HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2013
14. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Steuerhinterziehung durch Erlangen eines unrichtigen Feststellungsbescheides

Anmerkung zum Beschluss des BGH, 1 StR 537/12, Beschluss vom 22.11.2012
= HRRS 2013 Nr. 317

Von Prof. Dr. Petra Wittig, LMU München

I. Einleitung

Der 1. Strafsenat bestätigt in der zu besprechenden Entscheidung zunächst seine Rechtsprechung, dass bereits die Bekanntgabe eines unrichtigen Feststellungsbescheides die Erlangung eines tatbestandsmäßigen "nicht gerechtfertigten Steuervorteils" i.S.d. § 370 AO darstellt. Damit macht sich derjenige der vollendeten (und nicht nur versuchten) Steuerhinterziehung strafbar, der vorsätzlich mittels unrichtiger oder unvollständiger Angaben den Erlass eines unrichtigen Feststellungsbescheides erwirkt, da wegen der Bindungswirkung des § 182 Abs. 1 S. 1 AO der Steueranspruch des Staates bereits hinreichend konkret gefährdet sei.

Erstmalig nimmt der BGH dazu Stellung, ob die neuere Rechtsprechung des BVerfG[1] zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung der Untreue (§ 266 StGB) und des Betrugs (§ 263 StGB) im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG Anlass dazu gibt, von der dargelegten bisherigen Auslegung des § 370 Abs. 1 AO abzugehen. Der BGH sieht zunächst in seiner Rechtsprechung, wonach ein "nicht gerechtfertigter Steuervorteil" bereits bei Erwirken eines (nach § 182 Abs. 1 AO bindenden) Feststellungsbescheides in Bezug auf zu niedrige Gewinnfeststellungen, nicht gerechtfertigte Verlustvorträge oder nicht verbrauchte Verlustvorträge vorliegt, keinen Verstoß gegen das vom

BVerfG u.a. entwickelte "Verschleifungsverbot" (Rn. 8). Das ist zutreffend.[2] Erforderlich ist aber auch nach Ansicht des BGH, dass die Strafgerichte im Urteil darlegen, welcher Vorteil zu Unrecht festgestellt worden ist und welche Höhe der Steuervorteil hat (Rn. 8). Dies sei hier durch die Tatgerichte geschehen. Es sei jedoch (verfassungsrechtlich) nicht geboten, die Vollendung der Tat davon abhängig zu machen, "auf der Grundlage des bezifferten Steuervorteils die (zukünftigen) Auswirkungen auf den Steueranspruch des Staates zu berechnen" (Rn. 9). Auf der Ebene der Strafzumessung, die von der Frage der Auslegung des § 370 AO zu unterscheiden ist, sieht der BGH weder einen Verstoß gegen den Grundsatz schuldangemessenen Strafens noch gegen Art. 103 Abs. 2 GG für gegeben (Rn. 19 ff.).

Diese Aussagen sollen anhand der Argumentationslinie des BGH kritisch hinterfragt werden. Begründet werden sie vor allem mit weitgehenden Erwägungen zur tatbestandlichen Struktur, zum Rechtsgut und zum Deliktscharakter des Tatbestandes der Steuerhinterziehung, die in sich bereits von großer Bedeutung für das Verständnis und die Auslegung des § 370 Abs. 1 AO sein dürften, an dieser Stelle aber nicht vertieft behandelt werden können. Das Gericht hält im Ergebnis die auf die "Rechtsgutsverletzungsdelikte" der § 263 StGB und § 266 StGB bezogenen verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich des tatbestandlichen Vermögensschadens bzw. Vermögensnachteils für nicht auf den "nicht gerechtfertigten Steuervorteil" als tatbestandsmäßigen Erfolg des konkreten Gefährdungsdelikts des § 370 Abs. 1 AO übertragbar.

II. Zur Übertragbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben

1. Vorbemerkung

Der BGH begründet seine Ansicht, dass die zu den allgemeinen Vermögensdelikten entwickelten verfassungsgerichtlichen Vorgaben aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht auf die Steuerhinterziehung übertragbar sind, mit Unterschieden hinsichtlich der Tatbestandsstruktur, des Rechtsguts und des Deliktcharakters. Vorab ist hierzu anzumerken, dass die Entscheidungen des BVerfG zwar unmittelbar die Auslegung der Untreue und des Betrugs zum Gegenstand hatten, die Vorgaben, die das BVerfG jedoch aus Art. 103 Abs. 2 GG für die Auslegung von Strafrechtsnormen durch die Fachgerichte entwickelt, sich weder nach dem Wortlaut der Entscheidung noch in der Sache auf diese Tatbestände beschränken. Dies sind schlagwortartig das sog. "Verschleifungsverbot", das "Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot" und das "Präzisierungsgebot"[3], wobei hier insbesondere das sog. "Verbot der Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen" interessiert: Danach "dürfen einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mitverwirklicht werden".[4]

2. Zum Argument: "Unterschiedliche Tatbestandsstruktur"

Das erste Argument des BGH lässt sich wie folgt zusammenfassen: Anders als die allgemeinen Vermögensdelikte der §§ 263, 266 StGB, deren Taterfolg einzig der Eintritt eines Vermögenschadens bzw. Vermögensnachteils ist, enthält § 370 AO zwei alternative Tatbestandserfolge, die Steuerverkürzung und das Erlangen eines ungerechtfertigten Steuervorteils (siehe auch § 370 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2), so dass schon wegen der unterschiedlichen Tatbestandsstruktur eine Übertragbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu §§ 263, 266 StGB auf die Steuerhinterziehung "nicht nahe" (Rn. 13) liege. Allerdings definiert der BGH auch in der vorliegenden Entscheidung weder den Begriff des Steuervorteils noch grenzt er ihn von dem der Steuerverkürzung ab. Auch wenn - so der BGH - die Differenzierung zwischen beiden Taterfolgen nicht abschließend geklärt sei, handele es sich jedenfalls nicht um einen "identischen Taterfolg des § 370 Abs. 1 AO, die Gefährdung des staatlichen Steueranspruchs, aus unterschiedlichen Blickwinkeln" (Rn. 13). Für die vorliegende Konstellation bedeutet dies, dass dem Taterfolg der Steuervorteilserlangung durch das Erwirken eines unrichtigen Feststellungsbescheides ein weiterer Taterfolg in Gestalt einer Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren nachfolgen kann (aber nicht muss).

Dem BGH ist darin zuzustimmen, dass sich §§ 263, 266 StGB und § 370 Abs. 1 AO hinsichtlich der Tatbestandsstruktur unterscheiden, was auch bedeutet, dass Vollendung bereits mit Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils eintritt, nicht erst mit einer wie auch immer gearteten endgültigen Schädigung des Vermögens des Fiskus. Der Umstand jedoch, dass es bei § 370 Abs. 1 AO zwei Erfolgsvarianten gibt, kann nicht die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die das BVerfG aus Art. 103 Abs. 2 GG für die Auslegung aller Strafgesetze durch die Fachgerichte entwickelt und dann lediglich auf die verfahrensgegenständlichen allgemeinen Vermögensdelikte übertragen hat, unanwendbar machen. Dies gilt insbesondere für das oben genannte Verbot der "Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen". § 370 Abs. 1 AO ist ein vermögensbezogenes Erfolgsdelikt, das neben dem Vorliegen einer tatbestandlichen Handlung den Eintritt eines Erfolges entweder in Gestalt einer Steuervorteilserlangung oder einer Steuerverkürzung als strafbarkeitsbegrenzende Tatbestandsvoraussetzungen verlangt, eine "Verschleifung" zwischen tatbestandlicher Handlung und Erfolg (egal in welcher Variante) bleibt unzulässig.

3. Zum Argument: "Unterschiedlicher Deliktscharakter/unterschiedliches Rechtsgut"

Ferner argumentiert der BGH gegen eine Übertragbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben auf die vorliegende Konstellation, dass §§ 263, 266 StGB Rechtsgutsverletzungsdelikte darstellten, während es sich bei § 370 Abs. 1 AO in beiden Taterfolgsvarianten um ein konkretes Gefährdungsdelikt handele. Die allgemeinen Vermögensdelikte setzten für ihre Vollendung den Eintritt eines Schadens am Rechtsgut Vermögen voraus, so dass bei diesen allgemeinen Vermögensdelikten die Annahme von Tatvollendung bei einer konkreten Gefahr wegen Art. 103 Abs. 2 GG "lediglich in den vom Bundesverfassungsgericht gezogenen engen Grenzen gestattet sei" (Rn. 14). Bei § 370 Abs. 1 AO genüge für die Vollendung bereits eine Gefährdung des tatbestandlich geschützten Rechtsguts. Das durch § 370 AO geschützte Rechtsgut ist nach ständiger Rechtsprechung die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs, d.h. des rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommens[5], also letztlich des Vermögens des Fiskus, nach der vorliegenden Entscheidung "des öffentlichen Interesses am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen jeder einzelnen Steuerart" (Rn. 17).[6] Diese Gefährdung liege beim Taterfolg "Steuerverkürzung" bereits in der zu niedrigen Festsetzung der Steuer als solcher, bei dem Taterfolg "Steuervorteilserlangung" bereits in der unberechtigten Gewährung des Vorteils (§ 370 Abs. 4 Satz 2 AO), etwa in der Konstellation des mit Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 Satz 1 AO) versehenen Feststellungsbescheides.

In der Tat: Das Bemühen des BVerfG, eine "verfassungswidrige Überdehnung des Untreuetatbestandes", nämlich "in Richtung auf ein bloßes Gefährdungsdelikt" zu vermeiden, greift nicht unmittelbar bei § 370 Abs. 1 AO, wenn man diese Strafnorm verfassungsrechtlich zulässig als konkretes Gefährdungsdelikt und nicht als ein Verletzungsdelikt begreift.[7] Die vom BVerfG entwickelten Anforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG beschränken sich aber, wie bereits ausgeführt, nicht auf diese Auslegungsfrage, sondern sind allgemeiner Natur. Das hier maßgebliche Verschleifungsverbot bezieht sich nicht auf Rechtsgutsverletzungen, sondern auf Tatbestandsmerkmale. Auch konkrete Gefährdungsdelikte sind Erfolgsdelikte. Und dieser Erfolg (oder bei § 370 AO die Taterfolge) ist - wie bei Verletzungsdelikten auch - ein Tatbestandmerkmal.

Deshalb ist eine Übertragbarkeit der verfassungsrechtlichen Anforderungen, die das BVerfG hinsichtlich der Feststellung einer konkreten Vermögensgefährdung[8] bei § 266 StGB und § 263 StGB, insbesondere im Hinblick auf die Bezifferbarkeit aus Art. 103 Abs. 2 GG entwickelt hat, auf das Tatbestandsmerkmal Steuervorteilerlangung nicht per se ausgeschlossen. Wird § 370 Abs. 1 AO in beiden Taterfolgsvarianten als konkretes Gefährdungsdelikt verstanden, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist[9], muss durch die Fachgerichte fallbezogen präzisiert werden, worin wirtschaftlich genau die konkrete (und nicht nur abstrakte) Gefährdung des staatlichen Steueranspruchs (oder des öffentlichen Interesses daran) liegt. Andernfalls ist der eigenständige strafbarkeitsbegrenzende Gehalt dieses Merkmals nicht mehr zu erkennen, den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG wird nicht entsprochen. Die Berufung auf die Bindungswirkung des Feststellungsbescheides für die späteren Festsetzungsbescheide gem. Art 182 Abs. 1 Satz 1 AO genügt dafür nicht. Die Gründe für die hier vertretene Ansicht hat die Verfasserin bereits an anderer Stelle im Einzelnen dargelegt.[10]

III. Zur Bezifferung des erlangten Steuervorteils als Grundlage der Strafzumessung

Nachdem der BGH die verfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Tatvollendung bei §§ 263, 266 StGB für nicht auf die Auslegung des § 370 AO übertragbar erklärt hat, führt er aus, dass "weder das Verfassungsgebot schuldangemessenen Strafens noch Art. 103 Abs. 2 GG die Bezifferung der sich aus den Feststellungsbescheiden ergebenden Auswirkungen auf die Besteuerung der begünstigten Steuerpflichtigen als Grundlage der Strafzumessung" geböten (Rn. 19). Mit dem Verfassungsgebot schuldangemessenen Strafens[11] wird neben dem Bestimmtheitsgebot ein weiterer rechtlicher Gesichtspunkt allerdings nun nicht auf der Ebene der Auslegung des Tatbestandes, sondern der Strafzumessung eingeführt. Gleichzeitig finden sich hier aber auch Anhaltspunkte für die Feststellung der Höhe des Steuervorteils, die auch für den BGH wegen des Verschleifungsverbots von den Strafgerichten zu ermitteln und im Urteil darzulegen sind (Rn. 8).

Grundlage für die Zumessung der Strafe ist auch bei § 370 AO die persönliche Schuld des Täters.[12] Zwar sei - so der BGH - die Höhe der hinterzogenen Steuern ein bestimmender Strafzumessungsfaktor, die Strafzumes-

sung erfolge jedoch nicht "tarifmäßig", sondern "einzelfallbezogen nach den in § 46 StGB genannten Kriterien" (Rn. 20).[13] Immerhin lasse sich die "Dimension der Gefährdung des geschützten Rechtsguts" in der hier zu beurteilenden Konstellation "anhand der Höhe des im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Steuervorteils erkennen", dies genüge "angesichts der Natur des § 370 AO … ungeachtet der noch nicht bezifferten Auswirkungen auf die Steuerlast als Grundlage für die Strafzumessung" (Rn. 21). Somit bleibe für den Täter nicht unklar, "was für eine Art von Steuervorteil in welcher Höhe von ihm erlangt worden sei" (Rn. 21). Nicht deutlich wird nach dem Beschluss dagegen, warum der Steuervorteil von dem Täter ("von ihm") erlangt worden ist, wenn jedenfalls in der Regel (zumindest auch) die wirtschaftliche Besserstellung Dritter erfolgt (z.B. bei Abschreibungsgesellschaften der Gesellschafter).[14] Allerdings kann nach der Formulierung des § 370 Abs. 1 AO der Täter den Steuervorteil "für sich oder einen anderen" erlangen.[15] Insgesamt dürfte es für die Kriterien schuldangemessen Strafens unter Zugrundelegung der BGH-Rechtsprechung, wonach der Steuervorteil bereits in der Erwirkung des Feststellungsbescheides liegt, ausreichen, auf die Höhe des im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Steuervorteils abzustellen.

Problematischer ist es dagegen, ob dies tatsächlich auch den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt. Art. 103 Abs. 2 GG erfasst nicht nur den Straftatbestand an sich, sondern auch die Strafandrohung.[16] Nach Ansicht des BGH soll auch das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 1 AO ("großes Ausmaß"), das auch auf die Taterfolgsvariante der Steuervorteilserlangung anwendbar sei, eine Feststellung und Bezifferung der Auswirkungen eines Steuervorteils nicht verlangen.[17] Strafzumessungsregeln, die einen erhöhten Strafrahmen an das Vorliegen eines "besonders schweren Falls" knüpfen, sind aber ebenfalls am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen.[18] Dies gilt auch für das Regelbeispiel der Steuerhinterziehung "in großem Ausmaß".[19] Diese Frage bedarf keiner abschließenden Klärung; immerhin aber lässt sich argumentieren, dass auf der Ebene der Strafzumessung im Hinblick auf das Gebot schuldangemessenen Strafens, das in einem Spannungsverhältnis zum Bestimmtheitsgrundsatz steht[20], das Abstellen nicht auf die endgültigen Auswirkungen des Feststellungsbescheides auf das Steueraufkommen, sondern auf die Höhe des im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Betrags noch verfassungsgemäß ist.

IV. Zur Bezifferung des Steuervorteils als Voraussetzung einer verfassungsgemäßen fallbezogenen Tatbestandsauslegung

Die Ausführungen des BGH zur Bezifferung des Steuervorteils als Grundlage der Strafzumessung werfen abschließend die Frage auf, ob es den verfassungsgerichtlichen Maßstäben aus Art. 103 Abs. 2 GG an die fachgerichtliche Auslegung des Straftatbestandes des § 370 AO auf Tatbestandsebene genügt, wenn lediglich die Höhe des im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Steuervorteils dem Urteil zugrunde gelegt wird; dies unter der Prämisse, dass die Ausführungen des BVerfG zur Bezifferung des Vermögensschadens bzw. Vermögensnachteils auch auf die Steuervorteilserlangung zu übertragen sind.[21] Hierbei ist zu bedenken, dass die Anforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG an die Bestimmtheit der Strafdrohung andere (und weniger strenge) sind als die an die Auslegung der Straftatbestände.

Das BVerfG fordert die Fachgerichte bei der Auslegung der allgemeinen Vermögensdelikte auf, "die Schadensfeststellung auf eine sichere Grundlage zu stellen, sie rational nachvollziehbar zu machen und sich zu vergewissern, ob im Einzelfall eine hinreichend sichere Grundlage für die Feststellung eines Vermögensnachteils überhaupt existiert oder ob man sich in einem Bereich bewegt, in dem von einem zahlenmäßig fassbaren Schaden noch nicht die Rede sein kann"[22]. Eine solche Bezifferung könne lediglich bei einfach gelagerten und eindeutigen Fällen (etwa bei einem greifbaren Mindestschaden) unterbleiben, nicht aber aus der Erwägung heraus, "daß sie mit praktischen Schwierigkeiten verbunden ist"[23]. Diese Grundsätze sind auf das Tatbestandsmerkmal Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils zu übertragen. Die zur Verfügung stehende Methode, die Höhe des

Steuervorteils (auf Tatbestandsebene) zu ermitteln, ist, die Auswirkungen auf die Steuerlast zu beziffern, was erst nach der Festsetzung möglich sein wird.

V. Zusammenfassung

Der BGH bleibt letztlich eine Antwort schuldig, warum die verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu der Auslegung von Strafgesetzen durch die Fachgerichte nicht auf § 370 AO und die Konstellation der Steuerhinterziehung durch Erwirkung eines unrichtigen Feststellungsbescheides übertragbar sein sollen. Dies gilt insbesondere für das Verbot der "Verschleifung" und Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen, das nach hiesiger Ansicht fallbezogen eine Bezifferung der Auswirkungen des erlangten Steuervorteils auf das staatliche Steueraufkommen anhand wirtschaftlicher Kriterien erfordert. Der Hinweis auf die unterschiedliche Tatbestandsstruktur und den unterschiedlichen Deliktscharakter der allgemeinen Vermögensdelikte einerseits und der Steuerhinterziehung andererseits genügt nicht. Selbst wenn im Bereich der Strafzumessung unter Berücksichtigung des Grundsatzes schuldangemessenen Strafens kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG vorliegen sollte, gilt dies nicht für die Tatbestandsebene, für die das BVerfG seine Vorgaben entwickelt hat.


[1] BVerfGE 126, 170 = HRRS 2010 Nr. 656; BVerfGE 130, 1 = HRRS 2012 Nr. 27.

[2] So auch Wittig ZIS 2011, 660, 666 f.

[3] Siehe hierzu nur Beckemper ZJS 2011, 88; Krüger NStZ 2011, 369; Kudlich JA 2011, 67; Saliger NJW 2010, 3195.

[4] BVerfGE 126, 170, 198 = HRRS 2010 Nr. 656 m.w.N.

[5] BGHSt 53, 71, 80 = HRRS 2009 Nr. 127 m.w.N.

[6] Zwar umschreibt der BGH zutreffend, dass sich das Rechtsgut der allgemeinen Vermögensdelikte und der Steuerhinterziehung unterscheiden, warum dies aber gegen eine Übertragbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben sprechen soll, wird nicht klar. Letztlich argumentiert der BGH an dieser Stelle nur mit dem unterschiedlichen Deliktscharakter.

[7] So auch Wittig ZIS 2011, 660, 667.

[8] Nach Ansicht des BVerfG ist es nämlich grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, bereits bei der konkreten Gefahr eines zukünftigen Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensschaden anzunehmen (s. BVerfGE 126, 170[221 ff.]= HRRS 2010 Nr. 656; BVerfGE 130, 1[47]= HRRS 2012 Nr. 27).

[9] Siehe auch Wittig ZIS 2011, 660, 667. Dies bedeutet jedoch nicht, dass für diese Auslegung die besseren inhaltlichen Argumente sprechen, sondern nur, dass aus Art. 103 Abs. 2 GG eine solche Auslegung durch die Fachgerichte nicht zu beanstanden ist.

[10] Wittig ZIS 2011, 660, 667 f.

[11] St. Rspr. vgl. nur BVerfGE 20, 323, 331; BVerfGE 25, 269, 286; BVerfGE 50, 5, 12; BVerfGE 54, 100, 108.

[12] Zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung BGHSt 53, 71, 79 ff. = HRRS 2009 Nr. 127.

[13] S. auch BGHSt 53, 71, 80.

[14] Denkbar sind auch Fälle, in denen der Täter überhaupt keinen eigenen Vorteil erlangt hat. Welche Verwerfungen die Rechtsprechung zur vollendeten Steuerhinterziehung durch Erwirkung eines unrichtigen Feststellungsbescheides (ohne Berücksichtigung der Auswirkungen auf das Steueraufkommen) aufwirft, zeigt sich auch, wenn bei einer Selbstanzeige im Falle der Erwirkung eines unrichtigen Feststellungsbescheides der vom Täter gem. § 371 Abs. 3 AO nachzuzahlende Betrag ermittelt werden soll. Dieser richtet sich bei der zugrundeliegenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise danach, "in welchem Umfange der Täter von der Tat profitierte bzw. in welchem Umfange durch sein Verhalten dem Fiskus ein Schaden entstanden ist" (Joecks in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht mit Zoll- und Verbrauchssteuerrecht, 7. Aufl.[2009], § 371 Rn. 105). Entscheidend ist also, welche Beträge dem Fiskus bei steuerehrlichem Verhalten zugeflossen wären, was erst nach der Steuerfestsetzung in den Folgebescheiden feststeht, nicht aber aufgrund des im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Betrags.

[15] Denkbar ist allerdings auch, dass der Steuervorteilerlangung keine Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren nachfolgt, so dass bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise weder ein Nachteil des Fiskus noch ein Vorteil beim Täter oder einem Dritten eintritt. Schon deshalb erscheint es nicht sachgerecht, auf den im Feststellungsbescheid ausgewiesenen Betrag abzustellen.

[16] BVerfG NJW 2008, 3627, 3628 = HRRS 2008 Nr. 830 ; s. auch BVerfGE 45, 363, 372; BVerfGE 86, 288, 311.

[17] Zu der Bestimmung des Merkmals "großen Ausmaß" bei einer Steuerverkürzung s. BGHSt 53, 71, 81 ff.

[18] BVerfG NJW 2008, 3627, 3628 = HRRS 2008 Nr. 830 .

[19] Übersicht bei Kuhlen, Grundfragen der strafbaren Steuerhinterziehung (2012), S, 49 f.; s. auch zu § 370a AO a.F. BGH NStZ 2005, 105 = HRRS 2004 Nr. 714.

[20] Wegen dieses Spannungsverhältnisses sind insoweit weniger strenge Maßstäbe anzulegen (BVerfGE 105, 135[154 f.]; Schönke/Schröder/Eser/Hecker, StGB, 28. Aufl. [2010], § 46 Rn. 22 m.w.N. ).

[21] Hierzu ausführlich Wittig ZIS 2011, 660, 667 sowie oben II.

[22] BVerfGE 126, 170, 212 = HRRS 2010 Nr. 656.

[23] BVerfGE 126, 170, 211 = HRRS 2010 Nr. 656.