HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2011
12. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1036. BGH 1 StR 153/11 - Beschluss vom 23. August 2011 (LG Ravensburg)

BGHSt; Recht auf Beschwerde; Recht auf Verfahrensbeschleunigung; Individualbeschwerde; mangelnde Belehrung über das Konsultationsrecht (Recht auf Verteidigerbeistand; Täuschung: gebotene ordnungsgemäße Protokollierung der Beschuldigtenbelehrung); Beteiligung an einer Schlägerei.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 34 EMRK; § 46 StGB; § 51 StGB; § 136 StPO; § 136a StPO; § 137 StPO; § 163a StPO; § 231 StGB

1. Nach Übernahme eines Ermittlungsverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland ist eine in dem abgebenden Vertragsstaat der MRK bereits eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht zu kompensieren. (BGHSt)

2. Eine solche Kompensation ist Wiedergutmachung. Sie soll die „Opferstellung“ eines Betroffenen (Art. 34 MRK) beenden und so den jeweiligen Vertragsstaat vor einer möglichen Verurteilung durch den EGMR auf Grund einer Individualbeschwerde wegen Verletzung der MRK bewahren. Letztlich wird durch eine solche Kompensation eine „im Verantwortungsbereich des Staates“ entstandene „Art Staatshaftungsanspruch“ erfüllt (BGHSt 52, 124, 138). Dem entspricht, dass Individualbeschwerden gemäß Art. 35 Abs. 3 MRK zurückgewiesen werden, wenn die gerügten Handlungen oder Unterlassungen dem beklagten Staat nicht zuzurechnen wären (vgl. EGMR, Entscheidung vom 15. Juni 1999, Nr. 18360/91; EKMR, Entscheidung vom 14. April 1998, Nr. 20652/92). (Bearbeiter)

3. Die Annahme, bei Verhängung von Jugendstrafe sei nicht das Vollstreckungsmodell anzuwenden, sondern ein Strafabschlag vorzunehmen, entspricht jedenfalls dann nicht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wenn die Jugendstrafe allein auf eine Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) gestützt ist (BGH StraFo 2011, 56, 57).

4. Zu den Anforderungen an die Darlegung der Geltendmachung einer versagten Konsultation des Verteidigers im Ermittlungsverfahren bei einer entgegen Nr. 45 Abs. 1 RiStBV teilweise unterbliebenen Protokollierung einer Belehrung bei Gericht. (Bearbeiter)

5. Die Belastung des Verfahrens durch unsorgfältige Protokollierung ist leicht durch die Verwendung eines entsprechenden Formulars zu vermeiden. Macht ein Angeklagter in der Hauptverhandlung keine Angaben, oder sagt er dort anders aus als im Ermittlungsverfahren, können seine früheren Angaben sehr bedeutsam werden. Ist hinsichtlich dieser Angaben keine ordnungsgemäße Belehrung aktenkundig, steht das Verbot ihrer Verwertung dann im Raum, wenn die Belehrung und nicht nur deren Dokumentation unzulänglich war. Diese anhand der Akten nicht klärbare Frage hätte bereits vor der Hauptverhandlung überprüft werden können, auch schon von der Staatsanwaltschaft. Deren Gesamtverantwortung für ein rechtmäßiges Ermittlungsverfahren - auch soweit von der Polizei geführt - verlangt auch hinsichtlich etwaiger Beweisverwertungsverbote effektiv ausgeübte Leitungs- und Kontrollbefugnisse, damit gegebenenfalls gebotene Maßnahmen ergriffen werden können, wo nötig in Form allgemeiner Weisungen. Dies gilt in allen Verfahren, hat aber in Kapitalsachen (versuchter Totschlag) besonderes Gewicht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 99/09, NJW 2009, 2612, 2613 mwN). (Bearbeiter)


Entscheidung

1041. BGH 1 StR 327/11 - Beschluss vom 26. August 2011 (LG Deggendorf)

Unmittelbarkeitsgrundsatz bei Zeugenaussage (Verwertung von Bild-Ton-Aufnahmen von Zeugenvernehmungen, die allein auf Grund einer Verfügung des Vorsitzenden, aber ohne Gerichtsbeschluss entstanden sind); Konfrontationsrecht.

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 250 StGB; § 255a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO; § 58a Abs. 1 StPO; § 168e StPO

1. Für die Vorführung von gemäß §§ 58a Abs. 1, 168e StPO aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen Vernehmungen ist kein förmlicher Gerichtsbeschluss erforderlich. Die Anordnung des Vorsitzenden im Rahmen seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO genügt.

2. Vielmehr fehlt es in § 255a Abs. 2 StPO im Unterschied zu § 255a Abs. 1 StPO gerade an einer Verweisung auf die Vorschrift des § 251 Abs. 4 StPO, die für die Verlesung von Vernehmungsniederschriften eine Anordnung durch Gerichtsbeschluss verlangt. Für ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers bestehen keine Anhaltspunkte. Es verbleibt deshalb bei dem allgemeinen Grundsatz, dass Anordnungen zur Beweiserhebung grundsätzlich der Vorsitzende im Rahmen seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO trifft, sofern das Gesetz nicht ausnahmsweise dem Gericht die Entscheidung auferlegt, was bei § 255a Abs. 2 StPO nicht der Fall ist (offen gelassen in BGHSt 49, 72, 74).

3. Eine analoge Anwendung des § 251 Abs. 4 StPO auf Fälle des § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO ist aus rechtssystematischen Gründen nicht geboten. Sie folgt auch nicht aus den Prozessmaximen des deutschen Strafprozesses. Zwar ersetzt die Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 255a Abs. 2 StPO ebenso wie die Verlesung einer

Vernehmungsniederschrift nach § 251 StPO die persönliche Vernehmung. Durch die Regelung des § 255a Abs. 2 StPO sollte aber gerade den Zeugen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, insbesondere wenn es sich um kindliche Zeugen handelt, im Regelfall die nochmalige persönliche Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart werden. Diese Zwecksetzung stellt einen ausreichenden Rechtfertigungsgrund für die unterschiedlichen Formerfordernisse an die Anordnung der Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung in den Fällen des § 255a Abs. 1 und Abs. 2 StPO dar.


Entscheidung

994. BGH 3 StR 44/11 - Beschluss vom 20. Juli 2011 (LG Hannover)

Frist zur Stellung von Beweisanträgen; Verschleppungsabsicht; Rügeobliegenheit.

§ 238 StPO; § 246 StPO; § 244 StPO

1. Die Verfahrensrüge, wonach eine nach Setzung einer Frist zur Stellung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung unterbliebene Bescheidung eines Beweisantrags rechtsfehlerhaft sei, setzt nicht voraus, dass die durch den Vorsitzenden bestimmte Frist zunächst nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet wird. Denn die Beanstandung könnte sich nur gegen die Fristbestimmung richten, während die spätere Verfahrensrüge die unterlassene Verbescheidung in der Hauptverhandlung zum Gegenstand hat.

2. Das Unterlassen der Verbescheidung eines Beweisantrages in der Hauptverhandlung bedarf keiner Beanstandung gem. § 238 Abs. 2 StPO.

3. Auch eine zulässigerweise gesetzte Frist zur Stellung von Beweisanträgen befreit das Gericht nicht von der Verpflichtung, in gesetzmäßiger Weise über die Beweisanträge zu befinden. Sie erleichtert lediglich deren Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht, weil die Überschreitung der Frist unter bestimmten Voraussetzungen als Indiz für eine Verschleppungsabsicht (§ 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO) gewertet werden kann (Abgrenzung von BGH 5 StR 129/05, Beschluss vom 14. Juni 2005 – HRRS 2005 Nr. 543).


Entscheidung

1040. BGH 1 StR 297/11 - Beschluss vom 26. Juli 2011 (LG Bayreuth)

Unzulässig erhobene Verfahrensrüge beim Antrag auf Offenlegung der Identität einer Vertrauensperson (erforderliche förmliche Sperrerklärung).

§ 96 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Soweit ein Tatgericht einen Antrag auf Offenlegung der Identität einer Vertrauensperson allein unter Hinweis „auf die zugesicherte Geheimhaltung“ abgelehnt und in den – dem Senat durch die erhobene Sachrüge eröffneten – Urteilsgründen die Ansicht vertreten hat, eine Vernehmung der polizeilichen Vertrauensperson habe nicht erfolgen können, weil dieser Person durch die Staatsanwaltschaft Geheimhaltung zugesichert wurde, steht dies nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Denn danach bindet eine solche Zusicherung der Vertraulichkeit zwar – mit Einschränkungen – die Staatsanwaltschaft und die Polizei (vgl. Nummer 4 der Gemeinsamen Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen [V-Personen] und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung/Anlage D zu den RiStBV). Für das gerichtliche Verfahren hat sie aber keine Bedeutung. Die Gerichte sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Darum dürfen sie eine gebotene Beweiserhebung nicht deshalb ablehnen, weil Staatsanwaltschaft oder Polizei die Identität eines Informanten geheim halten wollen. Lassen sich der Name und die Anschrift des Informanten nicht anders feststellen, so kann und muss das Gericht von allen öffentlichen Behörden – auch von der Staatsanwaltschaft und der Polizei – diejenigen Auskünfte verlangen, die es zur Ermittlung der Beweisperson für erforderlich hält (§§ 161, 202, 244 Abs. 2 StPO).

2. Die Auskunft darf in entsprechender Anwendung des § 96 StPO nur verweigert werden, wenn die oberste Dienstbehörde erklärt, dass das Bekanntwerden ihres Inhalts dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Solange eine solche sog. Sperrerklärung nicht vor liegt, darf der Gewährsmann insbesondere nicht als ein unerreichbares Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO angesehen werden (vgl. BGHSt 35, 82, 84 ff. mwN).


Entscheidung

1037. BGH 1 StR 194/11 - Urteil vom 9. August 2011 (LG Stuttgart)

Beweiswürdigung beim Tötungsvorsatz (gefährliche Gewalthandlungen gegen eine andere als die zur Tötung auserwählte Person; unmittelbares Ansetzen hinsichtlich der auserwählten Person: Erörterungsmangel, Kognitionspflicht); Umgrenzungsfunktion der Anklage (Tat im prozessualen Sinne).

§ 212 StGB; § 211 StGB; § 261 StPO; § 15 StGB; § 200 StPO; § 264 StPO

1. Nach § 264 StPO muss das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, unter allen rechtlichen Gesichtspunkten aburteilen. Es ist verpflichtet, den Unrechtsgehalt der „Tat“ voll auszuschöpfen, sofern keine rechtlichen Hindernisse im Wege stehen (BGHSt 25, 72). Der Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO entspricht dabei demjenigen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO.

2. Einzelfall der Anwendung auf einen Fall, in dem die Täterin zur Tat gegen eine frühere Kollegin entschlossen ist, und nach dem Klingeln an deren Haustür gefährliche Gewalthandlungen gegen den die Tür öffnenden Lebensgefährten der Kollegin verübt, um zu der Kollegin zu gelangen.

3. Klingelt die zur Tötung des Opfers entschlossene Angeklagte an der Wohnungstür des Opfers, um diese unmittelbar nach Türöffnung zu töten, liegt darin bereits ein unmittelbares Ansetzen.

4. Die Anklageschrift hat gemäß § 200 Abs. 1 StPO die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkenn-

bar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Die begangene konkrete Tat muss vielmehr durch bestimmte Tatumstände so genau gekennzeichnet werden, dass keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Erfüllt die Anklage ihre Umgrenzungsfunktion nicht, so ist sie unwirksam (st. Rspr.). Bei der Überprüfung, ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, dürfen die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur Ergänzung und Auslegung herangezogen werden (st. Rspr.).


Entscheidung

1023. BGH 5 StR 263/11 - Beschluss vom 17. August 2011 (LG Hamburg)

Öffentlichkeit des Verfahrens (Ausschließung bei der neuerlichen Vernehmung eines Zeugen; Entlassung eines Zeugen); Beweiswürdigung; Wahrunterstellung; Strafzumessung (Aufklärungshilfe).

§ 338 Nr. 6 StPO; § 171b GVG; § 174 Abs. 1 GVG; § 261 StPO; § 244 StPO; § 46b StGB

1. Ein Beschluss, der die Ausschließung der Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen anordnet, gilt grundsätzlich bis zur Beendigung des Verfahrens und deckt auch den Öffentlichkeitsausschluss, wenn eine Vernehmung unterbrochen und an einem anderen Verhandlungstag fortgesetzt wird.

2. Soll jedoch derselbe Zeuge in der laufenden Hauptverhandlung nochmals unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen werden, nachdem seine Vernehmung bereits beendet war, ist grundsätzlich gemäß §§ 171b, 174 Abs. 1 Satz 2 GVG ein neuer Gerichtsbeschluss erforderlich; eine Anordnung des Vorsitzenden, in der auf einen vorausgegangenen Ausschließungsbeschluss Bezug genommen wird, genügt nicht.

3. Die Vernehmung eines Zeugen ist jedenfalls beendet, wenn er im Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten entlassen wird.

4. Ein erneuter Gerichtsbeschlusses kann ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn dem Protokoll zu entnehmen ist, dass die Entlassung des Zeugen sofort zurückgenommen wurde und die für den Ausschließungsbeschluss maßgebliche Interessenlage fortbestand, sodass sich die zusätzliche Anhörung zusammen mit der vorausgegangenen als eine einheitliche Vernehmung darstellt.


Entscheidung

991. BGH 3 StR 164/11 - Beschluss vom 28. Juni 2011 (LG Oldenburg)

Zuständigkeit des Landgerichts; Verweisung durch das Schöffengericht; Übernahmebeschluss (konkludenter; stillschweigender).

§ 225a StPO; § 270 StPO

1. § 270 StPO ist - auch nach vorangegangener Aussetzung - erst nach Beginn der (ggf. neuen) Hauptverhandlung anwendbar.

2. Der Senat lässt offen, ob ein Übernahmebeschluss gem. § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO stillschweigend ergehen kann. Zumindest aber setzt ein solcher Beschluss ein konkretes Bewusstsein des übernehmenden Spruchkörpers voraus, überhaupt eine Übernahmeentscheidung zu treffen. Dies ist nicht der Fall, wenn sich der Spruchkörper durch einen Beschluss gem. § 270 Abs. 1 StPO gebunden sieht, weil er hier lediglich diesen (vermeintlichen) Beschluss einer Willkürprüfung unterziehen kann, aber gerade keine volle Prüfung im Sinne des § 225a Abs. 1 StPO dahingehend vornimmt, ob seine Zuständigkeit begründet ist.


Entscheidung

1042. BGH 1 StR 388/11 - Beschluss vom 7. September 2011 (LG München I)

Prozessvoraussetzung des wirksamen Eröffnungsbeschlusses (fehlerhafte Gerichtsbesetzung).

§ 203 StPO; § 76 Abs. 2 GVG

Wird eine zunächst unterbliebene Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens in der Hauptverhandlung nachgeholt, so entscheidet darüber beim Landgericht auch dann die Große Strafkammer in ihrer Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung mit drei Berufsrichtern ohne Mitwirkung der Schöffen, wenn die Kammer die Hauptverhandlung in reduzierter Besetzung durchführt. Wird dies missachtet, besteht ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, welches insoweit zur Verfahrenseinstellung führt.


Entscheidung

989. BGH 3 StR 120/11 - Urteil vom 4. August 2011 (LG Stade)

Erschöpfende Würdigung der Beweise; Erörterungsmangel; Mord (Verdeckungsabsicht; leitendes Motiv).

§ 261 StPO; § 211 StGB; § 267 Abs. 3 StPO

1. Zwar verpflichtet § 261 StPO den Tatrichter, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise erschöpfend zu würdigen und dem Urteil zu Grunde zu legen, sofern dem nicht ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Bleibt ein Beweismittel unerwähnt, ist hieraus aber nicht zu schließen, dass es übersehen worden ist. Denn die Darstellung der Beweiswürdigung im Urteil dient nicht dazu, für alle Sachverhaltsfeststellungen einen Beleg zu erbringen oder mitzuteilen, welche Beweise in der Hauptverhandlung erhoben worden sind.

2. Rechtsfehlerhaft – nämlich wegen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur erschöpfenden Würdigung der Beweise lückenhaft – ist die Beweiswürdigung bei fehlender Erörterung eines Beweismittels nur dann, wenn das Ergebnis der Beweiserhebung eine andere Möglichkeit des Tathergangs nahe legt.

3. Einzelfall einer noch nicht rechtfehlerhaften unterlassenen Erörterung eines Beweismittels bei einem Indizienprozess rund zwanzig Jahre nach der Tat.


Entscheidung

1052. BGH 2 StR 167/11 - Urteil vom 3. August 2011 (LG Bonn)

Rechtsfehlerhaft begründeter Freispruch (Beweiswürdigung beim Vorwurf eines Tötungsdelikts).

§ 212 StGB; § 261 StPO

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist unter anderem der Fall, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt ferner, ob überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr. vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 7. Juni 2011 - 5 StR 26/11 mwN).

2. Ein freisprechendes Urteil muss eine nähere Dokumentation früherer Einlassungen der Angeklagten zu sämtlichen Indiztatsachen aufweisen. Anderenfalls ist dem Revisionsgericht eine Überprüfung unmöglich, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind (vgl. BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Dies gilt auch dann, wenn die Angeklagte in der Hauptverhandlung von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht.

3. Das freisprechende Urteil darf die festgestellten Umstände und Beweismittel hinsichtlich ihrer Aussagekraft nicht mit spekulativen Erwägungen und auch nicht nur isoliert bewerten.


Entscheidung

1033. BGH 1 StR 114/11 - Urteil vom 10. August 2011 (LG Konstanz)

Rechtsfehlerhaft begründeter Freispruch (Beweiswürdigung beim Vorwurf der sexuellen Nötigung).

§ 177 Abs. 1 StGB; § 261 StPO

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatrichters durch seine eigene zu ersetzen (st. Rspr.). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich somit darauf, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.). Insbesondere ist die Beweiswürdigung auch dann rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden (BGHSt 29, 18, 20) oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

2. Einzelfall, in dem ein freisprechendes Urteil eine geschlossenen Darstellung der Aussagen der Nebenklägerin und der weiteren Belastungszeugin enthalten muss. Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in allen Einzelheiten wiederzugeben. In Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht, muss aber der entscheidende Teil einer Aussage in das Urteil aufgenommen werden, da dem Revisionsgericht ohne Kenntnis des wesentlichen Aussageinhalts ansonsten die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung nach den oben aufgezeigten Maßstäben verwehrt ist.

3. Die Darstellung einer entscheidenden belastenden Aussage der Nebenklägerin bei der Polizei und in der Hauptverhandlung darf sich nicht auf die Wiedergabe und Bewertung einzelner aus dem Gesamtzusammenhang der Aussage gerissener Angaben beschränken, die das Tatgericht als „Unsicherheiten bzw. Abweichungen“ bezeichnet, „die auch den Kernbereich der Tatvorwürfe betreffen“. Auch die Bekundungen der Nebenklägerin zu den von ihr erhobenen Vergewaltigungsvorwürfen, insbesondere konkrete Details zum unmittelbaren Tatgeschehen, müssen mitgeteilt werden. Zudem muss den Urteilsgründen zu entnehmen sien, ob die Nebenklägerin die vom Tatgericht aufgezeigten Widersprüche im Aussageinhalt nachvollziehbar erklären konnte oder nicht.


Entscheidung

1083. BGH 4 StR 373/11 - Beschluss vom 23. August 2011 (LG Saarbrücken)

Tenorierung: nachzuholender Teilfreispruch bei Anklage in Tatmehrheit.

§ 267 StPO

Ein Angeklagter, der nicht wegen aller Delikte verurteilt wird, die er der Anklage zufolge in Tatmehrheit begangen haben soll, ist insoweit freizusprechen, um Anklage und Eröffnungsbeschluss auszuschöpfen; dies gilt auch dann, wenn das Gericht das Konkurrenzverhältnis anders beurteilt und von Tateinheit ausgeht.


Entscheidung

1015. BGH 5 StR 230/11 - Beschluss vom 6. Juli 2011 (LG Bremen)

Erheblich verminderte Schuldfähigkeit (Versagung; eigene Sachkunde des Tatrichters; Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen).

§ 21 StGB; § 244 StPO

1. Ein „erkennbar abrupter Tatverlauf mit elementarer Wucht ohne Sicherungstendenzen“ spricht für einen affektiven Ausnahmezustand, der wiederum indiziell auf eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hindeuten kann.

2. Die Bewertung einer – vom Angeklagten behaupteten – Erinnerungslücke ist dem Tatrichter ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen nur schwer möglich.