HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1
Bearbeiter: Christoph Burchard
Zitiervorschlag: EuGH, C-398/12, Urteil v. 05.06.2014, HRRS 2015 Nr. 1
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Italien eingeleiteten Strafverfahrens gegen M auf Grundlage des gleichen Sachverhalts, der in Belgien Gegenstand paralleler Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in Belgien zwischen Mai 2001 und Februar 2004 war.
3 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) enthält im Anhang das am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichnete und von 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifizierte Protokoll Nr. 7 (im Folgenden: Protokoll Nr. 7 zur EMRK), dessen Art. 4 ("Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden") wie folgt lautet:
"(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden."
4 Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ("Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden") hat folgenden Wortlaut:
"Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden."
5 Aus den Art. 1 und 2 des dem Vertrag von Lissabon (ABl. 2010, C 83, S. 290) angehängten Protokolls (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand ergibt sich, dass das Königreich Belgien und die Italienische Republik zu den Mitgliedstaaten gehören, auf die der Schengen-Besitzstand anwendbar ist.
6 Gemäß Art. 10 Abs. 1 und 3 des dem AEU-Vertrag angehängten Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen bleiben die Befugnisse des Gerichtshofs nach Titel VI des EU-Vertrags in der vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung für die ersten fünf Jahre nach Inkrafttreten dieses Vertrags hinsichtlich der vor dessen Inkrafttreten angenommenen Rechtsakte der Union unverändert, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach Art. 35 Abs. 2 des genannten Vertrags über die Europäische Union anerkannt wurden
7 Aus der Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 (ABl. L 114, S. 56), ergibt sich, dass die Italienische Republik eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben hat, durch die sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkennt.
8 Das SDÜ ist Teil des Schengen-Besitzstands. Sein Titel III ("Polizei und Sicherheit") enthält ein Kapitel 3 über das "Verbot der Doppelbestrafung". Nach Art. 54 des SDÜ, der Teil dieses Kapitels 3 ist, gilt:
"Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann."
9 Wird ein Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung gegen eine von einem Ermittlungsverfahren betroffene Person gestellt, sieht Art. 128 des belgischen Strafprozessgesetzbuchs (StPGB) Folgendes vor: "Wenn die Ratskammer der Ansicht ist, dass die Tat weder ein Verbrechen noch ein Vergehen noch eine Übertretung darstellt oder dass keinerlei Belastungstatsache gegen den Beschuldigten besteht, erklärt sie, dass es keinen Grund zur Verfolgung gibt."
10 Art. 246 StPGB lautet:
"Hat die Anklagekammer beschlossen, dass eine Verweisung des Beschuldigten an den Assisenhof nicht erforderlich ist, kann der Beschuldigte nicht mehr wegen derselben Tat vor diesen Gerichtshof gebracht werden, es sei denn, es tauchen neue Belastungstatsachen auf."
11 Art. 247 StPGB bestimmt:
"Als neue Belastungstatsachen werden betrachtet: Zeugenerklärungen, Aktenstücke und Protokolle, die der Anklagekammer nicht haben vorgelegt werden können, aber dazu geeignet sind, die von der Anklagekammer als zu schwach erachteten Beweise zu stärken oder neue, die Taten betreffende Ausführungen zu machen, die der Wahrheitsfindung dienlich sein können."
12 Aus der Akte geht hervor, dass die Art. 246 und 247 StPGB nach der Rechtsprechung der belgischen Cour de cassation nicht nur auf Einstellungsbeschlüsse der Anklagekammer Anwendung finden, sondern auch auf alle anderen Fälle, in denen ein Untersuchungsgericht, einschließlich der Ratskammer, das Ermittlungsverfahren durch einen Beschluss gleicher Wirkung abgeschlossen hat.
13 Tauchen neue Belastungstatsachen auf, übermittelt der zuständige Gerichtspolizeioffizier oder der Untersuchungsrichter gemäß Art. 248 StPGB dem Generalprokurator beim Appellationshof unverzüglich eine Abschrift der Aktenstücke und Belastungstatsachen; auf Antrag des Generalprokurators bestimmt der Vorsitzende der Anklagekammer den Richter, vor dem auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft eine neue Untersuchung durchgeführt wird.
14 Nach Art. 604 des italienischen Strafgesetzbuchs können von einem italienischen Staatsangehörigen begangene Straftaten sexueller Gewalt in Italien auch dann verfolgt werden, wenn sie im Ausland begangen wurden.
15 M, ein italienischer Staatsangehöriger, ist in Belgien wohnhaft, wo im Jahr 2004 aufgrund einer Reihe von Anzeigen seiner Schwiegertochter Q wegen sexueller Gewalt oder verbotener Handlungen im sexuellen Bereich in mehreren Fällen gegen ihn ermittelt wurde, darunter sexueller Missbrauch einer Minderjährigen unter 16 Jahren.
16 Diese Taten sollen zwischen Mai 2001 und Februar 2004 in Belgien mit Beihilfe seines Sohnes O gegen seine am 29. April 1999 geborene Enkelin verübt worden sein.
17 Nach einem Ermittlungsverfahren, in dessen Zuge verschiedene Beweismittel zusammengetragen und geprüft wurden, erließ die Ratskammer des Tribunal de première instance de Mons (Belgien) mit Beschluss vom 15. Dezember 2008 eine Einstellungsentscheidung ohne Verweisung an das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht aufgrund Mangels an Beweisen (im Folgenden: Einstellungsbeschluss).
18 Die Anklagekammer der Cour d'appel de Mons (Belgien) bestätigte diesen Einstellungsbeschluss mit Urteil vom 21. April 2009. Das gegen dieses Urteil eingelegte Rechtsmittel wurde von der belgischen Cour de cassation mit Urteil vom 2. Dezember 2009 zurückgewiesen.
19 Parallel zu dem Ermittlungsverfahren in Belgien und nach einer Anzeige, die Q am 23. November 2006 bei der italienischen Polizei erstattet hatte, war ein Strafverfahren gegen M vor dem Tribunale di Fermo wegen desselben Sachverhalts eingeleitet worden, der in den Rn. 15 und 16 des vorliegenden Urteils ausgeführt ist.
20 Am 19. Dezember 2008 verfügte der Untersuchungsrichter des Tribunale di Fermo nach Abschluss der Ermittlungen, die im Wesentlichen dieselben Vorgänge betraf, derentwegen in Belgien ermittelt worden war, die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen M vor der Kammer desselben Gerichts.
21 Während der mündlichen Verhandlung vor dem Tribunale di Fermo vom 9. Dezember 2009 berief sich M auf das Urteil der Cour de cassation vom 2. Dezember 2009 und das Verbot der Doppelbestrafung.
22 Auch wenn sie eine Übereinstimmung des Sachverhalts einräumten, der sowohl in Belgien als auch in Italien Grundlage der Ermittlungen war, bestritten die Staatsanwaltschaft und die Anwälte von Q das Vorliegen eines rechtskräftigen Sachurteils und betonten, dass der Einstellungsbeschluss vom 15. Dezember 2008 kein Hindernis für eine spätere Wiederaufnahme des Verfahrens bei Vorlage neuer Belastungstatsachen darstelle.
23 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der genannte Einstellungsbeschluss die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen den Beschuldigten nicht zulasse, soweit keine der in Art. 247 StPGB definierten neuen Belastungstatsachen gegen ihn auftauchten.
24 Das vorlegende Gericht hebt ebenso hervor, dass nach belgischem Recht die Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens aufgrund neuer Belastungstatsachen nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgen könne.
25 Unter diesen Voraussetzungen hat das Tribunale di Fermo beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht ein rechtskräftiges Einstellungsurteil, das von einem Gericht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, der Vertragspartei des SDÜ ist, erlassen wurde und mit dem nach umfassenden Ermittlungen ein Strafverfahren abgeschlossen wurde, das aber beim Auftauchen neuer Beweise wieder aufgenommen werden könnte, der Einleitung oder der Durchführung eines Verfahrens wegen derselben Tat und gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat entgegen?
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 54 SDÜ dahin ausgelegt werden muss, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letztere auftauchen, als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat ausschließt.
27 Wie sich aus dem Wortlaut des Art. 54 SDÜ ergibt, darf niemand in einem Vertragsstaat wegen derselben Tat wie der, derentwegen er in einem anderen Vertragsstaat bereits "rechtskräftig abgeurteilt" worden ist, verfolgt werden.
28 Um zu bestimmen, ob eine gerichtliche Entscheidung eine Entscheidung darstellt, mit der eine Person im Sinne dieses Artikels rechtskräftig abgeurteilt wurde, muss sichergestellt werden, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Miraglia, C-469/03, EU:C:2005:156, Rn. 30).
29 Hierzu hat der Gerichtshof geurteilt, dass eine Entscheidung der Justiz eines Vertragsstaats, mit der ein Angeklagter rechtskräftig aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird, als aufgrund einer Prüfung in der Sache ergangen anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil van Straaten, C-150/05, EU:C:2006:614, Rn. 60).
30 Es ist daher festzustellen, dass ein Einstellungsbeschluss nach einem Ermittlungsverfahren, in dessen Zuge verschiedene Beweismittel zusammengetragen und geprüft wurden, als nach Prüfung in der Sache ergangen im Sinne des Urteils Miraglia (EU:C:2005:156) anzusehen ist, soweit er eine endgültige Entscheidung dahin enthält, dass diese Beweise nicht ausreichen und jede Möglichkeit ausschließt, dass das Verfahren auf der Grundlage desselben Bündels von Indizien wieder aufgenommen wird.
31 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Betroffene wegen der ihm vorgeworfenen Tat als "rechtskräftig abgeurteilt" im Sinne des Art. 54 SDÜ anzusehen ist, wenn die Strafklage endgültig verbraucht ist, so dass die in Rede stehende Entscheidung in dem Vertragsstaat, in dem sie getroffen wurde, den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt (vgl. in diesem Sinne Urteil Turanský, C-491/07, EU:C:2008:768, Rn. 32 und 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Eine Entscheidung, die nach dem Recht des Vertragsstaats, der die Strafverfolgung gegen einen Betroffenen einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene nicht endgültig verbraucht, kann nämlich grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Tat gegen diesen Betroffenen in einem anderen Vertragsstaat angesehen werden (Urteil Turanský, EU:C:2008:768, Rn. 36).
33 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, ist der Einstellungsbeschluss nach dem von der Cour de cassation erlassenen Urteil vom 2. Dezember 2009 in Rechtskraft erwachsen. Daher ist davon auszugehen, dass die Strafklage verbraucht ist und somit auf dem Gebiet des Königreichs Belgien erneute Ermittlungen gegen M aufgrund des gleichen Sachverhalts und des gleichen Bündels von Indizien, wie denen, die im Rahmen des Verfahrens, das zu diesem Beschluss geführt hat, untersucht worden sind, ausgeschlossen sind. Die Art. 246 bis 248 StPGB bestimmen nämlich kurz gesagt, dass das Verfahren nur auf der Grundlage von neuen Belastungstatsachen wieder aufgenommen werden kann, und zwar insbesondere Beweisen, die der Anklagekammer noch nicht vorgelegen hatten und die geeignet sind, zu einer Abänderung der Einstellungsentscheidung zu führen.
34 Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass - wie der Gerichtshof in Rn. 40 seines Urteils Bourquain (C-297/07, EU:C:2008:708) in Bezug auf ein in Abwesenheit ergangenes Urteil entschieden hat - allein der Umstand, dass das betreffende Strafverfahren nach nationalem Recht die Wiedereröffnung des Prozesses impliziert hätte, es nicht ausschließt, dass dieses Urteil dennoch als "rechtskräftige" Entscheidung im Sinne von Art. 54 SDÜ qualifiziert wird.
35 Im Übrigen ist hervorzuheben, dass das Recht, wegen einer Straftat nicht zweimal verfolgt oder bestraft zu werden, auch in Art. 50 der Charta genannt wird und Art. 54 SDÜ daher in dessen Licht auszulegen ist.
36 In diesem Zusammenhang muss zunächst betont werden, dass die Beurteilung der "Rechtskraft" der in Rede stehenden strafrechtlichen Entscheidung auf der Grundlage des Rechts des Mitgliedstaats vorzunehmen ist, der diese erlassen hat.
37 Sodann muss auf den Wortlaut der Erläuterungen zu Art. 50 der Charta verwiesen werden, der bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen ist (Urteil Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung): "Was die in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 bezeichneten Fälle betrifft, nämlich die Anwendung des Grundsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat, so hat das garantierte Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das entsprechende Recht der EMRK". Da Art. 54 SDÜ die "Rechtskraft" einer gerichtlichen Entscheidung für den Zweck der Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung in Hinsicht auf eventuelle Verfolgung durch einen anderen Vertragsstaat vom Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der Rechtskraft in dem Vertragsstaat abhängig macht, in dem die Entscheidung erlassen wurde, ist dieser Punkt der Erläuterungen im vorliegenden Fall einschlägig.
38 Allerdings geht aus Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK hervor, dass das in Abs. 1 dieses Artikels niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht entgegensteht, "falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen" geeignet sind, das ergangene Urteil in Zweifel zu ziehen.
39 In dieser Hinsicht wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Urteil Zolotukhin/Russland (Urteil vom 10. Februar 2009, Beschwerde Nr. 14939/03, § 83) entschieden, dass Art. 4 des Protokolls Nr. 7 der EMRK "erst zum Tragen [kommt], wenn ein zuvor erfolgter Freispruch oder eine zuvor erfolgte Verurteilung rechtskräftig geworden ist". Außerordentliche Rechtsbehelfe dürften jedoch bei der Beurteilung, ob das Verfahren endgültig abgeschlossen wurde, nicht berücksichtigt werden. Auch wenn diese Rechtsbehelfsverfahren eine Weiterführung des ersten Verfahrens darstellten, könne die "Rechtskraft" der Entscheidung nicht von ihrer Ausübung abhängen (Urteil des EGMR vom 10. Februar 2009, Zolotukhin/Russland, Beschwerde Nr. 14939/03, § 108).
40 Im vorliegenden Fall kann die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen nach Art. 246 bis 248 StPGB die Rechtskraft des im Ausgangsfall in Rede stehenden Einstellungsbeschlusses nicht in Frage stellen. Diese Möglichkeit ist zwar kein "außerordentlicher Rechtsbehelf" im Sinne der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, bringt aber dennoch die ausnahmsweise Einleitung eines anderen Verfahrens statt einer bloßen Weiterführung des bereits abgeschlossenen Verfahrens mit sich, und dies auf der Grundlage anderer Beweise. Da geprüft werden muss, ob die zur Rechtfertigung einer Wiederaufnahme angeführten Tatsachen tatsächlich neuartig sind, kann im Übrigen jedes neue Verfahren gegen die gleiche Person aufgrund der gleichen Tatsachen, das sich auf eine solche Möglichkeit der Wiederaufnahme stützt, nur in dem Vertragsstaat eingeleitet werden, in dem dieser Beschluss erlassen wurde.
41 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 54 SDÜ dahin auszulegen ist, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letztere auftauchen, als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat ausschließt.
42 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letztere auftauchen, als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat ausschließt.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1
Bearbeiter: Christoph Burchard