HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2015
16. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

60. BGH 1 StR 314/14 – Beschluss vom 4. September 2014 (LG Würzburg)

Beweiswürdigung, Aufklärungspflicht und Beweisanträge auf die Vernehmung von Zeugen bei massenhaften Betrugsvorwürfen (Freiheit von Beweisregeln; Begriff des Beweisantrages: Individualisierung; Versagung der Strafmilderung wegen Versuchs).

§ 263 StGB; Art. 6 EMRK; § 261 StPO; § 244 Abs. 2, Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Für die Beweiswürdigung in Fällen des massenhaft begangenen Betruges gilt: Da der Betrugstatbestand voraussetzt, dass die Vermögensverfügung durch den Irrtum des Getäuschten veranlasst worden ist, und das gänzliche Fehlen einer Vorstellung für sich allein keinen tatbestandsmäßigen Irrtum begründen kann, muss der Tatrichter insbesondere mitteilen, wie er sich die Überzeugung davon verschafft hat, dass der Verfügende einem Irrtum erlegen ist. In einfach gelagerten Fällen mag sich dies von selbst verstehen. Im Bereich gleichförmiger, massenhafter oder routinemäßiger Geschäfte, die von selbstverständlichen Erwartungen geprägt sind, kann der Tatrichter befugt sein, auf die täuschungsbedingte Fehlvorstellung auf der Grundlage eines „sachgedanklichen Mitbewusstseins“ indiziell zu schließen, wobei er dies im Urteil darzulegen hat.

2. Bei Fällen wie dem vorliegenden (Zahlbetrag deutlich über 25 Euro, jeweils über 50 Geschädigte, keine hohe Aufforderungsfrequenz und -intensität) lässt die Annahme, mindestens eine dieser Personen habe irrtumsbedingt und nicht lästigkeitsbedingt verfügt, Rechtsfehler nicht erkennen.

3. Es liegt auch kein Rechtsfehler darin, wenn sich das Gericht zur Feststellung dieses Irrtums nicht auf die Aussage eines oder mehrerer Zeugen, sondern auf äußere Umstände und allgemeine Erfahrungssätze stützt. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass das Gericht in der Regel – vor allen Dingen bei einem normativ geprägten Vorstellungsbild der Geschädigten – auch lediglich aus Indizien auf einen Irrtum schließen kann. Die Feststellung des Vorstellungsbildes geschädigter Personen beim Betrug folgt dabei keinen anderen Regeln als die Feststellung sonstiger innerer Tatsachen wie etwa des Vorsatzes beim Angeklagten. Feste Beweisregeln für die Feststellung innerer Sachverhalte kennt das Gesetz weder hinsichtlich des Angeklagten noch hinsichtlich möglicher Geschädigter. Es gilt – unabhängig vom Tatbestand – der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO).

4. Soweit in einigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs anklingt, Feststellungen zum Irrtum seien beim Betrug in aller Regel nur möglich, wenn die irrende Person oder bei Massenbetrugsfällen jedenfalls einige der Geschädigten ermittelt und als Zeugen in der Hauptverhandlung vernommen würden, könnte der Senat dem nicht ohne weiteres folgen. Gerade bei einem normativ geprägten Vorstellungsbild wird der Schluss auf einen Irrtum des Verfügenden häufig allein auf tragfähige Indizien gestützt werden können. Grundlage eines solchen Indizschlusses können auch äußere Umstände sein, die der Angeklagte glaubhaft gestanden hat, weshalb es keinen Rechtssatz des Inhalts gibt, Feststellungen zu einem Irrtum beim Betrug könnten nicht auf der Grundlage eines Geständnisses des Angeklagten getroffen werden.

5. In Massenbetrugsverfahren kann sich das Gericht seine Überzeugung von einem Irrtum vieler Geschädigter auch dadurch verschaffen, dass es einige der Geschädigten als Zeugen vernimmt (oder deren Aussagen auf andere Art und Weise in die Hauptverhandlung einführt) und aus deren Angaben zum Vorliegen eines Irrtums indiziell auf einen Irrtum bei anderen Geschädigten schließt.

6. Weil in derartigen Fällen regelmäßig ein gegenüber dem Erfolgsunrecht besonders gesteigertes Handlungsunrecht vorliegt, ist es für die Strafzumessung nicht immer von entscheidender Bedeutung, ob es bei (einzelnen) Betrugstaten zur Vollendung kommt oder mangels Irrtums des Getäuschten oder wegen fehlender Kausalität zwischen Irrtum und Vermögensverfügung beim Versuch bleibt. Wenn die Taten eine derartige Nähe zur Tatvollendung aufweisen, dass es vom bloßen Zufall abhängt, ob die Tatvollendung letztlich doch noch am fehlenden Irrtum des Tatopfers scheitert, kann das Tatgericht unter besonderer Berücksichtigung der versuchsbezogenen Gesichtspunkte auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und der Tatumstände des konkreten Einzelfalls zum Ergebnis gelangen, dass jedenfalls die fakultative Strafmilderung gemäß § 23 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB zu versagen ist (BGH NStZ 2013, 422, 424).

7. Zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge der rechtsfehlerhaften Ablehnung von Beweisanträgen in diesen Fällen.


Entscheidung

23. BGH 5 StR 107/14 – Beschluss vom 5. November 2014 (BGH)

Zum Rauchen bestimmte synthetische Cannabinoide als Tabakerzeugnisse; Anfrageverfahren.

§ 52 Abs. 2 Nr. 1 VTabakG, § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 VTabakG; § 132 Abs. 2 GVG

1. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden, dass beim Vertrieb von zum Rauchen bestimmten Kräutermischungen, die zur Tatzeit nicht als Betäubungsmittel definierte Cannabinoide enthalten, eine Strafbarkeit wegen gewerbsmäßigen Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen unter Verwendung nicht zugelassener Stoffe (§ 52 Abs. 2 Nr. 1, § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 VTabakG) in Betracht kommt.

2. Er sieht sich hieran aber durch Entscheidungen des 2. bzw. des 3. Strafsenats gehindert und fragt daher bei diesen Senaten an, ob diese an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung festhalten.


Entscheidung

59. BGH 1 StR 219/14 – Beschluss vom 19. November 2014 (LG Mannheim)

Umsatzsteuerhinterziehung (Umsatzsteuerbetrug: Umsatzsteuerkarussell, missing trader, fehlendes Recht zum Vorsteuerabzug, Missbrauchsverbot des Unionsrechts, Einbindung als buffer mit Eventualvorsatz; untauglicher Versuch; Berechnungsdarstellung).

§ 370 AO; § 15 StGB; § 15 UStG; § 261 StPO

1. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt dabei voraus, dass der Unternehmer eine nach §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Vorsteuerabzug dann zu versagen, wenn der Steuerpflichtige – im unionsrechtlichen Sinne – selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist und er deswegen als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen ist. Für die Frage, wann die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug vorliegen müssen, kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Abgabe der Steueranmeldung an, in welcher der Vorsteuerabzug vorgenommen wird. Vielmehr ist ein Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG dann zulässig, wenn dessen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Ausführung der Lieferungen bzw. sonstigen Leistungen vorgelegen haben. Eine einmal bestehende Berechtigung zum Vorsteuerabzug entfällt auch nicht etwa deshalb nachträglich wieder, weil der Unternehmer später von Umständen Kenntnis erlangt, die einem Vorsteuerabzug entgegengestanden hätten,

wenn er sie bereits beim Bezug der Waren gekannt hätte (BGH NStZ 2014, 331, 334).

2. Anforderungen an die Beweiswürdigung hinsichtlich des Verdachts, der liefernde Unternehmer habe bereits bei Abschluss der Geschäfte mit den „missing trader“ die Einbindung ihrer Firmen in ein Umsatzsteuerkarussell billigend in Kauf genommen.


Entscheidung

58. BGH 1 StR 219/14 – Beschluss vom 19. November 2014 (LG Mannheim)

Umsatzsteuerhinterziehung (Umsatzsteuerbetrug: Umsatzsteuerkarussell, missing trader, fehlendes Recht zum Vorsteuerabzug, Missbrauchsverbot des Unionsrechts, Einbindung als buffer mit Eventualvorsatz; untauglicher Versuch).

§ 370 AO; § 15 StGB; § 15 UStG; § 261 StPO

1. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt dabei voraus, dass der Unternehmer eine nach §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Vorsteuerabzug dann zu versagen, wenn der Steuerpflichtige – im unionsrechtlichen Sinne – selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist und er deswegen als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen ist. Für die Frage, wann die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug vorliegen müssen, kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Abgabe der Steueranmeldung an, in welcher der Vorsteuerabzug vorgenommen wird. Vielmehr ist ein Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG dann zulässig, wenn dessen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Ausführung der Lieferungen bzw. sonstigen Leistungen vorgelegen haben. Eine einmal bestehende Berechtigung zum Vorsteuerabzug entfällt auch nicht etwa deshalb nachträglich wieder, weil der Unternehmer später von Umständen Kenntnis erlangt, die einem Vorsteuerabzug entgegengestanden hätten, wenn er sie bereits beim Bezug der Waren gekannt hätte (BGH NStZ 2014, 331, 334).

2. Anforderungen an die Beweiswürdigung hinsichtlich des Verdachts, der liefernde Unternehmer habe bereits bei Abschluss der Geschäfte mit den „missing trader“ die Einbindung ihrer Firmen in ein Umsatzsteuerkarussell billigend in Kauf genommen.


Entscheidung

33. BGH 1 StR 267/14 – Beschluss vom 5. November 2014 (LG Berlin)

Schmuggel (Verhältnis zur Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall: Spezialität, Strafrahmen bei gleichzeitiger Verwirklichung).

§ 373 AO aF; § 373 AO nF; § 370 Abs. 3 AO aF

1. Bei Schmuggel gemäß § 373 AO handelt es sich um einen Qualifikationstatbestand, der den Grundtatbestand des § 370 AO verdrängt (vgl. BGH, NStZ 2012, 637). Dies gilt für vor dem 1. Januar 2008 begangene Taten trotz unterschiedlicher Strafandrohungen auch dann, wenn zugleich die Voraussetzungen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung gemäß § 373 Abs. 3 AO aF gegeben sind. Der Umstand, dass § 373 AO in seiner bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung einen Strafrahmen von drei Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe vorsah, während § 370 Abs. 3 AO aF für einen besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren androhte, lässt das konkurrenzrechtliche Verhältnis zwischen § 373 AO und § 370 AO unberührt (vgl. im weiteren Sinne auch § 12 Abs. 3 StGB).

2. Für vor dem 1. Januar 2008 begangene Taten gemäß § 373 AO aF, bei denen zugleich die Voraussetzungen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 3 AO aF verwirklicht sind, ist die Strafe dem Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO aF zu entnehmen. Denn es wäre sinnwidrig, diesen Strafrahmen nur deshalb nicht zur Anwendung zu bringen, weil zum Grundtatbestand zusätzlich ein Merkmal, das die Tat als Schmuggel qualifiziert hinzukommt.

3. Dagegen besteht für nach dem 31. Dezember 2007 begangene Taten nach Anhebung des Strafrahmens des Schmuggels auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren für einen Rückgriff auf den Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO kein Bedürfnis mehr.


Entscheidung

39. BGH 1 StR 78/14 – Urteil vom 21. Oktober 2014 (LG Würzburg)

Bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Begriff des gefährlichen Gegenstands: Zweckbestimmung des Täters, Begründung im Urteil); staatliche Tatprovokation (kein Verfahrenshindernis; Anforderungen an die Revisionsbegründung); Verfahrensrüge (Begründung).

§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Der Tatbestand des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG setzt voraus, dass der Täter den bei der Tatbegehung mit sich geführten Gegenstand, wenn es sich bei diesem nicht um eine Schusswaffe handelt, zur Verletzung von Personen bestimmt hat. Um dieses Qualifikationsmerkmal zu verwirklichen, bedarf es einer darauf gerichteten Zweckbestimmung des Täters (vgl. BGH NStZ 2011, 98).

2. Eine solche Zweckbestimmung muss grundsätzlich vom Tatrichter näher festgestellt und begründet werden. Solche näheren Feststellungen zur Zweckbestimmung durch den Täter sind nicht erforderlich, wenn es sich bei dem mitgeführten Gegenstand um eine sogenannte gekorene Waffe i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 2b WaffG („tragbare Gegenstände“) handelt; bei derartigen Waffen liegt die Zweckbestimmung zur Verletzung von Personen ohne weitere Feststellungen regelmäßig auf der Hand (vgl. BGH StV 2013, 704)

3. Sollen nicht aus den Urteilsgründen ersichtliche Umstände eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation begründen, bedarf es der Erhebung einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge (vgl. BGH NStZ 2001, 53).

4. Um den gesetzlichen Anforderungen zu entsprechen, müssen die den behaupteten Verfahrensmangel begründenden Tatsachen so genau und vollständig mitgeteilt werden, dass das Revisionsgericht im Sinne einer vorweggenommenen Schlüssigkeitsprüfung ohne Rückgriff auf die Akten beurteilen kann, ob der geltend gemachte Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden (vgl. BGH NStZ 2013, 672).