HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2015
16. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

423. BGH 4 StR 574/14 – Beschluss vom 28. Januar 2015 (LG Essen)

Rücktritt vom Versuch (Freiwilligkeit: Wahrnehmung von Tathindernissen durch Täter).

§ 22 StGB; § 23 Abs.1 StGB; § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB

Zwar kann das befürchtete alsbaldige Eintreffen der Polizei bei einem unbeendeten Versuch die Freiwilligkeit des Rücktritts ausschließen (vgl. BGH NStZ 2007, 399, 400). Unfreiwillig ist aber auch in solchen Fällen das Nicht-Weiterhandeln nur dann, wenn der Täter sich auf Grund äußerer

Zwänge oder psychischer Hemmungen zur Tatvollendung nicht mehr in der Lage gesehen hat (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 171, 172). Dies setzt voraus, dass der Täter dieses „Hindernis“ wahrnimmt und es seine Willensentschließung zumindest mitbestimmt.


Entscheidung

345. BGH StB 10/14 – Beschluss vom 17. Dezember 2014

Zulässigkeit der Beschwerde gegen die beendete Durchsuchung; Durchsuchung beim Tatunverdächtigen; „Befassungsverbot“ bei verstorbenem Beschuldigten (Zulässigkeit weiterer Ermittlungen bei Zweifeln über den Tod); Sichbereiterklären zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung („doppelte“ Vorverlagerung; Zusammenwirken mehrerer; Ernsthaftigkeit der Erklärung; Zugang; Abgrenzung zur bloßen Kundgabe des Willens, ein Verbrechen zu begehen); Reichweite der Verfolgungsermächtigung bei laufendem Erkenntnisfortschritt im Ermittlungsverfahren.

§ 30 Abs. 2 Var. 1 StGB; § 77e StGB; § 129a StGB; § 129b StGB; § 103 StPO; § 300 StPO

1. § 30 Abs. 2 Var. 1 StGB ist auf den Verbrechenstatbestand der Beteiligung an einer (ausländischen) terroristischen Vereinigung als Mitglied nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB anwendbar, obgleich sowohl § 30 StGB als auch die §§ 129 ff. StGB bereits jeweils für sich genommen die Strafbarkeit in das Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutsverletzung verlagern und durch die Kumulation dieser Wirkungen im Einzelfall die Grenze zwischen der verfassungsrechtlich noch zu rechtfertigenden Verfolgung strafbaren Unrechts und diesen Bereich verlassenden reinem Präventionsrecht erreicht werden kann.

2. Aus dem im Rahmen des § 30 StGB zu stellenden Erfordernis des Zusammenwirkens mehrerer folgt, dass die bloße Kundgabe, ein Verbrechen begehen zu wollen, den Tatbestand des § 30 Abs. 2 Var. 1 StGB nicht erfüllt. Vielmehr muss die Erklärung darauf gerichtet sein, sich gegenüber deren Adressaten zu binden, weshalb stets die Ernsthaftigkeit der Erklärung zu fordern ist.

3. Die demnach gem. § 30 Abs. 2 Var. 1 StGB erforderliche Selbstbindung kann in Fällen des Sichbereiterklärens zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer (ausländischen) terroristischen Vereinigung erst und nur dann angenommen werden, dass die Erklärung gegenüber einem Repräsentanten der terroristischen Vereinigung abgegeben wird.

4. Ein Gericht darf sachlich nur dann über einen Vorwurf befinden, wenn die Person, der gegenüber dieser erhoben wird, lebt (sog. „Befassungsverbot“). Mit dem Tod des Beschuldigten ist deshalb ein gegen diesen geführtes Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Bestehen über das Ableben indes Zweifel, so bleiben weitere Ermittlungsmaßnahmen jedenfalls dann zulässig, wenn sie zumindest auch der Klärung des Vorliegens dieser Verfahrensvoraussetzung dienen.


Entscheidung

384. BGH 4 StR 498/14 – Beschluss vom 11. Februar 2015 (LG Landau)

Verminderte Schuldfähigkeit (Vorliegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit: Persönlichkeitsstörung; erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit: Rechtsfrage, normative Gesamtbetrachtung); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 21 StGB; § 63 StGB

1. Eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung kann die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit nur dann begründen, wenn sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben eines Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (st. Rspr.). Handelt es sich um ein eher unspezifisches Störungsbild, das immer auch noch als – möglicherweise extreme – Spielart menschlichen Wesens einzuordnen sein kann, wird der Grad einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ regelmäßig erst dann erreicht, wenn der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. BGHSt 42, 385, 388).

2. Ob die Steuerungsfähigkeit wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt (vgl. BGH NJW 2014, 3382, 3384 mwN). Dazu hat der Tatrichter in einer Gesamtbetrachtung die Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Entwicklung zu bewerten, wobei auch Vorgeschichte, unmittelbarer Anlass und Ausführung der Tat sowie das Verhalten danach von Bedeutung sind (st. Rspr.).


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

285. BGH 3 StR 233/14 – Urteil vom 22. Januar 2015 (LG Dresden)

BGHSt; Unwirksamkeit der Einwilligung in die Körperverletzung wegen Sittenwidrigkeit (Art und Schwere der ex ante drohenden Rechtsgutsbeeinträchtigung; gesetzgeberische Wertungen; konkrete Todesgefahr; Eskalationsgefahr; Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung; Beteiligung an einer Schlägerei); „dritte Halbzeit“; einvernehmliche, organisierte Schlägereien; Hooligans; kriminelle Vereinigung (Organisationsstrukturen; voluntatives Element; Art und Weise der vereinigungsinternen Willensbildung); Landfriedensbruch; Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.

§ 129 StGB; § 223 StGB; § 228 StGB; § 231 StGB; § 129 StGB; § 125 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB; § 125a Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 StGB

1. Zur Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen im Rahmen von verabredeten Schlägereien. (BGHSt)

2. Das Merkmal der guten Sitten in § 228 StGB ist für sich genommen konturenlos. Angesichts der Wandelbarkeit moralischer Wertungen kommen als Anknüpfungspunkt des Sittenwidrigkeitsurteils die Vorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder gar des zur Entscheidung berufenen Gerichts nicht in Betracht. Auch die Ermittlung von allgemein gültigen moralischen Maßstäben erweist sich in einer pluralistischen Gesellschaft als problematisch. (Bearbeiter)

3. Der hiernach bestehenden Unbestimmtheit des Begriffs der „guten Sitten“ i.S.v. § 228 StGB ist durch einen strikten Bezug auf das Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte sowie eine Reduktion auf seinen Kerngehalt Rechnung zu tragen. Entscheidend ist vor allem das ex ante zu beurteilende Gewicht der durch die Tathandlung geschaffenen Verletzungsgefahr. (Bearbeiter)

4. Allerdings sind für die Feststellung eines Sittenverstoßes Wertungen, die der Gesetzgeber vorgegeben hat, zu berücksichtigen. Der Schutz der Rechtsgüter körperliche Unversehrtheit und Leben gegen Beeinträchtigungen durch Dritte wird deshalb nicht schlechthin, sondern nur innerhalb eines für die Rechtsordnung tolerierbaren Rahmens zur Disposition des Einzelnen gestellt. (Bearbeiter)

5. In diesem Sinne folgt aus der gesetzgeberischen Wertung des § 216 StGB, dass Körperverletzungshandlungen, durch die das Opfer in eine konkrete Todesgefahr gebracht wird, nicht einwilligungsfähig sind. Eine bei der Auslegung des § 228 StGB zu berücksichtigende gesetzgeberische Wertung lässt sich darüber hinaus für die Art und Weise der Begehung der Körperverletzungshandlungen auch der Regelung des § 231 StGB entnehmen. (Bearbeiter)

6. Die Wertung des § 231 StGB führt in Fällen, in denen die an den Schlägereien Beteiligten aus der gebotenen ex-ante-Perspektive dadurch zumindest in die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung gebracht wurden zur Unbeachtlichkeit einer (ggf. konkludent) erteilten Einwilligungen in die mit den Auseinandersetzungen verbundenen Körperverletzungshandlungen. (Bearbeiter)

7. Der Verstoß gegen die Wertung des § 231 StGB begründet das Sittenwidrigkeitsurteil unabhängig davon, ob der sich aus § 231 StGB ergebenden gesteigerten Gefahr für Leib und Leben durch Vorkehrungen, mit denen eine Eskalation der Auseinandersetzung verhindert werden soll, entgegengewirkt werden könnte. (Bearbeiter)

8. Die Sittenwidrigkeit der Tat aufgrund der Erfüllung des Tatbestands des § 231 Abs. 1 StGB ist zudem nicht nur in den Fällen gegeben, in denen die schwere Folge tatsächlich eingetreten ist; denn ein tatbestandsmäßiger, rechtswidriger und schuldhafter Verstoß liegt unabhängig davon vor, weil es sich bei den genannten Folgen ausschließlich um objektive Bedingungen der Strafbarkeit handelt. (Bearbeiter)

9. Bei den von § 231 StGB und den von den Tötungs- bzw. Körperverletzungsdelikten geschützten Rechtsgütern handelt es sich nicht um unterschiedliche, sondern um die gleichen, die einerseits als Gemeininteresse, anderseits aber sowohl von den §§ 211 ff., §§ 223 ff. StGB als auch von § 231 StGB als Individualinteressen geschützt werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

358. BGH 1 StR 488/14 – Urteil vom 10. Februar 2015 (LG Traunstein)

BGHSt; falsche Verdächtigung (Begriff der Verdächtigung; Tatbestandseinschränkung für zulässiges Verteidigungsverhalten: kein Recht zur Lüge); Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion (Gefährdung von fremden Sachen von bedeutendem Wert: Wertgrenze, keine Parallele zu Straßenverkehrsdelikten; Verhältnis zum verbotenen Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen); Tateinheit (Voraussetzungen der natürlichen Handlungseinheit).

§ 164 Abs. 1 StGB; § 308 Abs. 1 StGB; § 315b Abs. 1 StGB; § 315c Abs. 1 StGB; § 40 Abs. 1 Nr. 3 SprengG; § 52 Abs. 1 StGB

1. Falsche Verdächtigung durch den Beschuldigten in einem Strafverfahren bei bewusst wahrheitswidriger Bezichtigung einer bis dahin unverdächtigen Person. (BGHSt)

2. Jedenfalls dann, wenn eine Person konkret verdächtigt wird, für deren Tatbegehung bzw. Tatbeteiligung bis

dahin keine Anhaltspunkte bestanden, kommt im Hinblick auf das durch § 164 StGB auch gewährleistete Rechtsgut des Schutzes der innerstaatlichen Strafrechtspflege vor unberechtigter Inanspruchnahme (vgl. BGH StraFo 2013, 79) eine Tatbestandseinschränkung wegen zulässigem Verteidigungsverhalten nicht in Betracht. Anders als in Fallgestaltungen, in denen außer dem falsch Verdächtigenden überhaupt nur eine weitere Person als Täter der fraglichen rechtswidrigen Tat in Betracht kommt, wird in der hier vorliegenden Konstellation erstmals eine andere Person als vermeintlicher Täter bezichtigt. Erst dadurch werden die Ermittlungsbehörden zu einer auf eine materiell unschuldige und bis zur Falschbezichtigung unverdächtige Person bezogenen Ermittlungstätigkeit veranlasst. (Bearbeiter)

3. Grundsätze, aus denen sich für den Beschuldigten bzw. Angeklagten im Strafverfahren ein Recht auf Lüge ableiten ließe, bestehen nicht. Die Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare) gewährleistet verfassungsrechtlich dem Beschuldigten bzw. Angeklagten im Strafverfahren ein umfassendes Recht zu schweigen, um nicht zu seiner Überführung beitragen zu müssen; der Beschuldigte ist durch die Selbstbelastungsfreiheit mithin davor geschützt, auf ihn selbst bezogene Informationen zu generieren. Für eine einschränkende Anwendung des § 164 StGB jedenfalls in der hier vorliegenden Konstellation der bewusst wahrheitswidrigen Verdächtigung besteht daher kein tragfähiger Grund. (Bearbeiter)

4. Nach ganz überwiegendem Verständnis ist Verdächtigen das Hervorrufen, Umlenken oder Verstärken eines Verdachts (vgl. BGHSt 14, 240, 246). Die Tathandlung kann jedenfalls durch das Behaupten von Tatsachen verwirklicht werden, die geeignet sind, den Verdächtigten einem behördlichen Verfahren auszusetzen. (Bearbeiter)

5. Wie der Bundesgerichtshof bereits zu Verstößen gegen das Waffengesetz durch den unerlaubten Besitz und das unerlaubte Führen einer Waffe entschieden hat, steht die rechtskräftige Aburteilung der Dauerstraftat des Besitzes der Waffe einer Strafverfolgung wegen eines mit dieser Waffe begangenen Verbrechens nicht entgegen (vgl. BGHSt 36, 151, 153 f). Für das Dauerdelikt des (unerlaubten) Umgangs mit explosionsgefährlichen Stoffen gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 3 SprengG gilt nichts anderes. (Bearbeiter)

6. § 308 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt (vgl. BGH NStZ-RR 1996, 132 f.). Vollendung tritt mit dem Herbeiführen einer konkreten Gefahr für fremde Sachen von bedeutendem Wert ein. Maßgeblich ist dafür die Höhe des dem betroffenen fremden Eigentum konkret drohenden Schadens. Um diese zu bestimmen, bedarf es regelmäßig eines zweistufigen Vorgehens, indem zunächst der Wert der Sache selbst und anschließend der ihr drohende (bedeutende) Schaden zu ermitteln sind (st. Rspr. zu § 315c StGB). (Bearbeiter)

7. Der Bundesgerichtshof hat bislang zu § 308 StGB nicht entschieden, ab welcher Untergrenze von einem bedeutenden Wert ausgegangen werden kann. Für die bezüglich des konkreten Gefahrerfolgs im Wortlaut identisch gefassten §§ 315b, c StGB legt der Bundesgerichtshof eine solche von 750 Euro. Der Senat neigt für § 308 StGB im Hinblick auf die auf der Ebene der Tathandlung auch erfassten Explosionen durch Sprengkörper mit geringer Sprengkraft allerdings zu einem etwas höheren Grenzwert, der bei 1.500 Euro liegen könnte. (Bearbeiter)


Entscheidung

308. BGH 3 StR 541/14 – Beschluss vom 3. Februar 2015 (LG Verden)

Verdeckungsmord durch Unterlassen bei vorausgehenden Gewalthandlungen (Anwendung des Zweifelssatzes auf das Vorhandensein von Tötungsvorsatz bei den vorausgehenden Gewalthandlungen; andere Straftat; deutliche zeitliche Zäsur).

§ 211 StGB; § 212 StGB; § 261 StPO

1. Eine mit Tötungsvorsatz durchgeführte Körperverletzungshandlung kommt nur dann als „andere Straftat“ im Sinne von § 211 Abs. 2 Var. 9 StGB in Betracht, wenn zwischen der mit Verdeckungsabsicht vorgenommenen Tötung und den vorausgehenden Gewalthandlungen eine deutliche zeitliche Zäsur liegt.

2. Es stellt eine Verletzung des Grundsatzes in dubio pro reo dar, wenn das Tatgericht bei insoweit nicht zweifelsfreier Tatsachengrundlage den anfänglichen Tötungsvorsatz verneint und infolgedessen – anstelle der Verurteilung wegen einer einheitlichen Tat des Totschlags – aufgrund der späteren Tötung in Verdeckungsabsicht einen Verdeckungsmord bejaht.


Entscheidung

418. BGH 4 StR 433/14 – Urteil vom 29. Januar 2015 (LG München II)

Mord (Heimtücke: Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit durch den Täter; niedrige Beweggründe: Selbstjustiz); Ablehnung eines Beweisantrags als bedeutungslos.

§ 211 StGB; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO

Für das im Rahmen des Heimtückemerkmals des § 211 Abs. 2 StGB erforderliche bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH NStZ 2015, 30, 31). Das gilt in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter selbst dann, wenn er die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat (vgl. BGH NStZ 2015, 30, 31 mwN). Anders kann es jedoch bei „Augenblickstaten“, insbesondere bei affektiven Durchbrüchen oder sonstigen heftigen Gemütsbewegungen sein (vgl. BGH NStZ 2009, 30, 31); auch kann die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein gefehlt hat (vgl. BGH NStZ 2013, 232, 233 mwN).


Entscheidung

387. BGH 4 StR 548/14 – Beschluss vom 26. Februar 2015 (LG Dortmund)

Körperverletzung (Begriff der Gesundheitsschädigung; psychische Einwirkungen als Körperverletzungen).

§ 223 Abs. 1 StGB

1. Als Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom

Normalzustand der körperlichen Funktionen des Opfers nachteilig abweichenden Zustandes anzusehen. Dabei kommt es nicht darauf an, auf welche Art und Weise die Beeinträchtigung erfolgt ist (vgl. BGHSt 36, 1, 6).

2. Rein psychische Empfindungen genügen bei keiner Handlungsalternative, um einen Körperverletzungserfolg gemäß § 223 Abs. 1 StGB zu begründen (vgl. BGHSt 48, 34, 36). Wirkt der Täter auf sein Opfer lediglich psychisch ein, liegt eine Körperverletzung daher erst dann vor, wenn ein pathologischer, somatisch-objektivierbarer Zustand hervorgerufen worden ist, der vom Normalzustand nachteilig abweicht. Bloß emotionale Reaktionen auf Aufregungen, wie etwa starke Gemütsbewegungen oder andere Erregungszustände, insbesondere Angstzustände, stellen keinen pathologischen Zustand und damit keine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB dar.


Entscheidung

399. BGH 2 StR 163/14 – Urteil vom 7. Januar 2015 (LG Fulda)

Schwerer Raub (Verknüpfung von Nötigungsmittel und Wegnahme: Finalität; Voraussetzungen eines minder schweren Falls).

§ 249 Abs. 1 StGB; § 250 Abs. 1, Abs. 4 StGB

1. Es ist für die Annahme des Raubtatbestandes nicht erforderlich, dass die eingesetzten Nötigungsmittel objektiv erforderlich, ursächlich oder förderlich gewesen sind; genügend ist es, wenn der Täter nach seiner Vorstellung Raubmittel anwendet, um dadurch eine Wegnahme zu ermöglichen, ohne dass es objektiv darauf ankäme, ob dies tatsächlich der Fall ist.

2. Bei der Prüfung, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des für einen minder schweren Fall vorgesehenen Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint, ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen (vgl. BGHSt 26, 97, 98).


Entscheidung

357. BGH 1 StR 444/14 – Urteil vom 12. Februar 2015 (LG München I)

Besonders schwerer Raub (konkludente Drohung mit einem empfindlichen Übel für Leib und Leben; Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs); Geiselnahme (funktionaler und zeitlicher Zusammenhang von Entführung und beabsichtigter Nötigung); Nötigung (Eintritt des Erfolges).

§ 249 Abs. 1 StGB; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 239b Abs. 1 StGB; § 240 StGB

1. Eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen (vgl. BGH NStZ 2008, 687), also durch schlüssiges Verhalten oder mit unbestimmten Andeutungen in versteckter Weise, die ein Übel für das Opfer erkennbar ankündigen. Erforderlich ist, dass der Täter die Gefahr für Leib oder Leben deutlich in Aussicht stellt, sie also durch ein bestimmtes Verhalten genügend erkennbar macht; es genügt nicht, wenn der andere nur erwartet, der Täter werde ihm ein empfindliches Übel zufügen (vgl. BGHSt 7, 252, 253). Die konkludente Drohung mit Fortführung der Gewalt setzt also voraus, dass sich den Gesamtumständen einschließlich der zuvor verübten Gewalt die aktuelle Drohung erneuter Gewaltanwendung entnehmen lässt, der Täter also in irgendeiner Form schlüssig erklärt, er werde einen eventuell geleisteten Widerstand mit Gewalt gegen Leib oder Leben brechen. Nur dann wirkt die zuvor verübte Gewalt als aktuelle Drohung erneuter Gewaltanwendung weiter. Nutzt der Täter hingegen die durch die vorangegangene Gewaltanwendung entstandene Angst und Einschüchterung des Opfers nur aus, ohne diese durch eine ausdrückliche oder konkludente Drohung zu aktualisieren, fehlt es an der erforderlichen Finalität (vgl. BGH StV 1995, 416 mwN).

2. Ein anderes gefährliches Werkzeug wird nur dann gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB bei der Tat verwendet, wenn es der Täter als Raubmittel zweckgerichtet einsetzt und das Opfer die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben mittels des gefährlichen Werkzeugs wahrnimmt und somit in die entsprechende qualifizierte Zwangslage versetzt wird (vgl. BGH StV 2012, 153 mwN). Dabei setzt (vollendetes) Verwenden zur Drohung voraus, dass das Opfer das Nötigungsmittel als solches erkennt und die Androhung seines Einsatzes wahrnimmt. Die Äußerung der Drohung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Die konkludente Drohung erfordert, dass nach ihrem Erklärungsinhalt mit dem Einsatz des gefährlichen Werkzeugs gedroht wird. Dies gilt auch dann, wenn das gefährliche Werkzeug bereits in anderem Zusammenhang gebraucht worden ist (vgl. BGHSt 48, 365, 367).

3. Kein Verwenden ist das bloße Mitsichführen des gefährlichen Werkzeugs und zwar grundsätzlich auch dann nicht, wenn es offen erfolgt (vgl. BGH NStZ 2013, 37).

4. Bei der Geiselnahme muss zwischen der Entführung und der beabsichtigten Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang derart bestehen, dass der Täter das Opfer während der Dauer der Entführung nötigen will und die abgenötigte Handlung während der Dauer der Zwangslage vorgenommen werden soll (vgl. BGHSt 40, 350, 355).

5. Auch das Erreichen eines Teilerfolges des Täters, der ein weitergehendes Ziel vorbereitet, kann eine Nötigung darstellen, wenn die Handlung des Opfers eine nach der Vorstellung des Täters eigenständig bedeutsame Vorstufe des gewollten Enderfolgs ist (vgl. BGH NJW 1997, 1082 f.).


Entscheidung

294. BGH 3 StR 490/14 – Beschluss vom 22. Januar 2015 (LG Koblenz)

Kein Verbreiten jugendpornographischer Schriften bei gezielter Versendung an Einzelpersonen; zum Begriff des „Einwirkens“ beim sexuellen Missbrauch von Kindern (Erfordernis psychischer Einflussnahme tiefergehender Art); Gleichstellung von Datenspeichern und Schriften; Konkurrenzen beim sexuellen Missbrauch.

§ 11 Abs. 3 StGB; § 52 StGB;  176 Abs. 4 StGB; § 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB

1. Werden Bilder mit jugendpornographischem Inhalt gezielt an Einzelpersonen versendet, reicht dies für die Annahme des Tatbestandsmerkmals des Verbreitens im Sinne von § 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht aus. Vielmehr muss der Täter dafür eine Schrift einer nicht mehr individualisierbaren Vielzahl von Personen weitergeben.

2. Ein „Einwirken“ im Sinne von § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB erfordert eine psychische Einflussnahme tiefergehender Art. Das ist beim bloßen Versenden von Bildern pornographischen Inhalts regelmäßig nicht gegeben.

3. Die gleichzeitige Verletzung sowohl von § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Nr. 4 StGB führt zur Annahme gleichartiger Tateinheit.


Entscheidung

381. BGH 4 StR 328/14 – Beschluss vom 26. Februar 2015 (LG Frankenthal)

Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (erforderlicher Grad der Individualisierbarkeit).

§ 201a Abs. 1 StGB

Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen § 201a StGB auch Bildaufnahmen unterfallen, die allein aus sich heraus eine Individualisierung der abgebildeten Person nicht ermöglichen, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Tatbestandlich erfasst werden jedenfalls solche Bildaufnahmen, die aufgrund hinreichend vorhandener Identifizierungsmerkmale von den jeweiligen Tatopfern der eigenen Person zugeordnet werden können.


Entscheidung

417. BGH 4 StR 424/14 – Urteil vom 29. Januar 2015 (LG Siegen)

Exhibitionistische Handlungen (Definition der exhibitionistischen Handlung: Ziel des sexuellen Lustgewinns).

§ 183 Abs. 1 StGB

Eine exhibitionistische Handlung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter einem anderen ohne dessen Einverständnis sein entblößtes Glied vorweist, um sich dadurch oder zusätzlich durch Beobachten der Reaktion der anderen Person oder durch Masturbieren sexuell zu erregen, seine Erregung zu steigern oder zu befriedigen (BT-Drucks. VI/3521 S. 53). Die Tathandlung liegt in dem Vorzeigen des entblößten Gliedes mit dem Ziel des hierdurch bewirkten sexuellen Lustgewinns. Dass der Täter sein Geschlechtsteil bereits zu diesem Zweck entblößt hat, setzt die Vorschrift hingegen nicht voraus.


Entscheidung

310. BGH 3 StR 544/14 – Beschluss vom 3. Februar 2015 (LG Krefeld)

Versuchter Betrug durch massenhafte Versendung von Forderungsschreiben (indizielle Bedeutung der Anerkennung der Forderung durch die Adressaten für das Vorstellungsbild des Täter; Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache (Einstellung der behaupteten Tatsache in das bisherige Beweisergebnis; prognostische Prüfung).

§ 263 StGB; § 244 Abs. 3 S. 2 StPO

Bei einer Verurteilung wegen versuchten Betruges durch die massenhafte Versendung von Forderungsschreiben kann der vom Angeklagten behaupteten Tatsache, die Adressaten hätten die geltend gemachten Forderungen als berechtigt anerkannt und deshalb gezahlt, grundsätzlich eine indizielle Bedeutung für das – beim Versuch maßgebliche – Vorstellungsbild des Angeklagten zukommen.


Entscheidung

364. BGH 2 StR 210/14 – Urteil vom 11. Februar 2015 (LG Frankfurt a. M.)

Diebstahl (Wegnahme: Gewahrsam an Sachen in generell beherrschten Räumen, hier: Inhaber einer Ladengeschäfts).

§ 242 Abs. 1 StGB

Ein Ladeninhaber besitzt hinsichtlich der in seinem Ladengeschäft befindlichen Waren im Hinblick auf seine jederzeitige Zugriffsmöglichkeit zumindest (Mit-)Gewahrsam, ohne dass es im Einzelnen darauf ankäme, ob er Kontrollen über den Bestand der Waren vornimmt oder überhaupt weiß, ob und wie viele der einzelnen zum Verkauf angebotenen Gegenstände sich in der Gewahrsamssphäre des Ladens befinden.


Entscheidung

305. BGH 3 StR 523/14 – Beschluss vom 20. Januar 2015 (LG Koblenz)

Notwendigkeit von Feststellungen zu Beschaffenheit und Bauweise einer Schreckschusspistole bei Verurteilung wegen besonders schweren Raubes.

§ 249 StGB; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB

Bedroht der Täter einer Raubtat das Opfer mit einer geladenen Schreckschusswaffe, erfüllt er den Qualifikationstatbestand nur, wenn nach deren Bauart der Explosionsdruck beim Abfeuern der Munition nach vorne durch den Lauf austritt. Daher ist zumindest eine Typenbezeichnung oder eine sonstige Beschreibung der verwendeten Schreckschusspistole erforderlich, um eine Beurteilung der bauartbedingten Wirkungsweise im Revisionsverfahren zu ermöglichen.


Entscheidung

325. BGH 5 StR 12/15 – Beschluss vom 24. Februar 2015 (LG Frankfurt (Oder))

Fehlende Feststellungen zu den Voraussetzungen einer sexuellen Nötigung.

§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB

Es reicht zur Verwirklichung des Tatbestandes der sexuellen Nötigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht aus, dass die Abwesenheit schutzbereiter Dritter zur Verwirklichung der Tat ausgenutzt wird. Vielmehr ist es darüber hinaus erforderlich, dass die sexuellen Handlungen gegen den Willen des Opfers geschehen und das Opfer dem Tatgeschehen deshalb keinen Widerstand entgegensetzt, weil es dies aufgrund seiner schutzlosen Lage für aussichtslos hält.


Entscheidung

407. BGH 2 StR 352/14 – Beschluss vom 14. Januar 2015 (LG Bad Kreuznach)

Räuberische Erpressung (Absicht der rechtswidrigen Bereicherung); unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Voraussetzung eines gewinnbringenden Umgang mit Betäubungsmitteln: Übergabe der Betäubungsmittel im Rahmen einer Schutzgelderpressung).

§ 253 Abs. 1 StGB; § 255 StGB; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG

1. Eine Verurteilung wegen räuberischer Erpressung erfordert die Absicht des Täters, sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern. Die erstrebte Vermögensverschiebung geschieht zu Unrecht, wenn dem Täter kein Anspruch auf die geforderte Leistung zusteht. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nach zivilrechtlichen Maßstäben. Dass der Anspruch mit Nötigungsmitteln durchgesetzt werden sollte, macht den erstrebten Vermögensvorteil noch nicht rechtswidrig.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Handeltreiben mit Betäubungsmitteln jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit (vgl. BGHSt 50, 252, 256). Es geht dabei um einen für den Täter gewinnbringenden Umgang mit Betäubungsmitteln. Ein solcher Fall liegt nicht vor, wenn die „Gegenleistung“ für die Beschaffung von Betäubungsmitteln darin besteht, „Schutz“ vor Gewalt zu versprechen, also eine sonst zu erwartende Gewaltanwendung zu unterlassen oder zu verhindern. Darin liegt kein Vorteilsversprechen, sondern eine Drohung. Das als Leistung im Rahmen einer Schutzgelderpressung übergebene Rauschgift ist für das Tatopfer der Erpressung nicht Gegenstand des Handels im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG.


Entscheidung

401. BGH 2 StR 204/14 – Beschluss vom 15. Januar 2015 (LG Erfurt)

Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (taugliche Widerstandshandlungen).

§ 113 Abs. 1 StGB

Unter Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten mit Nötigungscharakter zu verstehen, mit der die Durchführung einer Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll. Nach dem Schutzzweck des § 113 StGB muss die Gewalt gegen den Amtsträger gerichtet und für ihn – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar sein (vgl. BGHSt 18, 133;). Bloße Flucht vor der Polizei ist kein (gewaltsamer) Widerstand, auch wenn dadurch gegebenenfalls Dritte gefährdet oder unvorsätzlich verletzt werden (vgl. BGH NStZ 2013, 336).