO normierte Verwertungsverbot einen hinreichenden Schutz in der Auswertungsphase (…). Es ist umfassend und verbietet jedwede Verwendung, auch als Ermittlungs- oder Spurenansatz."[12]
Nun schließt der Kernbereichsbezug eines Gesprächs dessen Tatbezug zumeist aus. Allerdings lassen sich auch aus solchen Gesprächen Motive, Beweggründe und sonstige Erkenntnisse[13] , die für die Ermittlungsbehörden aufschlussreich sein könnten, entnehmen. Zumindest in jenen Fällen, in denen die Maßnahme nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil ex ante zu erwarten war, dass wahrscheinlich kernbereichsrelevante Gespräche erfasst und gespeichert werden würden, dürften sich das BVV
und die Fernwirkung überdies auf die Maßnahme insgesamt erstrecken.
Nach BGH StV 1987, 283 sollen Verstöße gegen § 136a StPO keine Fernwirkung entfalten.[14] § 136a III StPO enthält dem Wortlaut nach ein absolutes BVV, das schließt entgegen der hM die Fernwirkung ein. Denn eine Aussage wird auch dann verwertet, wenn sie als Anknüpfungstatsache für weitere Ermittlungen dient.[15]
In Fällen der Quälerei iSd § 136a StPO hat der BGH die Fortwirkung des BVV anerkannt. Der BGH hatte in diesem Fall die Rechtsfrage zu prüfen, ob eine Vernehmung gem. § 136a I StPO auch dann unverwertbar ist, wenn zwar diese selbst nicht durch eine bei ihr vorgenommene Drohung beeinflusst ist, wohl aber in einer vorangegangenen Vernehmung ein im Sinne dieser Vorschrift unzulässiges Druckmittel angewandt worden und auf eine folgende V ernehmung von Einfluss gewesen ist. Im Ergebnis hat der BGH diese Frage bejaht. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Beschuldigte solle frei darüber entscheiden können, ob er aussagen und welche Aussagen er machen wolle. Die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung dürfe daher durch die in § 136a StPO bezeichneten Mittel nicht beeinträchtigt werden. Dies müsse zu dem Ergebnis führen, dass die Voraussetzungen des § 136a StPO auch dann erfüllt seien, wenn durch eine in demselben Verfahren vorangegangene unzulässige Quälerei oder Drohung Einfluss auf eine folgende Vernehmung dadurch ausgeübt worden ist, dass der seelische Druck auf den Beschuldigten fortwirke. Denn da die Freiheit der Willensentschließung und Betätigung durch § 136a StPO sichergestellt werden soll, könne es für die Frage der Verwertbarkeit der Aussage keinen Unterschied machen, ob in der Vernehmung selbst ein Druck ausgeübt worden ist oder ob ein vorangegangener Druck fortwirke. In beiden Fällen sei die Aussagefreiheit des Beschuldigten in gleicher Weise beeinträchtigt. Es entspreche im Übrigen der Lebenserfahrung, dass die lähmende Wirkung eines vorangegangenen Druckmittels im Allgemeinen auf weitere Vernehmungen ausstrahle und die Freiheit des Beschuldigten bei einer späteren Vernehmung beeinträchtige oder beseitige.[16] Die für die Fortwirkung eines BVV vom BGH angeführten Gründe streiten gleichermaßen für die Anerkennung der Fernwirkung eines Verstoßes gegen § 136a StPO. Dies hat der EGMR in seinem Urteil Gäfgen/Deutschland, auf das nachfolgend noch einzugehen sein wird, ganz ähnlich gesehen.
In die gleiche Richtung zielt auch die Entscheidung des BGH aus BGHSt 35, 328. In dieser Entscheidung wird die Fernwirkung der durch Täuschung im Rahmen einer Vernehmung gewonnenen Erkenntnisse problematisiert. Ist dem Vernehmungsbeamten bewusst, dass nach derzeitigem Ermittlungsstand kein dringender Tatverdacht vorliegt, erklärt er aber dem vorläufig Festgenommenen trotzdem, die gegen ihn vorliegenden Beweise ließen ihm keine Chance, er könne seine Lage nur durch ein Geständnis verbessern, weil die ihm nachweisbare Tat dann milder beurteilt werden könne, so täuscht er ihn über die Beweis- und Verfahrenslage. Bei einer solchen Fallgestaltung ist nach BGHSt 35, 328 die Behauptung, der Beschuldigte werde, auch wenn er nicht gestehe, auf jeden Fall verurteilt werden, eine unzulässige Einwirkung auf das Vorstellungsbild des Beschuldigten, um ihm die Überzeugung von einem so nicht vorliegenden Beweisergebnis und der Richtigkeit darauf gestützter falscher rechtlicher Schlussfolgerungen zu verschaffen. Das durch das erschlichene Geständnis offenbarte Täterwissen darf danach nicht als Ermittlungsansatz verwendet werden.
Das dem § 136a StPO zu entnehmende absolute BVV entfaltet mithin durchaus Fernwirkung. Dies liegt insbesondere wegen des Menschenwürdebezugs des § 136a StPO nahe. Es wäre kaum zu erklären, warum das durch die Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (Art. 1 I, 2 I GG) begründete BVV Fernwirkung hat, nicht aber ein erfoltertes Geständnis (Art. 1 I GG, Art. 3 EMRK). Das hat das LG Frankfurt a. M. im Fall Gäfgen freilich noch anders gesehen und eine Fortwirkung des unter Gewaltandrohung abgelegten Geständnisses anerkannt, nicht aber dessen Fernwirkung.[17] Diese durchaus skurrile – offenbar streng ergebnisorientierte – Entscheidung vormochte die Große Kammer des EGMR indessen nicht zu überzeugen.
Vormals galt die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten oder Zeugen als bloße Ordnungsvorschrift.[18] Seit BGHSt 38, 214 begründet die unterlassene Belehrung ein relatives BVV. Das aus einer fehlerhaften Belehrung geborene BVV wird durch erst durch den Widerspruch des Angeklagten aktiviert und ist überdies der Abwägung zugänglich.
Das OLG Oldenburg hat in einem Fall aus der unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung – der Beschuldigte war als Zeuge belehrt worden, obgleich seine Beschuldigteneigenschaft evident war – ein BVV mit Fernwirkung anerkannt und zur Begründung u.a. ausgeführt:
"Die sog. Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten wird in der Rspr. des BGH allerdings unterschiedlich beurteilt. Eine allgemeingültige Regel, wann ein Beweisverwertungsverbot über das unmittelbar gewonnene Beweisergebnis hinausreicht und wo seine Grenzen zu ziehen sind, lässt sich danach nicht aufstellen (vgl. BGHSt 29, 244, 249). Die Grenzen richten sich nicht nur nach der Sachlage und Art und Schwere des Verstoßes, sondern auch nach der Kausalität der unzulässig erlangten Erkenntnisse für die weiteren Ermittlungen und die schließliche Überführung des Beschuldigten (vgl. BGHSt 32,
68, 70 f [= StV 1984, 1 [BGH 30.08.1983 – 5 StR 570/83]])."[19]
Demgegenüber erkennt die neuere Rspr. des BGH in derartigen Fällen u.U. noch nicht einmal ein BVV an.[20]
Die Verletzung des Richtervorbehalts, der die heimlichen Ermittlungsmaßnahmen immanente Verletzung des rechtlichen Gehörs kompensieren soll, hat nur ein relatives BVV zur Folge und soll grundsätzlich keine Fernwirkung haben.
Allerdings ist die Rechtsprechung des BGH auch in dieser Frage uneinheitlich und wenig stringent. Der BGH hat in einem Fall, in dem die Ermittlungsbehörden den bei Wohnungsdurchsuchungen zu beachtenden Richtervorbehalt absichtlich umgangen haben, entschieden, dass jedenfalls in Sonderfällen schwerwiegender Rechtsverletzungen, die durch das besondere Gewicht der jeweiligen Verletzungshandlung bei grober Verkennung der Rechtslage geprägt sind, Beweismittel darüber hinaus unverwertbar sind, "weil der Staat – soweit nicht notstandsähnliche Gesichtspunkte Gegenteiliges ermöglichen sollten (…) – auch in solchen Fällen aus Eingriffen ohne Rechtsgrundlage keinen Nutzen ziehen darf (…). Eine Verwertung würde hier gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstoßen (…)."[21] Das Landgericht hatte den Angeklagten, in dessen Wohnung anlässlich der unrechtmäßigen Durchsuchung BtM gefunden worden, freigesprochen und die Revision der StA hatte keinen Erfolg. Daraus kann durchaus auf die Anerkennung einer Fernwirkung in Fällen grober Rechtsverstöße selbst dann geschlossen werden, wenn aus ihnen nur relative BVV entstehen.
Im Übrigen sollen auch unverwertbare Beweismittel als Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen herangezogen werden können, um auf diesem Wege neue, verwertbare Beweise zu finden.[22]
Nach der Widerspruchslösung des BGH ist der beabsichtigten Beweiserhebung in der Hauptverhandlung zu widersprechen, wenn ein relatives BVV vorliegt.[23] Der in entsprechender Anwendung des § 238 II StPO zu erhebende Widerspruch ist bis zu dem in § 257 II StPO genannten Zeitpunkt, also spätestens unmittelbar nach der beanstandeten Beweisaufnahme, zu erheben.[24] Widerspricht der Angeklagte nicht, so mutiert das relative BVV zu einem Beweisverwertungsgebot![25] Das BVV wendet sich damit durch fragwürdiges Richterrecht unversehens in sein Gegenteil. Die nach Art. 20 III GG an Recht und Gesetz gebundenen Ermittlungsbeamten haben somit keinen Grund, etwa der Belehrungspflicht nachzukommen oder den Richtervorbehalt zu beachten. Mag der Angeklagte der Beweisaufnahme zur rechten Zeit unter Angabe des maßgeblichen Angriffsziels[26] wirksam widersprechen und ggfs. nach daraufhin unrechtmäßig durchgeführter Beweisaufnahme durch seinen Verteidiger eine zulässige Verfahrensrüge erheben. Aber selbst dann, wenn der Widerspruch sein Ziel einmal erreicht, wären ohne Anerkennung einer Fernwirkung die Ermittlungs- und Spurenansätze der unter Missachtung der strikten Gesetzesbindung (Art. 20 III, 104 I GG) generierten Beweise verwertbar. Ein Motiv oder gar Anreiz zur justizförmigen Ermittlungsarbeit wäre in diesem Fall für die Strafverfolgungsbehörden nicht ersichtlich.
Die Widerspruchslösung wird damit begründet, dass der Verteidigung die Dispositionsbefugnis über den Umfang der Beweisaufnahme verbleiben soll.[27] Mit diesem Begründungsansatz ist die Ablehnung der Fernwirkung schlechthin unvereinbar, denn der Verteidigung verbleibt die Dispositionsbefugnis gerade nicht, wenn die Ermittlungs- und Spurenansätze eines unter (bewusster) Umgehung verbindlichen Verfahrensrechts verwertet werden dürfen. Für die Anerkennung der Fernwirkung eines durch Widerspruch aktivierten BVV spricht schließlich, dass das widerspruchsabhängige relative BVV Fortwirkung entfaltet.[28] Der rechtzeitig erhobene Widerspruch muss nicht wiederholt werden. Der wirksam erhobene Widerspruch hat schließlich sogar Drittwirkung.[29] Widerspricht einer von mehreren Angeklagten, so wirkt sich das dadurch aktivierte BVV auch auf die Mitangeklagten aus.
Aus den vorgenannten Gründen streiten der Zweck der Widerspruchslösung und die Reichweite des erhobenen Widerspruchs für die Anerkennung der Fernwirkung bei widerspruchsabhängigen BVV.
Nach § 252 StPO darf die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht, nicht verlesen werden. Über den Wortlaut hinaus dürfen auch die Vernehmungsbeamten eines erst in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden Zeugen nicht vernommen werden. Der Sache nach handelt es sich bei dieser Erstreckung des § 252 StPO auf den Zeu-
genbeweis um einen Fall richterrechtlich begründeter Fernwirkung. § 252 StPO verbietet im Sinne einer Fernwirkung jede Reproduktion der Aussage einer zeugnisverweigerungsberechtigten Beweisperson.[30] Die Zeugnisverweigerung versperrt daher den Rückgriff auf Surrogate.[31] Durch § 252 StPO soll verhindert werden, dass das Zeugnisverweigerungsrecht durch die Vernehmung von Verhörpersonen umgangen wird.[32] So gesehen hat auch der § 252 StPO seine Wurzeln in dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das wiederum die gleichen verfassungsrechtlichen Wurzeln wie der Kernbereichsschutz hat. Und das BVV aus § 252 StPO hat sogar Drittwirkung. Ist der Zeuge nur mit einem von mehreren Angeklagten verwandt, so wirkt das BVV des § 252 StPO auch zugunsten der nicht verwandten Mitangeklagten.[33] Der § 252 StPO will verhindern, dass der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge gegen seinen Willen zum Werkzeug der Strafverfolgungsbehörden wird, es soll verhindert werden, dass der Zeuge gegen seinen Willen einen Beitrag zur Verurteilung des Angehörigen leistet.[34] Dieser Gesetzeszweck ist nur bei Anerkennung der Fernwirkung erreichbar. Das alles spricht für die Annahme einer Fernwirkung.
Gleichwohl erkennt die hM die Fernwirkung des BVV nach § 252 StPO nicht an. Die hM lässt es im Gegenteil sogar zu, dass der Zeuge, der in der Hauptverhandlung schweigt, die Verwertung seiner früheren Angaben erlaubt.[35] Allerdings erweist sich die hM in diesem Punkt als verunglückt. Auch nach hM hat das BVV aus § 252 StPO – wie vorstehend erwähnt – Drittwirkung. Daneben hat es auch Vorwirkung. Bezichtigt ein zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge einen Beschuldigten, so kann der dringende Tatverdacht nicht auf die Angaben dieses Zeugen gestützt werden, wenn zweifelhaft ist, ob die Aussagebereitschaft in der Hauptverhandlung fortbestehen wird, weil der dringende Tatverdacht nicht auf unverwertbare Beweise gestützt werden darf.[36]
Durch § 252 StPO soll das Verfahren immer dann, wenn der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge in der Hauptverhandlung schweigt, in den Zustand zurückversetzt werden, der bestand, bevor sich der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge im Ermittlungsverfahren geäußert hat. Das setzt neben der Dritt- und Vorwirkung auch die Fernwirkung des BVV aus § 252 StPO voraus.
In seinem Urteil Gäfgen/Deutschland vom 1. Juni 2010[37] hat der EGMR erstmals bezogen auf die deutsche Rechtsordnung ein BVV mit Fernwirkung bei Verletzungen des Art. 3 EMRK verlangt.[38] Für die Anerkennung einer Fernwirkung kommt es auf die Bedeutung der Beweismittel für eine Verurteilung an.[39] Die verdorbenen Beweise müssen tragend sein im Sinne einer conditio sine qua non. Es kommt mithin auf das Gewicht der Beweismittel für eine Verurteilung an.[40]
Allerdings entfaltet dass vom Gerichtshof verlangte BVV bezogen auf Verletzungen des Art. 3 EMRK keine Fortwirkung auf das verwertbare Beweismittel. Gäfgens zweite Vernehmung nach ordnungsgemäßer qualifizierter Belehrung darüber, dass die erste Vernehmung nicht verwertet werden wird, war nach der Rspr. des EGMR verwertbar.
Aus dem Urteil des Gerichtshofs i.S. Gäfgen/Deutschland lassen sich folgende Grundsätze ableiten:
Die Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit und eine entgegen Art. 3 EMRK erzwungene Aussage führen zu einem Beweisverbot und haben Fernwirkung.
Voraussetzung für die Fernwirkung ist eine Kausallücke zwischen dem Beweis(erhebungs)verbot und der Verurteilung, an der es fehlt, wenn die mittelbar erhobenen Beweise keine tragende Rolle spielen.
Das BVV aufgrund einer Aussageerzwingung mit den nach Art. 3 EMRK verbotenen Mitteln hat nur dann Fortwirkung, wenn der verbotene Zwang seinerseits fortwirkt.[41]
Damit dürfte auch die Frage, ob die absoluten BVV aus § 136a StPO Fernwirkung haben zugunsten der Anerkennung einer Fernwirkung geklärt sein.
Erstmalig hat der EGMR mit Urteil der V.-Sektion vom 23.10.2014 (appl.-no. 54648/09) in dem Beschwerdeverfahren Furcht/Deutschland ausdrücklich ein BVV in den Fällen einer polizeilich veranlassten Tatprovokation
durch Lockspitzel anerkannt.[42] Die Anstiftung und ‚Fallenstellerei‘ durch Lockspitzeleinsatz ist danach grundsätzlich unzulässig (Ziffer 49). Die unzulässige Anstiftung grenzt der EGMR vom zulässigen Einsatz eines passiv agierenden Verdeckten Ermittlers durch die Klärung folgender Vorfragen ab (Ziffer 51 ff):
Lagen Verdachtsgründe gegen den Beschuldigten vor? Gegen das Vorliegen von Verdachtsgründen könnte sprechen, dass der Beschuldigte nicht vorbestraft ist.
Sodann ist die Frage zu klären, ob auf den Beschuldigten seitens des Lockspitzels Druck ausgeübt worden ist. In BtM-Fällen ist das der Fall, wenn der Lockspitzel die Initiative ergreift bzw. hartnäckig zur Tat auffordert; wenn er sein Angebot trotz Ablehnung wiederholt, wenn er den Preis über den Durchschnitt anhebt oder an das Mitgefühl des Beschuldigten appelliert.
Die Beweislast tragen dabei die Ermittlungsbehörden (Z. 53)! Zum BVV hat der Gerichtshof darüber hinaus unter Ziffer 64 ausgeführt:
"In Fällen polizeilicher Tatprovokation unter Verstoß gegen Art. 6 I der Konvention hat der Gerichtshof in st. Rspr. wiederholt, dass das öffentliche Interesse an der Bekämpfung der schweren Verbrechen wie Drogenhandel nicht die Verwertung der als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation erlangten Beweise rechtfertigen kann (…). Damit das Verfahren fair i.S.v. Art. 6 I der Konvention ist, müssen alle als Ergebnis der polizeilichen Tatprovokation erlangten Beweise ausgeschlossen werden oder es muss ein Verfahren mit ähnlichen Konsequenzen angewandt werden."
Das Urteil darf mithin nicht auf den Ergebnissen der unzulässigen Tatprovokation beruhen und der Beschuldigte darf wegen der Tat, zu der er angestiftet worden ist, natürlich auch nicht verurteilt werden.
Auch der BGH hat die Erkenntnisse einer VP für unverwertbar erklärt und eine Fernwirkung anerkannt. Die VP konnte in diesem Fall nicht konfrontativ befragt werden und der BGH hat festgestellt, dass die Angaben der VP in diesem Fall unverwertbar sind.[43]
Mithin entfaltet das aus einer Verletzung des Konfrontationsrechts aus Art. 6 III d) EMRK abgeleitete BVV Fernwirkung.
Allerdings hat das BVerfG dieser Rspr. des EGMR die Gefolgschaft verweigert.[44] Das BVerfG hat in den weiteren Ausführungen seinen Beschluss indessen als Einzelfallentscheidung bezeichnet und es ausdrücklich offen gelassen, ob unter dem Eindruck der Rspr. des Gerichtshofs an der Strafzumessungslösung des BGH festgehalten werden kann. Entscheidend aber ist, dass es sich hier um eine Nichtannahmeentscheidung einer Kammer des BVerfG handelt und nur stattgebenden Kammerentscheidungen an der Bindungswirkung des § 31 I BVerfGG teilnehmen.[45] Mithin sind die Fachgerichte bei ihrer Entscheidung, in welcher Weise sie das Urteil des EGMR i.S. Furcht/Deutschland umsetzen, nicht an diesen Nichtannahmebeschluss des BVerfG gebunden. Der 2. Strafsenat des BGH hat mit Urteil vom 10.06.2015 die Rspr. des EGMR in der Weise umgesetzt, dass er in den Fällen unzulässiger Tatprovokation ein Verfahrenshindernis anerkannt hat.[46] Der BGH hatte zuvor in st. Rspr. durch die von ihm begründete Strafzumessungslösung die Berücksichtigung unzulässiger Tatprovokation auf der Rechtsfolgenseite verlangt.[47] Die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses durch den BGH bewirkt, dass eine unzulässige Tatprovokation sogar Frühwirkung hat, denn das Verfahrenshindernis steht schon der Einleitung eines Strafverfahrens entgegen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Verbindlichkeit der EMRK. Nach Art. 59 II GG ist die EMRK Teil der deutschen Rechtsordnung und steht wie andere völkerrechtliche Verträge auch im Range eines Bundesgesetzes. Besondere Bedeutung für die innerstaatliche Rechtsprechung kommt der EMRK deswegen zu, weil der EGMR nach Art 32 I EMRK zur verbindlichen Auslegung der EMRK und damit zur Konkretisierung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten im Bereich der EMRK berufen ist. Verbindlich ist die Auslegung der Konvention über das konkrete Beschwerdeverfahren hinaus.[48] Das BVerfG löst Konflikte zwischen nationalem Recht und Konventionsrecht durch die Formel, nach der die Rechte aus der EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes auf der Ebene des nationalen Verfassungsrechtes als Auslegungshilfe heranzuziehen sind; die Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 III GG erstreckt sich danach auch auf die Konvention und die Rspr. des Gerichtshofs.[49] Die Gerichte sind nach dieser Rspr. zwar keineswegs verpflichtet, Entscheidungen des EGMR per Automatismus zu übernehmen[50] , allerdings ist eine Abweichung nur in engen Grenzen zulässig. Völkerrechtsverletzungen sollen dabei grundsätzlich vermieden werden.[51] Schließlich rechtfertigt die Feststellung eines Konventionsverstoßes durch den Gerichtshof nach § 359 Nr. 6 StPO im Fall des Be-
schwerdeführers i.d.R. die Wiederaufnahme des Verfahrens.
Gegen die Anerkennung einer Fernwirkung wird in Rspr. und einem Teil des Schrifttums[52] die Verlaufshypothesen-Doktrin – auch hypothetisch (rechtmäßiger) Ersatzeingriff genannt – ins Feld geführt.[53] Danach sollen BVV und erst recht die Fernwirkung entfallen, wenn der Beweis ebenso bei hypothetischem Ermittlungsverlauf hätte erbracht werden können. Dem liegt die Vorstellung von einem alternativen Ermittlungsweg zugrunde, der zwar nicht beschritten worden ist, der aber hätte beschritten werden können.[54] Danach wird die bloße Existenz einer im konkreten Fall nicht angewendeten Eingriffsnorm zur Begründung der Verwertung eines rechtswidrig erlangten Beweises bemüht.[55] Dieses Argument ähnelt dem, aus dem Amtshaftungsrecht bekannten, rechtmäßigen Alternativverhalten. Fügt der Staat dem Bürger schuldhaft rechtswidrig einen Schaden zu, so entfällt danach der Amtshaftungsanspruch, sofern die Schadenszuführung auch auf rechtmäßigem Weg hätte erfolgen können. Sowohl im Zivil- als auch im Strafverfahrensrecht lässt sich die Rspr. zu einer Privilegierung staatlichen Unrechts hinreißen. Neuhaus hat daraus den eher konsequenten als radikalen Schluss gezogen, dass eine Verfahrensvorschrift, deren Verletzung nicht rigoros sanktioniert wird, vom Gesetzgeber ebenso gut gestrichen werden kann.[56]
Allerdings stellt das Gesetz selbst hypothetische Erwägungen an, etwa in dem Zufallsfunde betreffenden § 477 II S. 2 StPO. Personenbezogene Daten, die aufgrund einer strafprozessualen Maßnahme erlangt wurden, die nur bei Verdacht bestimmter Straftaten durchgeführt werden darf, dürfen danach ohne Einwilligung des Betroffenen in anderen Strafverfahren zum Beweis solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung solche Maßnahmen nach der StPO hätten angeordnet werden dürfen.[57] Für Daten, die mittels akustischer Wohnraumüberwachung erlangt wurden, enthält § 100d V Nr. 1 StPO eine vergleichbare Regelung. Und § 161 II StPO ermöglicht es, Erkenntnisse, die aufgrund außerstrafprozessualer Gesetze, beispielsweise aufgrund polizeigesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen, erbracht worden sind, im Rahmen eines Strafverfahren zu verwenden, wenn diese Beweise ebenso auf rechtmäßiger strafprozessualer Grundlage hätten erlangt werden können. Für Daten, die mittels akustischer Wohnraumüberwachung erlangt wurden, enthält § 100d V Nr. 3 StPO eine vergleichbare Regelung. Ob aus den vorgenannten bewussten gesetzgeberischen Entscheidungen ein allgemeiner Grundsatz der Beachtlichkeit hypothetischer Ermittlungsverläufe im Strafverfahren folgt, ist umstritten.[58]
Zunächst sprechen die ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen dafür, dass hypothetische Ermittlungsverläufe dann einem BVV mit Fernwirkung nicht entgegenstehen, wenn es an einer den §§ 100d V Nrn. 1, 3, 161 II, 477 II StPO vergleichbaren gesetzlichen Eingriffsgrundlage fehlt. Die gesetzliche Regelung einer Eingriffsbefugnis streitet regelmäßig dafür, dass der betreffende Eingriff einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung bedarf, somit unter Gesetzesvorbehalt steht.[59]
Es ist zudem problematisch, das rechtswidrig erlangte Beweismittel zu legalisieren, wenn der Verfahrensverstoß dadurch vollständig sanktionslos bliebe.[60] Dies betrifft namentlich die relativen BVV aufgrund der Umgehung des Richtervorbehalts. Der Richtervorbehalt kompensiert in Fällen heimlicher Ermittlungsmaßnahmen die darin liegende Verletzung rechtlichen Gehörs.[61] Auch sonst kommt es bei Verletzung rechtlichen Gehörs – wie etwa bei der Versagung des letzten Wortes – nicht darauf an, ob sich der Beschuldigte bei Gewährung rechtlichen Gehörs anders hätte verteidigen können.[62]
Schließlich dürfte die Ablehnung von BVV und deren Fernwirkung schlechthin unvereinbar mit Art. 104 I GG sein. Danach steht jede Freiheitsentziehung unter der schützenden Form des Verfahrens.[63] Das BVerfG legt den Art. 104 I GG in der Weise aus, dass Verstöße gegen die Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person darstellen.[64] Von Ausnahmen in Fällen hypothetisch rechtmäßigem Vorgehen der Ermittlungsbehörden ist der Rspr. des BVerfG im Zusammenhang mit der Auslegung des Art. 104 I GG nichts zu entnehmen.
Noch in BGHSt 25, 168, 171 hat es der 3. Strafsenat BGH abgelehnt, ein BVV von hypothetischen Ermittlungsverläufen abhängig zu machen:
"Auch von der Frage, ob das Beweismittel auf anderem Wege hätte gewonnen werden können oder ob es zur Zeit der beabsichtigten Verwertung noch gewonnen werden könnte, kann die Zulässigkeit der Verwertung als Beweismittel nicht abhängen (…); diese Frage lässt sich in der Regel, namentlich für das Revisionsgericht, nachträglich nicht mehr klären."
Demgegenüber hat der 1. Strafsenat des BGH sich in einer jüngeren Entscheidung ausdrücklich zur Verlaufshypothese bekannt.[65] In seiner Entscheidung zum Richter-
vorbehalt bei Durchsuchungen hat das BVerfG die Berufung auf Verlaufshypothesen dagegen grundsätzlich verworfen.[66] Jedenfalls bei strafprozessualen Grundrechtseingriffen, die von Verfassungs wegen unter Richtervorbehalt stehen, dürften sich nach dieser Rechtsprechungen Überlegungen zu alternativen Verfahrensläufen erübrigen.
Das Denkmodell der hypothetisch rechtmäßigen Beweiserlangung ist allerdings auch in dem der Anerkennung einer Fernwirkung eher gewogenen anglo-amerikanischen Recht als independant source doctrine und inevitable discovery doctrine bekannt.
Der Feststellung, dass der Beweis auch auf rechtmäßige Weise hätte erbracht werden können, geht die Beantwortung der Frage voraus:
Wäre der Beweis auch bei ex ante rechtmäßigem Verhalten generiert worden?[67]
Kann der Maßnahmeanordner (Subjektsurrogat) z. B. in den Fällen, in denen die Maßnahme unter Richtervorbehalt steht, ausgetauscht werden oder kann die Maßnahme selbst (Objektsurrogat) ausgetauscht oder ersetzt werden?[68] Hätte z.B. die durch eine Vertrauensperson gewonnene Erkenntnis ebenso durch einen Verdeckten Ermittler erlangt werden können?[69] Erforderlich ist dabei stets die positive Feststellung einer rechtmäßigen Alternative.[70] Die vage Vermutung, dass die Polizei das Beweismittel auch ohne den Gesetzesverstoß erlangt hätte, genügt mithin nicht.[71] Überdies verbietet es sich, nach Feststellung eines Verfahrensverstoßes die Frage der Verwertbarkeit bei unklarer Verlaufshypothese in dubio contra reum zu klären.[72] Ist dem Richter, Staatsanwalt oder Ermittlungsbeamten Ermessen eingeräumt, so scheidet die Annahme eines hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlauf deswegen aus, weil es sich bei einer Ermessensausübung um eine höchstpersönliche Entscheidung handelt und es nachträglich nicht beurteilt werden kann, wie der Entscheidungsträger in der konkreten Situation entschieden hätte, bzw. ob er sein Ermessen beanstandungsfrei oder ermessensfehlerhaft ausgeübt hätte. Gleiches gilt, wenn dem Richter, Staatsanwalt oder Ermittlungsbeamten bei der Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt wird.
Zwar könnte die Verlaufshypothesen-Doktrin in Fällen der Umgehung des Richtervorbehalts u.U. zur Vereitelung des BVV und auch ihrer Fernwirkung führen, nicht aber in anderen Fällen. Scheidet nämlich ein rechtmäßiger Weg der Beweiserlangung aus, so ist die Verfahrens- und Erkenntnislage als Beweisgrundlage anzuerkennen, die bei rechtmäßigem Ermittlungsverlauf bestanden hätte – die Verlaufshypothese wirkt in diesem Fall zugunsten des Beschuldigten. Im Einzelnen:
Die Verlaufshypothesen-Doktrin lässt sich mithin sowohl zur Begründung der Fernwirkung als auch zu deren Ablehnung heranziehen.
Die Ablehnung einer Fernwirkung durch die hM dient ersichtlich dem Zweck, durch die Anerkennung von BVV der Justiz nicht auch noch den Weg zur Verurteilung zu versperren. Die Ablehnung einer Fernwirkung dient allein der Entwertung – mehr noch: der Kraftloserklärung
– der BVV und verletzt den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt.
Dem Argument, die Strafrechtspflege dürfe durch BVV mit Fernwirkung nicht lahmgelegt werden, ist entgegenzuhalten, dass die BVV durch Ablehnung einer Fernwirkung andererseits auch nicht wirkungslos werden dürfen. BVV sollen Sanktionscharakter haben, denn durch sie sollen die Ermittlungsbehörden zu gesetzeskonformen Verhalten veranlasst werden. Dieser Sanktionscharakter und das Interesse der Ermittlungsbehörden an einem rechtmäßigen Ermittlungsverfahren entfielen, wenn die fruits of the poisonous tree verwertbar wären.
IdR entfalten sowohl absolute als auch relative BVV Fernwirkung. Auf andere Weise lässt sich nicht gewährleisten, dass die Ermittlungsbehörden das Verfahrensrecht in gehöriger Weise beachten und die BVV wären in ihrem Bedeutungskern entwertet.
[*] Leicht geänderte Fassung eines Vortrags, den der Verf. auf der Hauptverhandlungstagung 2015 in Freyburg (Unstrut) am 8. Mai 2015 gehalten hat.
[1] Vgl. BGHSt 36, 396, 398; BGHSt 38, 276, 278.
[2] Vgl. Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag 2008, S. 90.
[3] Vgl. Jahn, aaO., S. 98 (Fn. 2).
[4] Vgl. Jahn, aaO., S. 95 (Fn.2).
[5] Vgl. BGHSt 27, 355, 358; BGHSt 32, 68, 71; BGHSt 34, 362, 364; BGHSt 35, 32, 34; ferner BGHR StPO § 110 a Fernwirkung 1.
[6] Lesch , in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Aufl. (2015), Köln, S. 1291.
[7] BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 - 1 BvR 256/08, Rn. 252 = HRRS 2010 Nr. 134.
[8] BGHSt 32, 68, 70.
[9] Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl., München (2014), S. 186 ff.
[10] BGHSt, 29, 244, 247 ff.
[11] Vgl. Roxin/Schünemann, aaO. (Fn. 9).
[12] Vgl. BVerfG vom 12.10.2011 - 2 BvR 236/08, Rn. 220 = HRRS 2012 Nr. 29.
[13] Z. B. die Identifizierung des Tatverdächtigen.
[14] Vgl. hierzu die Anmerkung von Grünwald, StV 1987, 470.
[15] Vgl. Neuhaus NJW 1990, 1221.
[16] BGHSt 17, 364, 366 ff.
[17] Vgl. LG Frankfurt StV 2003, 325.
[18] Vgl. BGHSt 22, 170, 173 ff.; BGHSt 31, 395, 399.
[19] OLG Oldenburg, Urt. v. 10.10.1994 - Ss 371/94 = StV 1995, 178.
[20] Vgl. BGH HRRS 2009 Nr. 967 = NJW 2009, 3589, mit Anm. Meyer-Mews .
[21] BGH NJW 2007, 2269 = HRRS 2007 Nr. 901.
[22] Vgl. BVerfG NStZ 2006, 46 = HRRS 2006 Nr. 303; BGHSt 27, 355, 358; BGHSt 32, 68, 71; BGH NJW 2006, 1361 = HRRS 2006 Nr. 786.
[23] Vgl. BGHSt 38, 214, 225 ff.; BGHSt 52, 38, 41 = HRRS 2007 Nr. 900; näher zur Widerspruchslösung: Grüner, Über den Missbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozess (Diss., 2000), Berlin, S. 209 ff.; SSW-StPO/Eschelbach, Köln, 2014, § 136, Rn. 95; Meyer-Mews Strafo 2009, 141.
[24] Vgl. BGHSt 38, aaO. (Fn. 1).
[25] Vgl. BGHSt 31, 395, 397f; Meyer-Mews, aaO., 143 (Fn. 23).
[26] Vgl. BGHSt 39, 352.
[27] Vgl. BGH StV 2006, 225, 226.
[28] Vgl. OLG Stuttgart StV 2001, 388.
[29] Vgl. Meyer-Mews, aaO. (Fn. 23).
[30] Vgl. SK-StPO/Velten, 4. Aufl. (2012), Köln, § 252, Rn. 3.
[31] Vgl. SK-StPO/Velten, aaO (Fn. 30).
[32] Vgl. SK-StPO/Velten, § 252, Rn. 6 (Fn. 30).
[33] Vgl. BGHSt 7, 194; BGHSt 34, 215.
[34] Vgl. SK-StPO/Velten, § 252, Rn. 7 (Fn. 30).
[35] Diese Rspr. steht in unauflösbarem Konflikt mit Art. 6 III d) EMRK und der dazu vom EGMR entwickelten Rspr.
[36] Vgl. BGHSt 36, aaO., 398 (Fn. 1); BGHSt 38, aaO., 278 (Fn. 1).
[37] Vgl. EGMR, Urt. vom 01.06.2010, Beschw.-Nr. 22978/05= HRRS 2010 Nr. 744=StV 2011, 325; siehe auch Schenk/Schweiz Urt. v. 12.07.1988, Beschw.-Nr. 10862/84 = EGMR-E 4, 124.
[38] Vgl. Christian Schneider, Beweisverbote aus dem Fair-Trail-Prinzip des Art. 6 EMRK (Diss., 2013), Hamburg, S. 355.
[39] Vgl. Christian Schneider, aaO., S. 359 (Fn. 38).
[40] Vgl. Christian Schneider, aaO. (Fn. 38).
[41] Vgl. Christian Schneider, aaO., S. 360 (Fn. 38).
[42] Vgl. EGMR Furcht/Deutschland HRRS 2014 Nr. 1066= StraFo 2014, 504 m. Anm Sommer.
[43] BGHSt 42, 25 f. = NJW 1996, 1547 = NStZ 1996, 291=StV 1996, 187 = StV 1996, 412.
[44] BVerfG, vom 18.12.2014 - 2 BvR 209/14 = HRRS 2015 Nr. 85.
[45] Vgl. BVerfG, Beschl. vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05 – Rn 73 = NJW 2006, 672 = HRRS 2005 Nr. 900.
[46] Vgl. Presserklärung des BGH Nr. 91/2015 zum Urteil vom 10.06.2015 – 2 StR 97/14; ebenso schon früher: Christian Jäger, Beweisverwertung und Beweisverbot im Strafprozess (2003), München, S. 257 ff.
[47] Vgl. BGHSt 45, 321; ferner: Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse (2011), München, S. 10 ff.
[48] Vgl. Hüls/Reichling StV 2014, 212.
[49] Vgl. BVerfG NJW 2004, 3407, 3410 = HRRS 2004 Nr. 867; BVerfGE 111, 307 = HRRS 2004 Nr. 867; BVerfG, NJW 2011, 1931, 1935 = HRRS 2011 Nr. 488.
[50] Vgl. Hüls/Reichling, aaO. (Fn. 48).
[51] Vgl. Hüls/Reichling, aaO. (Fn. 48).
[52] Vgl. vor allem Rogall NStZ 1988, 385.
[53] Vgl. OLG Köln NJW 1979, 1216; OLG Celle NStZ 1989, 385; Christian Schneider, aaO., S. 368; Löffelmann in: Löffelmann/Walther/Reitzenstein, Das strafprozessuale Ermittlungsverfahren (2007), Bonn, S. 253.
[54] Vgl. Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297, 301.
[55] Ebenso Fezer NStZ 2003, 625, 629.
[56] Vgl. Neuhaus NJW 1990, aaO., 1222 (Fn.15).
[57] Vgl. SSW-StPO/Beulke, Köln, 2013, Einl. Rn. 269, unter Hinweis auf: BGHSt 53, 64, 67 = HRRS 2009 Nr. 143; Allgayer/Klein wistra 2010, 130; Singelnstein ZStW 120 (2008), 854.
[58] Ebenso SSW-StPO/Beulke, aaO., Rn. 271 (Fn. 57).
[59] Vgl. Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, aaO., 303 (Fn. 54).
[60] Vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 - 1 BvR 256/08, Rn. 252=HRRS 2010, 134; SSW-StPO/Beulke, aaO. (Fn. 57).
[61] Vgl. BVerfG NJW 2006, 2974.
[62] Vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.09.2006 - 2 BvR 129/04.
[63] Vgl. Heidelbach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung (Diss., 2014), München; Lam StraFo 2014, 407; Meyer-Mews StraFo 2012, 7.
[64] BVerfG, StV 2006, 139 = HRRS 2006 Nr. 65.
[65] Vgl. BGH NStZ 2004, 449 = HRRS 2007 Nr. 598.
[66] Vgl. BVerfGE 103, 142.
[67] Vgl. Christian Schneider, aaO., S. 369 mwN (Fn. 38).
[68] Vgl. Christian Schneider, aaO. (Fn. 38); Jahn/Dallmeyer, NStZ aaO., 302 (Fn. 54).
[69] Vgl. Bockemühl, Private Ermittlungen im Strafprozess (Diss., 1996), Baden-Baden, S. 80, der die Rechtmäßigkeit des privaten Einsatzes einer VP davon abhängig machen will, ob die Erkenntnisse etwa auch durch den Einsatz eines VE hätten gewonnen werden können.
[70] Vgl. BGHSt 34, 365.
[71] Vgl. Jahn/Dallmeyer, aaO. (Fn. 54), 300; Rogall NStZ 1988, 385, 393, Neuhaus NJW 1990, 1221 f. (Fn.15).
[72] Vgl. Neuhaus, aaO (Fn. 15).