HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2015
16. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

942. BGH 1 StR 447/14 – Beschluss vom 22. Juli 2015 (LG Hamburg)

Vorlage an den EuGH (Treibhausmissionszertifikate als „ähnliche Rechte“ im Sinne von Art. 56 Abs. 1 lit. a) der RL 2006/112/EG); Umsatzsteuerhinterziehung (fehlende Berechtigung zum Vorsteuerabzug bei innergemeinschaftlichen Lieferungen: Leistungsort).

§ 267 AEUV; Art. 56 Abs. 1 lit. a) RL 2006/112/EG; Art. 3 lit a) RL 2003/87/EG; § 370 Abs. 1 AO; § 15 Abs. 1 Nr. 3 UStG

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. EU Nr. L 347 vom 11. Dezember 2006, S. 1 ff., ber. ABl. EU Nr. L 335 vom 20. Dezember 2007, S. 60) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist Art. 56 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem dahin auszulegen, dass es sich bei dem Zertifikat gemäß Art. 3 Buchst. a) der Richtlinie 2003/87/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. EU Nr. L 275 vom 25. Oktober 2003, S. 32 ff.), das zur Emission von einer Tonne Kohlendioxidäquivalent in einem bestimmten Zeitraum berechtigt, um ein „ähnliches Recht“ im Sinne dieser Vorschrift handelt?


Entscheidung

877. BGH 5 StR 186/15 – Beschluss vom 2. September 2015 (LG Berlin)

Schadensumfang beim Eingehungsbetrug (Gefährdungsschaden; Kaufpreis auf der Grundlage übereinstimmender, von Willens- und Wissensmängeln nicht beeinflusster Vorstellungen der Vertragsparteien über Art und Güte des Vertragsgegenstandes als Basis der Schadensfeststellung; Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung; strafrechtlicher Schutz der Gewinnerzielungsabsicht).

§ 263 StGB

1. Der Senat muss nicht entscheiden, ob an der in BGH HRRS 2013 Nr. 458 vertretenen Auffassung festzuhalten ist, wonach bei einem vom Empfänger einer Sachleistung durch Täuschung über seine Zahlungsbereitschaft begangenen Eingehungsbetrug, der von den Parteien – auf der Grundlage übereinstimmender, von Willens- und Wissensmängeln nicht beeinflusster Vorstellungen über Art und Güte des Vertragsgegenstandes – bestimmte Wert grundsätzlich auch die Basis der Schadensfeststellung zu sein habe (vgl. hierzu auch BGH HRRS 2014 Nr. 1068). Jedenfalls darf es nicht zu einem strafrechtlichen Schutz der Gewinnerzielungsabsicht des Verkäufers kommen.

2. Eine solche Art der Schadensfeststellung kommt dann nicht in Frage, wenn eine den dargestellten Anforderungen genügende Wertfestsetzung der Parteien nicht gegeben ist, was z.B. dann der Fall sein kann, wenn eine Partei unvollständige oder unrichtige Unterlagen über den Vertragsgegenstand erhält. Auch ein fehlendes Augenmerk eines Beteiligten auf die wirtschaftliche Ausgeglichenheit des Geschäfts kann gegen eine entsprechende Wertfestsetzung sprechen. Schließlich kommt die besagte Methode bei der Schadensfeststellung allenfalls in Betracht, wenn ein augenfälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung auszuschließen ist.


Entscheidung

873. BGH 3 StR 518/14 – Beschluss vom 23. Juli 2015 (LG Hildesheim)

Konkurrenzen bei Betrug und Bankrott (Deliktsserie; Tateinheit; selbständige Handlung; von vornherein ins Auge gefasster endgültiger Erfüllungsschaden; Aufbau und in der Aufrechterhaltung des auf die Straftaten ausgerichteten „Geschäftsbetriebes“: uneigentliches Organisationsdelikt); Insolvenzverschleppung (Zahlungsunfähigkeit; betriebswirtschaftliche Methode; wirtschaftskriminalistische Methode; Beweiszeichen; Indizwirkung; Überschuldung); Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Bemessung der Kompensation; Orientierung am Entschädigungsgedanken; eigenständige Rechtsfolge).

§ 263 StGB; § 283 StGB; § 52 StGB; § 15a Abs. 4 InsO; § 17 InsO; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 EMRK; Art. 6 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 34 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG

1. Mehrere Täuschungshandlungen während eines Gesamtablaufs, die ausschließlich auf die Herbeiführung eines vom Täter von vornherein ins Auge gefassten endgültigen Erfüllungsschadens gerichtet sind, haben konkurrenzrechtlich keine selbständige Bedeutung, mag sich der Erfüllungsschaden auch nur in Etappen realisieren.

2. Bei einer Serie von Bankrottdelikten unter Beteiligung mehrerer Personen ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, für jeden Beteiligten gesondert zu prüfen und dabei auf seinen individuellen Tatbeitrag abzustellen. Wirkt ein Täter an einzelnen Taten anderer Beteiligter selbst nicht unmittelbar mit, sondern erschöpfen sich seine Tatbeiträge hierzu im Aufbau und in der Aufrechterhaltung des auf die Straftaten ausgerichteten „Geschäftsbetriebes“, sind diese Tathandlungen als uneigentliches Organisationsdelikt zu einer einheitlichen Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammenzufassen. Als rechtlich selbständige Taten können dem Mittäter – soweit keine natürliche

Handlungseinheit vorliegt – nur solche Einzeltaten der Serie zugerechnet werden, für die er einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag leistet.

3. Zahlungsunfähigkeit liegt gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Sie ist in der Regel durch eine stichtagsbezogene Gegenüberstellung der fälligen Verbindlichkeiten einerseits und der zu ihrer Tilgung vorhandenen oder kurzfristig herbeizuschaffenden Mittel andererseits festzustellen (sog. betriebswirtschaftliche Methode).

4. Die Zahlungsunfähigkeit kann jedoch auch durch sogenannte wirtschaftskriminalistische Beweisanzeichen belegt werden (sog. wirtschaftskriminalistische Methode). Als solche kommen unter anderem in Betracht die ausdrückliche Erklärung, nicht zahlen zu können, das Ignorieren von Rechnungen und Mahnungen, gescheiterte Vollstreckungsversuche, Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern, der Sozialversicherungsabgaben oder der sonstigen Betriebskosten, Scheck- und Wechselproteste oder Insolvenzanträge von Gläubigern


Entscheidung

854. BGH 3 StR 223/15 – Beschluss vom 7. Juli 2015 (LG Hannover)

Fehlende Feststellung des Wirkstoffgehalts und der Wirkstoffmenge bei Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldelikts; rechtsfehlerhafte Anordnung von Wertersatzverfall (nicht mehr Vorhandensein des Erlangten im Vermögen des Täters; Ermessen; keine Gefährdung der Resozialisierung des Täters durch Verfallsanordnung).

§ 29a BtMG; § 73 StGB; § 73a StGB; § 73c StGB

Auf tatrichterliche Feststellungen zu Wirkstoffgehalt und Wirkstoffmenge kann bei der Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldelikts regelmäßig auch dann nicht verzichtet werden, wenn das Urteil auf einer Verständigung beruht (vgl. bereits BGH HRRS 2013 Nr. 801).


Entscheidung

941. BGH 1 StR 447/14 – Urteil vom 22. Juli 2015 (LG Hamburg)

Umsatzsteuerhinterziehung (keine Berechtigung zum Vorsteuerabzug bei Beteiligung an Umsatzsteuerhinterziehung durch den Erwerb: relevanter Zeitpunkt); Beihilfe zur Umsatzsteuerhinterziehung (objektive und subjektive Voraussetzungen: Beihilfe durch Integration in ein Umsatzsteuerkarussell; Tateinheit).

§ 370 Abs. 1 AO; § 15 Abs. 1 UStG; § 27 Abs. 1 StGB

1. Der Vorsteuerabzug ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dann zu versagen, wenn der Steuerpflichtige – im unionsrechtlichen Sinne – selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist und er deswegen als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen ist (vgl. EuGH, Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling und vom 18. Dezember 2014, Italmoda, DStR 2015, 573; BGH wistra 2015, 147 mwN).

2. Für die Frage, ob die Voraussetzungen für einen Vorsteuerabzug vorliegen, ist nicht der Zeitpunkt der Abgabe der Steueranmeldung, in welcher der Vorsteuerabzug vorgenommen wird, maßgeblich, sondern derjenige der Ausführung der Lieferung oder sonstigen Leistung (vgl. BGH NStZ 2015, 283).

3. Ist eine Person in ein auf Hinterziehung von Umsatzsteuer ausgerichtetes Gesamtsystem integriert, fördert sie, wenn sie von den anderen Geschäften in der Lieferkette Kenntnis hat, als Gehilfe i.S.d. § 27 Abs. 1 StGB mit ihrem eigenen Beitrag innerhalb der Lieferkette auch jeweils eine Umsatzsteuerhinterziehung der anderen Mitglieder, die an den auf Hinterziehung der Umsatzsteuer gerichteten Geschäften beteiligt sind (vgl. BGH NStZ 2003, 268).

4. Ob bei Beihilfe Tateinheit oder Tatmehrheit anzunehmen ist, hängt von der Anzahl der Beihilfehandlungen und der vom Gehilfen geförderten Haupttaten ab. Tatmehrheit gemäß § 53 StGB ist anzunehmen, wenn durch mehrere Hilfeleistungen mehrere selbstständige Taten gefördert werden, also den Haupttaten jeweils eigenständige Beihilfehandlungen zuzuordnen sind. Dagegen liegt eine einheitliche Beihilfe i.S.v. § 52 StGB vor, wenn der Gehilfe mit einer einzigen Unterstützungshandlung zu mehreren Haupttaten eines anderen Hilfe leistet (vgl. BGH wistra 2008, 217). Dasselbe gilt wegen der Akzessorietät der Teilnahme, wenn sich mehrere Unterstützungshandlungen auf dieselbe Haupttat beziehen (vgl. BGHSt 46, 107).


Entscheidung

916. BGH 1 StR 12/15 – Beschluss vom 1. September 2015 (LG Augsburg)

Steuerhinterziehung (Berechnungsdarstellung); Dokumentation einer Verständigung (Anforderungen an die Darstellung im Urteil).

§ 370 Abs. 1 AO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 257c StPO; § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO

1. Bei der Steuerhinterziehung, bei der die Strafvorschrift des § 370 AO durch die im Einzelfall anzuwendenden steuerrechtlichen Vorschriften materiellrechtlich ausgefüllt wird, müssen die jeweiligen Umstände festgestellt werden, aus denen sich ergibt, welches steuerlich erhebliche Verhalten im Rahmen der jeweiligen Abgabenart zu einer Steuerverkürzung geführt hat. Dazu gehören insbesondere auch diejenigen Parameter, die maßgebliche Grundlage für die Steuerberechnung sind (vgl. BGH NJW 2009, 2546 mwN).

2. Weder aus den die Verständigung regelnden Vorschriften der StPO noch der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2015 – 2 BvR 878/14 (BVerfG NStZ 2015, 170) ergibt sich, dass grundsätzlich Einzelheiten zum Inhalt der erwähnten Verständigung im Urteil über die Mindestanforderungen des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO hinaus mitzuteilen sind (vgl. dazu BGH NStZ-RR 2013, 52 mwN).


Entscheidung

996. BGH 4 StR 265/15 – Beschluss vom 16. Juli 2015 (LG Kaiserslautern)

Verfall (Absehen vom Verfall wegen Vorliegens einer unbilligen Härte: Voraussetzungen, Verhältnis zum Absehen vom Verfall, wenn das Erlangte im Vermögen des Angeklagten nicht mehr vorhanden ist).

§ 73c Abs. 1 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergibt sich aus dem systematischen Verhältnis zwischen der bei „unbilliger Härte“ zwingend zum Ausschluss der Verfallsanordnung führenden Regelung in § 73c Abs. 1 Satz 1 StGB einerseits und der Ermessensvorschrift in § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB andererseits, dass regelmäßig zunächst auf der Grundlage letztgenannter Vorschrift zu prüfen ist, ob von einer Anordnung des Verfalls oder Wertersatzverfalls abgesehen werden kann (vgl. BGH StV 2013, 630 f).

2. Eine „unbillige Härte“ ist erst dann gegeben, wenn die Anordnung des Verfalls schlechthin ungerecht wäre und das Übermaßverbot verletzen würde. Die Auswirkungen des Verfalls müssten mithin im konkreten Einzelfall außer Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber mit der Maßnahme angestrebten Zweck stehen (st. Rspr).

3. Das Nichtvorhandensein des Erlangten bzw. eines Gegenwertes im Vermögen des von der Verfallsanordnung Betroffenen kann nach der aufgezeigten Systematik des § 73c Abs. 1 StGB für sich genommen regelmäßig noch keine unbillige Härte begründen (vgl. BGH NStZ 2010, 86 f). Maßgeblich für das Vorliegen einer „unbilligen Härte“ gemäß § 73c Abs. 1 Satz 1 StGB ist vielmehr, wie sich die Verfallsanordnung auf das davon betroffene Vermögen auswirken würde (vgl. BGH wistra 2001, 388, 389).


Entscheidung

958. BGH 2 StR 170/15 – Beschluss vom 9. Juli 2015 (LG Gera)

Verhängung von Jugendstrafe (Vorliegen von schädlichen Neigungen).

§ 17 Abs. 2 JGG

Schädliche Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 JGG sind erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel, aus denen sich eine Neigung zur Begehung von Straftaten ergibt, schon vor der Tat angelegt waren. Die schädlichen Neigungen müssen auch noch zum Urteilszeitpunkt bestehen und weitere Straftaten befürchten lassen (st. Rspr.).