HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2015
16. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1. EuGH C-398/12 (Vierte Kammer) – Urteil vom 5. Juni 2014 (M)

Europäisches ne bis in idem bei teilrechtskräftigen Entscheidungen (Art. 54 SDÜ: Von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassener Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung der Hauptverhandlung wegen Mangels an Beweisen; Möglichkeit der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen; Begriff „rechtskräftig abgeurteilt“; Strafverfolgung in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer auf demselben Sachverhalt beruhenden Straftat; Strafklageverbrauch und Verbot der Doppelbestrafung); Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Vorabentscheidungsverfahren.

Art. 54 SDÜ; Art. 1 f. Protokoll (Nr. 19) über den Schengen-Besitzstand; Art. 10 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen; Art. 50 GRCh; Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK

1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letz-

tere auftauchen, als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat ausschließt. (EuGH)

2. Art. 54 SDÜ ist im Lichte des Art. 50 GRCh auszulegen. Bei dessen Auslegung sind die Erläuterungen zur GRCh zu berücksichtigen. (Bearbeiter)

3. Die „Rechtskraft“ einer strafrechtlichen Entscheidung ist auf der Grundlage des Rechts des Entscheidungsmitgliedstaats zu beurteilen. Der Betroffene ist wegen der ihm vorgeworfenen Tat als „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne des Art. 54 SDÜ anzusehen, wenn die Strafklage im Entscheidungsmitgliedstaat endgültig verbraucht ist (Bearbeiter)

4. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig eingestellten Ermittlungsverfahrens, die nur beim Auftauchen neuer Belastungstatsachen zulässig ist, stellt sich als ausnahmsweise Einleitung eines anderen Verfahrens und nicht als bloße Weiterführung des bereits abgeschlossenen Verfahrens dar. Da geprüft werden muss, ob die zur Rechtfertigung einer Wiederaufnahme angeführten Tatsachen tatsächlich neuartig sind, kann jedes neue Verfahren gegen die gleiche Person aufgrund der gleichen Tatsachen, das sich auf eine solche Möglichkeit der Wiederaufnahme stützt, nur in dem Vertragsstaat eingeleitet werden, in dem die Einstellungsentscheidung getroffen wurde. (Bearbeiter)


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 920/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. Oktober 2014 (OLG Frankfurt am Main / LG Kassel / AG Fritzlar)

Strafrechtliche Verfolgbarkeit von Verstößen gegen die Schulpflicht (landesrechtliche Strafnorm des Entziehens anderer von der Schulpflicht; Verfassungsmäßigkeit des Hessischen Schulgesetzes; konkurrierende Gesetzgebungskompetenz; keine abschließende bundesgesetzliche Regelung; gerechtfertigter Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht und die Glaubensfreiheit; Freiheit des Landesgesetzgebers bei der Wahl zwischen Straf- und Bußgeldtatbestand; Gleichheitsanspruch nur gegenüber demselben Hoheitsträger; Doppelbestrafungsverbot; Aktualisierung des Normbefehls; „Teilbarkeit“ von Verstößen).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 4 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 7 Abs. 1 GG; Art. 72 Abs. 1 GG; Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG; Art. 103 Abs. 3 GG; § 171 StGB; § 182 HessSchulG

1. Die Vorschrift des § 182 Abs. 1 HessSchulG, die es unter Strafe stellt, einen anderen dauernd oder hartnäckig wiederholt der Schulpflicht zu entziehen, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. Der Bundesgesetzgeber hat mit Erlass des § 171 StGB (Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht) von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit nicht abschließend Gebrauch gemacht und deshalb die Landesgesetzgebungskompetenz nicht verdrängt, wie sich insbesondere aus dem Normzweck ergibt: Wenngleich § 171 StGB auch Schulpflichtverletzungen erfassen kann, ist sein Schutzgut das körperliche Wohlergehen und die sittliche und geistige Entwicklung des Schutzbefohlenen, wohingegen § 182 HessSchulG allein die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht bezweckt.

3. Die Verpflichtung von Eltern, ihre Kinder an dem Unterricht einer staatlich anerkannten Schule teilnehmen zu lassen, schränkt ihr Erziehungsrecht und – bei Geltendmachung von Glaubens- und Gewissensgründen – ihre Glaubensfreiheit in zulässiger Weise ein, zumal der in Art. 7 Abs. 1 GG verankerte staatliche Erziehungsauftrag der Schule dem elterlichen Erziehungsrecht gleichgeordnet ist (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04 – [= HRRS 2006 Nr. 565]).

4. Die Beachtung der Schulpflicht darf der Landesgesetzgeber von den Erziehungsberechtigten durch die Schaffung von Strafvorschriften einfordern. Insoweit liegt ein Gleichheitsverstoß nicht darin, dass andere Länder Schulpflichtverstöße in ihrem Kompetenzbereich lediglich als Ordnungswidrigkeiten ahnden.

5. Ein Verstoß der Eltern gegen die Verpflichtung, ihre Kinder am Unterricht einer staatlich anerkannten Schule teilnehmen zu lassen, verliert seine Strafwürdigkeit nicht deshalb, weil der stattdessen erteilte Hausunterricht zu guten Schulabschlüssen der Kinder geführt hat; denn die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung religiös oder weltanschaulich motivierter „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren.

6. Dass Eltern wegen Entziehung derselben Kinder von der Schulpflicht mehrfach strafrechtlich belangt werden, verstößt nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung. Anders als in den Fällen von Ersatzdienstverweigerern aus Gewissensgründen stellt das Schulgesetz an Eltern nicht lediglich die Forderung nach der einmaligen Erfüllung einer Dienstpflicht, sondern verlangt von ihnen immer von Neuem, dafür Sorge zu tragen, dass ihre Kinder regelmäßig der Schulpflicht nachkommen.


Entscheidung

5. BVerfG 2 BvR 2874/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 9. Oktober 2014 (OLG Düsseldorf)

Verfahren über die Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung (Beschleunigungsgebot; fortbestehendes Rechtsschutzinteresse nach Entlassung aus der Strafhaft; Begründungumfang einer Feststellungsentscheidung; Vorgaben bei der Einholung eines Sachverständigengutachtens; Zeitdauer zwischen Aussetzungsentscheidung und bedingter Entlassung aus der Strafhaft).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 57 StGB; § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO

1. Das Freiheitsgrundrecht gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die angemessene Beschleunigung gerichtlicher Verfahren im Zusammenhang mit einer Freiheitsentziehung.

2. Im Verfahren über die Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Betracht, wenn das Freiheits-

recht nach den Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird.

3. Für die Klärung der Frage, ob in einem Verfahren über die Reststrafaussetzung zur Bewährung der Beschleunigungsgrundsatz verletzt worden ist, hat der Verurteilte auch nach seiner Entlassung aus der Strafhaft ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse.

4. Zu berücksichtigen und zu erörtern sind in diesem Zusammenhang insbesondere der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Reststrafenaussetzung zur Bewährung, die Bedeutung dieses Verfahrens mit Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes, das Ausmaß der mit dem schwebenden Verfahren verbundenen Belastung des Verurteilten und sein Prozessverhalten.

5. Bei der Auswahl und Beauftragung eines Sachverständigen hat das Vollstreckungsgericht dem Beschleunigungsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass es maßgeblich auf die voraussichtliche Bearbeitungsdauer abstellt. Für die Zeit der Gutachtenerstellung hat das Gericht Bearbeitungsfristen zu setzen und zeitnah deren Einhaltung zu überwachen.

6. Der Beschleunigungsgrundsatz ist verletzt, wenn bei der Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung ein Sachverständigengutachten zunächst überhaupt nicht in Auftrag gegeben worden ist, obwohl angesichts einer positiven Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt eine Strafaussetzung nahe lag.

7. Der Beschleunigungsgrundsatz ist auch dann verletzt, wenn ein erforderliches Sachverständigengutachten und die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt nicht parallel, sondern nacheinander eingeholt werden oder wenn das Vollstreckungsgericht nach Aufhebung seiner Fortdauerentscheidung bis zu einer erneuten Entscheidung etwa einen Monat zuwartet, obwohl die Sache entscheidungsreif ist und der Zweidrittelzeitpunkt unmittelbar bevorsteht.

8. Verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar ist es auch, wenn zwischen der Aussetzungsentscheidung und der bedingten Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft mehrere Tage liegen.


Entscheidung

6. BVerfG 2 BvR 2928/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 6. November 2014 (LG München I / AG München)

Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei (Wohnungsgrundrecht; Kontrollfunktion des Richtervorbehalts; besondere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit bei Berufsgeheimnisträgern und bei Nichtbeschuldigten; Ungeeignetheit der Durchsuchung bei Auffindevermutung nur bezüglich beschlagnahmefreier Gegenstände; Kernbereichsschutz; Berufsfreiheit; Recht auf ein faires Verfahren).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 97 StPO; § 102 StPO; § 103 StPO; § 160a Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Angesichts des mit einer Durchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Privatsphäre des Betroffenen trifft den die Durchsuchung anordnenden Richter die Pflicht, durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, dass der Grundrechtseingriff messbar und kontrollierbar bleibt.

2. Richtet sich eine Durchsuchung gegen einen Berufsgeheimnisträger – hier: einen Strafverteidiger – in der räumlichen Sphäre seiner Berufsausübung, so ist bei der Prüfung der Angemessenheit der Maßnahme insbesondere der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant zu berücksichtigen, der auch im Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen und geordneten Rechtspflege liegt. Dies gilt umso mehr, soweit es sich bei dem Rechtsanwalt um einen Nichtbeschuldigten handelt, dessen Räumlichkeiten nach § 103 StPO durchsucht werden sollen.

3. Eine Durchsuchung ist ungeeignet und damit unverhältnismäßig, wenn etwa gewonnene Erkenntnisse ohnehin nicht verwertbar wären. Das Gericht darf eine Durchsuchung daher nur anordnen, wenn eine Prognose ergeben hat, dass ausschließlich Erkenntnisse aus dem nicht absolut geschützten Kernbereich der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant zu erwarten sind.

4. Bei Abschriften von Patientenunterlagen, die ein des Abrechnungsbetruges angeklagter Zahnarzt eigens für seinen Verteidiger angefertigt und mit Anmerkungen versehen hat, ist ohne Weiteres ein „Verteidigerbezug“ anzunehmen, so dass die Beschlagnahme den Verteidiger in seiner Berufsfreiheit und den Angeklagten in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.


Entscheidung

2. BVerfG 2 BvR 437/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. Oktober 2014 (LG Gera)

Versehentliche Nichtbehandlung des Eilantrages eines Strafgefangenen gegen eine Durchsuchung (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Vorrang einer Entschädigungsklage wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 198 GVG; § 201 GVG; § 84 StVollzG

1. Das Recht eines Strafgefangenen auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn das zuständige Gericht über den gegen eine (körperliche) Durchsuchung gerichteten Eilantrag des Gefangenen nicht entscheidet und auch auf seine Nachfrage nicht reagiert. Dies gilt auch dann, wenn es sich dabei um ein – auch in einem geordneten Justizbetrieb nicht ausgeschlossenes – Versehen handelt.

2. Eine auf Feststellung eines derartigen Verstoßes gerichtete Verfassungsbeschwerde ist jedoch aus Gründen der Subsidiarität unzulässig, wenn es der Beschwerdeführer versäumt hat, zunächst bei dem zuständigen Oberlandesgericht eine Klage auf angemessene Entschädigung

für infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens erlittene Nachteile zu erheben.


Entscheidung

4. BVerfG 2 BvR 2343/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 14. Oktober 2014 (LG Oldenburg / AG Cloppenburg)

Einstweilige Anordnung gegen einen Bewährungswiderruf wegen Verstoßes gegen eine Arbeitsauflage (verfassungsrechtliches Bestimmtheitsgebot; Fristbestimmung für die Erbringung der Arbeitsleistung; konkrete Festlegung der Arbeitsleistung durch das Gericht; Folgenabwägung; Überwiegen des Freiheitsgrundrechts).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 56b StGB; § 56c StGB; § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB

1. Auflagen und Weisungen im Rahmen einer Strafaussetzung zur Bewährung müssen dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Danach hat das Gericht und nicht erst der Bewährungshelfer die Vorgaben so bestimmt zu formulieren, dass Verstöße einwandfrei festgestellt werden können und der Verurteilte unmissverständlich weiß, wann er einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten hat.

2. Ob die Bewährungsauflage, nach Weisung der Gerichtshilfe 50 Stunden gemeinnützige Arbeit „unverzüglich nach Rechtskraft des Urteils“ zu leisten, den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes genügt, ist höchst fraglich, weil es an einer Festlegung des Fristendes fehlt und weil die konkrete Bestimmung der Arbeitsleistung und der Institution, bei der diese abzuleisten ist, an die Gerichtshilfe delegiert worden ist.

3. Eine Widerrufsentscheidung, die auf einem Verstoß gegen die genannte Bewährungsauflage beruht, unterliegt daher der Aussetzung im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG, weil bei der gebotenen Rechtsfolgenabwägung das Freiheitsgrundrecht das staatliche Interesse an einer unverzüglichen Strafvollstreckung überwiegt.