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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2013
14. Jahrgang
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1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus entfällt angesichts des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs nicht deshalb, weil der Betroffene zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist.
2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen
Rang einnimmt, darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der besonderen Verfahrensgarantien nach Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 GG eingeschränkt werden. Eine Einschränkung kommt außerdem nur aus besonders gewichtigen Gründen in Betracht, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.
3. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG folgt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben müssen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.
4. Bei der Prognose über die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten ist das Gericht im Rahmen des Gebots der „bestmöglichen Sachaufklärung“ in der Regel verpflichtet, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Dessen Aussagen hat es selbständig zu beurteilen hat, und es darf ihm die Prognoseentscheidung nicht überlassen.
5. Bei Prüfung der Aussetzungsreife einer der Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die von dem Täter ausgehende Gefahr zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.
6. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten künftig von dem Untergebrachten zu erwarten sind, wie ausgeprägt die Rückfallgefahr hinsichtlich Häufigkeit und Frequenz ist und wie schwer die bedrohten Rechtsgüter wiegen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen. Ausreichend sind nur erhebliche rechtswidrige Taten.
7. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch mildere Maßnahmen wie insbesondere durch geeignete Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.
8. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
9. Die von einem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist nicht in hinreichendem Maße konkretisiert, wenn sich das Gericht ohne eigenständige Prognoseentscheidung lediglich darauf beruft, der Sachverständige sei in der Anhörung von einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit für den Anlasstaten vergleichbare Taten ausgegangen, ohne sich damit auseinanderzusetzen, dass derselbe Sachverständige in seinem vorbereitenden Gutachten die Gefahr künftiger Taten nicht sicher quantifizieren konnte.
10. An einer hinreichenden Konkretisierung der Gefahr fehlt es auch dann, wenn sich das Gericht zur Begründung einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit für den Anlasstaten vergleichbare Taten lediglich auf eine nicht näher begründete Stellungnahme der Unterbringungseinrichtung und auf ein schriftliches Sachverständigengutachten beruft, aus dem sich eine solche Wahrscheinlichkeit gerade nicht ergibt.
11. Eine Gefährlichkeitsprognose genügt auch dann nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn den Untergebrachten entlastende Umstände keine Berücksichtigung finden und etwa unerwähnt bleibt, dass der Untergebrachte sich zwischenzeitlich deutlich angepasster und unauffälliger verhält, dass er sich von Rachegedanken distanziert und dass Lockerungen ohne jede Beanstandung verlaufen sind.
12. Ist die Unterbringung eines Betroffenen aus Anlass zehn Jahre zurückliegender Körperverletzungen zu Lasten seiner zwischenzeitlich von ihm geschiedenen Ehefrau angeordnet worden, so genügt eine Fortdauerentscheidung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn das Gericht ohne Erörterung der bereits vor vielen Jahren vollzogenen Trennung von einer fortbestehenden Gefahr vergleichbarer Delikte zu Lasten der früheren Ehefrau oder Dritter ausgeht.
1. Das Recht auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und gewährleistet den Verfahrensbeteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Beru?cksichtigung ihres Vorbringens. So stellt es sicher, dass die Beteiligten ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können.
2. Werden im strafprozessualen Ermittlungsverfahren Eingriffsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet, ist das rechtliche Gehör spätestens im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren. Denn eine den Beschuldigten belastende gerichtliche Entscheidung darf jedenfalls im Beschwerdeverfahren nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind. „In camera“-Verfahren sind insoweit nicht mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar.
3. Daneben gebietet es auch der Rechtsstaatsgedanke, dass der von einer strafprozessualen Eingriffsmaßnahme betroffene Beschuldigte zumindest nachträglich, aber noch vor der abschließenden gerichtlichen Entscheidung
über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, Gelegenheit erhält, sich in Kenntnis aller Entscheidungsgrundlagen gegen den Eingriff zu verteidigen. Dies gilt auch insoweit, als nach § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO die Akteneinsicht verweigert oder beschränkt werden kann, wenn andernfalls der Untersuchungszweck gefährdet würde.
4. Besteht ein öffentliches Interesse daran, den (vollständigen) Akteninhalt vorerst geheim zu halten und im Verborgenen weiter zu ermitteln, so kann dem im Verfahren über die nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines bereits erledigten strafprozessualen Eingriffs – wie etwa einer bereits durchgeführten Durchsuchung – ohne Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG oder den Beschleunigungsgrundsatz dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht seine Entscheidung solange zurückstellt, bis die zunächst verwehrte Akteneinsicht gewährt wurde und der Beschuldigte sich umfassend äußern konnte.
5. Das Beschwerdegericht verkennt die Bedeutung des funktionalen Zusammenhangs des Art. 103 Abs. 1 GG mit der Rechtsschutzgarantie, wenn es die Rechtmäßigkeit einer bei dem Beschuldigten durchgeführten Durchsuchung bestätigt, obwohl dem Beschuldigten eine umfassende Akteneinsicht bislang nach § 147 Abs. 2 StPO verwehrt wird und dieser daher keine Gelegenheit hatte, Einsicht in eine bei den Akten befindliche, für die Entscheidung maßgebliche Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zu nehmen und sich hierzu zu äußern.
1. Die Vollzugsbehörden sind verpflichtet, Anträge von Strafgefangenen – insbesondere solche, die die Gewährung von Lockerungen oder andere für die Resozialisierung bedeutsame Aspekte betreffen – zeitnah zu bescheiden. Dies gilt namentlich dann, wenn eine getroffene Entscheidung bereits gerichtlich beanstandet und die Justizvollzugsanstalt zu einer Neubescheidung verpflichtet worden ist.
2. Gegen die zögerliche Umsetzung eines Gerichtsbeschlusses, der die Justizvollzugsanstalt zur Neubescheidung verpflichtet, kann der Gefangene Antrag auf Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung der Verpflichtung stellen. Diesen Weg muss er vor der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beschreiten, um dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zu genügen.
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag eines Strafgefangenen auf gerichtliche Entscheidung gegen einen Vollzugsplan entfällt nicht automatisch mit der Erstellung eines neuen Vollzugsplanes.
2. Die gerichtliche Mitteilung an einen Strafgefangenen, über seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen einen Vollzugsplan werde mangels Rechtsschutzbedürfnisses nicht entschieden, weil zwischenzeitlich ein neuer Vollzugsplan erstellt sei, kann der Gefangene mit der Rechtsbeschwerde angreifen. Diesen Weg muss der Gefangene vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zur Erschöpfung des Rechtsweges beschreiten.
3. Enthält die gerichtliche Mitteilung, dass über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung mangels Rechtsschutzbedürfnisses nicht entschieden werde, keine Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich der insoweit statthaften Rechtsbeschwerde, ist die Versäumung der Rechtsbeschwerdefrist als unverschuldet anzusehen, so dass dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.