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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2011
12. Jahrgang
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Von Dr. Sascha Ziemann / Richter am Landgericht Dr. Jörg Ziethen *
Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit der Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH vom 22. Dezember 2010[1], die als "Zitronensaft-Fall" einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.[2]
Zu Grunde liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt[3] . Die 80-jährige Geschädigte unterzog sich einer Darmspiegelung, in deren Folge sich die Gefahr eines (mittelfristigen) Darmverschlusses zeigte. Man riet ihr zu einer Operation, in die sie nach zwei Tagen einwilligte. Zuvor war sie über den Grund der Operation und die mit dem Eingriff verbundenen Risiken (insbesondere: Wundinfektion durch Darmbakterien) aufgeklärt worden. Der Angeklagte, Chefarzt der chirurgischen Abteilung und zugleich Eigentümer des Krankenhauses, führte die Operation – soweit ersichtlich – ohne Fehler am nächsten Tag durch. In der Folgezeit entzündete sich die Wunde allerdings erheblich. Am fünften Tag nach der Operation erhielt die Geschädigte Antibiotika, dennoch verschlechterte sich ihr Zustand weiter. Der Angeklagte entschloss sich nach weiteren zwei Tagen zu einer erneuten Operation, in welche die kaum noch ansprechbare Geschädigte durch Nicken einwilligte. Am Ende dieser Operation vernähte der Angeklagte einen mit Zitronensaft getränkten Streifen in die Wunde. Jenen hatte er von Pflegekräften aus handelsüblichen Früchten mittels einer Haushaltspresse in der Stationsküche auspressen lassen. Der Angeklagte war aufgrund "persönlicher beruflicher Erfahrung" davon überzeugt, Zitronensaft sei allgemein keimtötend und daher ein geeignetes Mittel zur Behandlung von Wundheilungsstörungen; einen wissenschaftlichen Erfahrungssatz dieser Art gibt es allerdings nicht. Die Geschädigte verstarb zehn Tage nach der zweiten Operation an der Entzündung. Dass sich die Einbringung des mit nicht sterilem Zitronensaft getränkten Wundstreifens auf den Verlauf der Entzündung negativ ausgewirkt hat, konnte nicht festgestellt werden.
Das Tatgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Verurteilung knüpft – soweit durch den Senat berichtet[4] – an die Durchführung bereits der ersten Operation an. Da die erste Operation als solche medizinisch indiziert war und – soweit festgestellt – auch kunstgerecht ausgeführt wurde, konzentrierte sich die Frage auf das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Aufklärung. Diese Frage verneinte das Tatgericht, weil der Geschädigten durch die Nichtinformation über die Zitronensaft-Methode eine wesentliche Information vorenthalten worden sei.
Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat die Verurteilung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Entscheidung beruht tragend darauf, dass der Senat die festgestellte Tat nicht als Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB), sondern als gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) gewürdigt hat. Ergänzend gab der Senat
dem neuen Tatrichter auf, nach weiteren Behandlungsfehlern zu suchen. Zur Begründung im Einzelnen:
Entgegen der Ansicht des Tatgerichts verneinte der Senat bei der ersten Operation das Vorliegen einer Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB). Da nach ständiger Rspr. des BGH zum ärztlichen Heileingriff jede Operation eine tatbestandsmäßige Körperverletzung darstellt[5], war Kern der Ausführungen des Senats die Frage der rechtfertigenden Einwilligung und hier insbesondere die Frage nach der ordnungsgemäßen Aufklärung. Diese sah der Senat für gegeben an: die erforderliche Grundinformation habe die Geschädigte bei der Erstberatung erhalten; eine weitergehende spezifische Beratung über die nicht-konventionelle Behandlung einer eventuell eintretenden Wundinfektion sei zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich gewesen. Zwar sei die Wundinfektion ein spezifisches Risiko einer Darmoperation, jedoch sei deren Behandlung nicht mit dem "schweren Risiko" einer zukünftigen Beeinträchtigung der Lebensführung verbunden, weil die Möglichkeit einer (die Lebensführung wenig belastenden) konventionellen Behandlung mit Antibiotika bestanden habe.[6]
Auch hinsichtlich der zweiten Operation konnte der Senat keine Körperverletzung mit Todesfolge feststellen, da das Tatgericht keine tragfähigen Feststellungen darüber getroffen hatte, dass sich die zusätzliche Verkeimung nachteilig auf den Entzündungsprozess ausgewirkt hat, die Einbringung des mit Zitronensaft getränkten Wundstreifens also kausal für den Tod der Patientin geworden war.
Der Senat hielt gleichwohl hinsichtlich der zweiten Operation eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB für gegeben,[7] wobei sich allein Ausführungen zur Unwirksamkeit der Einwilligung wegen eines Aufklärungsfehlers finden, nicht jedoch zur Begründung der Qualifikation. Die Einwilligung in die zweite Operation sei unwirksam, da vor diesem Eingriff keine insoweit notwendige und angesichts des zeitlichen Abstands von mehreren Tagen auch mögliche Aufklärung erfolgt sei. Zu dieser Aufklärung hätte es insbesondere gehört, die Geschädigte über die geplante Anwendung der Zitronensaft-Methode als Außenseitermethode und damit über das Bestehen bislang unbekannter Risiken zu informieren.[8]
Die Entscheidung schließt mit "Hinweisen", die der Senat an den neuen Tatrichter richtet.[9] Hiernach erschien es dem Senat denkbar, dass durchaus noch Behandlungsfehler des Angeklagten aufgedeckt werden können, die eine (erneute) Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge tragen würden, etwa mit Blick auf das Unterlassen operationsvorbereitender Maßnahmen oder den zeitlichen Abstand bis zur zweiten Operation.[10]
Der Entscheidung des Senats ist zuzustimmen. Die vereinzelt vorgetragene Kritik aus der Literatur erweist sich als ungerechtfertigt.
Die dogmatische Annäherung an den Fall bereitet – wie die insoweit stark divergierenden Entscheidungen von Tatgericht und Senat belegen – bereits hinsichtlich der Bestimmung von Tathandlung und Taterfolg Schwierigkeiten. Das Tatgericht ging von einer weitgespannten Kausalkette aus und gelangte auf diesem Wege zu einer einfachen Beweisführung: weil es ohne die Erstoperation nicht zu einer Wundinfektion und ohne diese letztlich nicht zum Tod der Geschädigten gekommen wäre, war die aus tatsächlichen Gründen offenbar kaum zu beantwortende Frage nach der Schädlichkeit des (bei der zweiten Operation eingesetzten) Zitronensafts für das Tatgericht nicht entscheidungserheblich. Demgegenüber hat der Senat seine rechtliche Würdigung allein auf die Durchführung der zweiten Operation gestützt. Dieses auf den ersten Blick irritierende Verspringen des Tatvorwurfs findet seinen Grund in der unterschiedlichen Beantwortung der zentralen Rechtsfrage nach dem Wann und Wie der Patientenaufklärung.
Diese Frage hat der Senat überzeugend beantwortet. Seine Entscheidung schließt an die Grundsätze der zivilrechtlichen Arzthaftung an. Demnach soll der Patient im Rahmen der Grundaufklärung zunächst nur über die unmittelbaren Folgen des (Erst-) Engriffs aufzuklären sein. Darüber hinaus habe der Arzt die Pflicht zur Aufklärung über schwerwiegende Risiken einer Folgebehandlung, die nötig werden kann, wenn sich eine mit dem Ersteingriff "verbundene Komplikationsgefahr"[11] verwirklicht. Maßstab der ärztlichen Hinweispflicht soll hierbei nicht nur ein bestimmter "Grad der Komplikationsdichte" sein, sondern es soll maßgeblich auch darauf ankommen, "ob das in Frage stehende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet".[12] Diese differenzierte Regelung verdient Zustimmung. Während in der Logik der Entscheidung des Tatgerichts der Arzt bereits
zum Zeitpunkt der Grundaufklärung nicht nur über das Risiko des Ersteingriffs, sondern über Folge- und Folgefolgerisiken aufzuklären gehabt hätte, gelangt der Senat anhand der oben genannten Kriterien zu einer klaren Begrenzung der Aufklärungspflicht. Dies ist nicht nur mit Blick auf die zweckmäßige Entlastung des Arzt-Patienten-Gesprächs begrüßenswert, sondern schafft zugleich Sicherheit im Hinblick auf die Frage, welche Risiken der Arzt jedenfalls anzusprechen hat und welche nicht oder ggf. später zu thematisieren sind.
Für den entschiedenen Fall ergibt sich demnach, dass die zweifelhafte Zitronensaft-Methode zum Gegenstand der Patientenaufklärung hätte gemacht werden müssen, und zwar vor der Operation, in der sie zur Anwendung gekommen ist. Das diesbezügliche Versäumnis des Angeklagten rechtfertigt es, mit dem Senat die Durchführung der zweiten Operation in das Zentrum der rechtlichen Würdigung zu rücken.
Der Senat hat in dem vorgenannten Verhalten eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB erblickt und hierin scharfe Kritik aus der Literatur erfahren. Die Kritik knüpft an die bekannte Streitfrage an, ob auch ein ärztlicher Heileingriff eine gefährliche Körperverletzung darstellt. Die zugrunde liegenden Positionen brauchen hier nur überblickartig wiedergegeben werden:
Zur höchstrichterlichen Rspr. zählt die Ansicht, dass das bei einer medizinisch nicht indizierten Operation durch einen Arzt eingesetzte Werkzeug kein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB sei, weil es nicht "bei einem Angriff oder Kampf zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken" eingesetzt werde.[13] Diese Begriffsbestimmung sieht sich im Kontext einer ärztlichen Behandlung dem Einwand ausgesetzt, dass die durch den Eingriff hervorgerufenen Verletzungen von besonderer Intensität sein können, ohne dass sie auf eine Kampfsituation zurückgehen. In der Literatur wird daher schon seit längerem die Meinung vertreten, dass auch eine ärztliche Heilbehandlung grundsätzlich eine gefährliche Körperverletzung sein könne.[14] Zur Begründung wird vor allem angeführt, dass es bei fehlender Rechtfertigung durch Einwilligung keinen Grund gebe, "den Arzt besser zu stellen als andere Täter".[15]
Der Senat hat sich zu dieser Streitfrage nicht ausdrücklich verhalten, sondern die Tatbestandlichkeit wie selbstverständlich bejaht. Er wird daher – wie auch sonst – für die Bejahung der Qualifikation nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB von der Frage ausgegangen sein, ob das gefährliche Werkzeug sowohl nach seiner objektiven Beschaffenheit als auch nach der konkreten Art der Verwendung geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen[16] . Dabei ist in der ständigen Rspr. des BGH die Tendenz zu beobachten, den Schwerpunkt auf den Aspekt der Erheblichkeit des Körperverletzungserfolges zu legen.[17] Die Literatur versteht dies in dem Sinne, dass nicht die abstrakt-generelle Eignung des verwendeten Gegenstands zur Erzeugung schwerwiegender Verletzungen maßgeblich sei; vielmehr müssten "jene schwerwiegenden, dh länger dauernden oder nicht bzw. kaum reversiblen, nachhaltig beeinträchtigenden Verletzungen" durch die "konkrete Form des Werkzeug-Einsatzes" heraufbeschworen worden sein.[18]
Die Anwendung der vorgenannten Grundsätze auf den vorliegenden Fall wird dadurch erschwert, dass sich aus dem Gesamtverhalten des Angeklagten mehrere Anknüpfungspunkte für eine gefährliche Körperverletzung ergeben, insbesondere der Einsatz des Operationsbestecks sowie das Einbringen des mit Zitronensaft getränkten Wundstreifens. Namentlich Widmaier vertritt die Ansicht, dass sich für den Senat die Qualifikation nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB "allein aus der Verwendung des Skalpells bei der Nachoperation", also dem Operationsbesteck, ergeben habe[19]. Dem ist zu widersprechen. Die These findet weder eine ausdrückliche noch implizite Bestätigung in den Entscheidungsgründen. Auch wird man zu bedenken haben, dass der Angeklagte dem durch das Operationsbesteck herbeigeführten Verletzungserfolg durch Verschließen der Wunden seine spezifische Gefährlichkeit im vorgenannten Sinne genommen hat.[20]
Überzeugenderweise stellt der Senat daher sowohl bei der Schilderung des Sachverhalts als auch bei dessen rechtlicher Würdigung nicht das Beibringen der Operationswunden in den Vordergrund, sondern das Einnähen des mit Zitronensaft getränkten Wundstreifens bei Abschluss der Operation. Durch diese Maßnahme hat der Angeklagte eine Infektionsquelle und damit für die Geschädigte die Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung geschaffen, weil ihr eine kaum reversible und im weiteren Verlauf lebensbedrohliche Verkeimung drohte. Dass ein Übergang von Keimen nicht positiv festgestellt wurde, schließt die Gefährlichkeit in diesem
Sinne nicht aus, da zum Zeitpunkt der Einbringung des Wundstreifens Eintritt oder Ausbleiben der zusätzlichen Verkeimung vom Zufall abhingen.[21] Ausgehend hiervon erscheint die Feststellung der (objektiven) Tatbestandlichkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB durchaus nachvollziehbar.
Zu kritisieren ist allerdings, dass der Senat bei seiner rechtlichen Würdigung nicht näher auf die Frage der subjektiven Tatseite und insbesondere den Vorsatz zur gefährlichen Körperverletzung eingegangen ist. Da dem Senat als Revisionsgericht eigene Tatsachenfeststellungen zu diesen Fragen naturgemäß verwehrt waren, kann sich seine Entscheidung nur auf die tatrichterlich festgestellten Umstände stützen.
Ob diese den vom Senat erhobenen Schuldvorwurf tragen, erscheint erörterungswürdig. Das Tatgericht hat die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge auf die Durchführung der ersten Operation gestützt, weswegen es aus seiner Sicht nicht geboten war, Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob der Angeklagte bei Einnähen des unsterilen Wundstreifens im Rahmen der zweiten Operation den Vorsatz zu einer gefährlichen Körperverletzung hatte. Auch der Senat teilt entsprechende tatrichterliche Feststellungen nicht mit, und dies, obwohl die höchstrichterliche Rspr. grundsätzlich verlangt, dass die innere Tatseite "besonders sorgfältig durch tatsächliche Feststellungen" belegt wird.[22] Hinzu tritt, dass im Bereich des Medizinstrafrechts eine vorsatzskeptische Linie vorherrscht, wonach selbst bei "medizinisch grob fehlerhaftem" Verhalten im Grundsatz von einem Heilungswillen des Arztes auszugehen sei und nur bei besonderen Umständen ein vorsätzliches Handeln angenommen werden könne.[23] Nur ausnahmsweise hält der BGH den Verzicht auf eine nähere Begründung der subjektiven Tatseite revisionsrechtlich für unschädlich, nämlich dann, wenn sich die Merkmale der inneren Tatseite von "selbst aus der Sachverhaltsschilderung" ergeben.[24] Auch dies erscheint vorliegend zweifelhaft, da das Tatgericht – ausweislich der Entscheidungsgründe – zu der (gegenläufigen) Feststellung gelangt ist, dass der Angeklagte "allgemein von einer keimtötenden Wirkung des Zitronensaftes" ausgegangen sei und zudem "aufgrund persönlicher beruflicher Erfahrung der Überzeugung war, Zitronensaft sei ein geeignetes Mittel zur Behandlung schwerwiegender Wundheilungsstörungen"[25].
Allerdings – und dies spricht im Ergebnis für die Entscheidung des Senats – steht diesen Feststellungen entgegen, dass das Tatgericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass dem Angeklagten "bewusst" gewesen sei, "dass seine Methode der Behandlung von Wundheilungsstörungen unüblich und ungetestet war".[26] Legt man zugrunde, dass es nach Ansicht des Senats darüber hinaus zum medizinischen Allgemeinwissen gehört, dass für eine solche nicht wissenschaftlich getestete Methode "unbekannte Risiken nicht ausgeschlossen werden"[27] können, wird man dem Angeklagten zumindest anlasten können, dass er die Maßnahme trotz professioneller positiver Kenntnis, dass unbekannte Risiken bestehen, durchgeführt hat. Damit liegt nahe, dass er diese Risiken – wie etwa die Schaffung einer Keimquelle – im Rechtssinne billigend in Kauf genommen und zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hat.
Die Tat des Angeklagten war schließlich auch rechtswidrig. Der namentlich von Schiemann erhobene Einwand, dass der Senat eine mögliche Rechtfertigung qua hypothetischer Einwilligung übergangen habe,[28] geht fehl. Zwar verliert der Senat kein Wort zur Frage einer hypothetischen Einwilligung, doch lässt sich dieser Umstand damit erklären, dass die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung ersichtlich nicht gegeben waren.
Nach ständiger Rspr. des BGH soll ein lege artis durchgeführter Heileingriff auch ohne wirksame Einwilligung (z.B. mangels ordnungsgemäßer Aufklärung) rechtmäßig sein können, wenn feststellbar ist, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte.[29] Diese Voraussetzungen liegen nicht vor: Zum einen war die in Rede stehende zweite Operation nicht kunstgerecht. Zum anderen hat das Tatgericht nicht festgestellt, dass die Betroffene bei Aufklärung über den Einsatz der Zitronensaft-Methode dieser zugestimmt hätte. Im Gegenteil: das Tatgericht ging davon aus, dass diese Aufklärung geeignet gewesen wäre, das Vertrauensverhältnis zu erschüttern. Selbst wenn man diese Aspekte beiseite stellt und statt dessen – wie Schiemann[30] – eine rein wertungsmäßige Betrachtung vornimmt, gelangt man zu keinem anderen Ergebnis. Die Figur der hypothetischen Einwilligung fußt auf der Erwägung, dass ein lege artis[31] durchgeführter Heileingriff als solcher einwilligungsfähig ist und eine Einwilligung auch erfolgt wäre, so dass das Fehlen der Einwilligung ein bloß "formaler" Mangel ist, der die "materielle" Rechtswidrigkeit der Maßnahme nicht zu begründen vermag. Hingegen geht es vorliegend um den Fall, dass ein Arzt eigenmächtig zu einer kunstwidrigen und gefährlichen Außenseitermethode greift – bei einem solchen Vorgehen ist die materielle Rechtswidrigkeit ohne Weiteres indiziert.
Der vorliegende Fall hat aufgrund seines ungewöhnlichen Sachverhalts als "Zitronensaft-Fall" Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Entscheidung ist zu begrüßen, insofern sie an die Grundsätze der zivilrechtlichen Arzthaftung anschließt und hierdurch Klarheit schafft hinsichtlich der Frage nach der Patientenaufklärung bei beabsichtigter Anwendung einer Außenseitermethode. Soweit die Entscheidung in der Literatur vereinzelt Kritik erfahren hat, erweist sich diese bei näherer Betrachtung als unbegründet: weder ist die Entscheidung des Senats mit der ständigen Rspr. zum gefährlichen Werkzeug unvereinbar, noch hat der Senat die Figur der hypothetischen Einwilligung übergangen. Vielmehr verdeutlich die Entscheidung zu recht, dass sich auch ein Arzt wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar machen kann, wenn er ungefragt unsterilen Zitronensaft zur Wundbehandlung verwendet und damit seinen ärztlichen Heileingriff zum "Heilangriff" macht.
* Die Autoren sind Lehrbeauftragte am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
[1] BGH 3 StR 239/10 v. 22.12.2010 = HRRS 2011 Nr. 284 = NJW 2011, 1088.
[2] Schiemann NJW 2011, S. 1046 ff.; Widmaier Roxin-FS (2011), Bd. 1, S. 439 ff.; Zöller ZJS 2011, S. 173 ff.
[3] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 2 ff. = NJW 2011, 1088 f.
[4] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 7 = NJW 2011, 1089.
[5] S. hierzu und zur umfangreichen Diskussion im Schrifttum die Nachw. bei Fischer StGB, 58. Aufl. (2011), § 224 Rn. 9 ff.
[6] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 16 = NJW 2011, 1090.
[7] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 17 = NJW 2011, 1090.
[8] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 12 = NJW 2011, 1089.
[9] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 19 = NJW 2011, 1090.
[10] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 18 = NJW 2011, 1090.
[11] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 11 = NJW 2011, 1089.
[12] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 11 = NJW 2011, 1089; aus der neueren zivilrechtlichen Rspr. siehe nur BGH NJW 2010, 3230, 3231 sowie die Rspr.-Auswertung durch von Pentz MedR 2011, S. 222 ff., 225.
[13] S. etwa BGH NJW 1978, 1206 (Extraktionszange eines Zahnarztes), dort auch mit Hinweis auf die unveröffentlichte Entscheidung des BGH v. 24.5.1960 zum Skalpell eines Chirurgen; anders dagegen für den Heilpraktiker (vgl. BGH NStZ 1987, 174). Zustimmend Spickhoff-Knauer/Brose, Medizinrecht (2011), § 224 StGB Rn. 4.
[14] Vgl. MK-Hardtung, StGB (2003), § 224 Rn. 34; S/S-Stree/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. (2010), § 224 Rn. 8; NK-Paeffgen, 3. Aufl. (2010), § 224 Rn. 17; Frister/Lindemann/Peters, Arztstrafrecht (2011), Rn. 6 ff.; unklar insoweit LK-Lilie, StGB, 11. Aufl. (2000), § 224 Rn. 24, der für eine Einzelfallprüfung von Qualifikation der Täters einerseits und von Art und Weise der durchgeführten Maßnahme andererseits votiert. Anders und der "Angriffsformel" der Rspr. folgend: Spickhoff-Knauer/Brose, Medizinrecht (2011), § 224 StGB Rn. 4.
[15] MK-Hardtung a.a.O. (Fn. 14), § 224 Rn. 34.
[16] Siehe nur die Nachw. bei Fischer a.a.O. (Fn. 5), § 224 Rn. 9.
[17] S. die Nachw. bei Fischer a.a.O. (Fn. 5), § 224 Rn. 9.
[18] So z.B. NK-Paeffgen, a.a.O. (Fn. 14), § 224 Rn. 12, auch Rn. 17: "objektive situationsspezifische Gefährlichkeit" (auf den ärztl. Heileingriff bezogen). Ebenso MK-Hardtung a.a.O. (Fn. 14), § 224 Rn. 19; S/S-Stree/Sternberg-Lieben a.a.O. (Fn. 14), § 224 Rn. 4; LK-Lilie a.a.O. (Fn. 14), § 224 Rn. 21 f.
[19] Widmaier Roxin-FS (2011), Bd. 1, S. 439 ff., 442; vgl. auch Zöller ZJS 2011, S. 173 ff., 176.
[20] Im Ergebnis ebenso Zöller ZJS 2011, S. 173 ff., 176.
[21] Zweifelnd Zöller ZJS 2011, S. 173 ff., 176.
[22] BGH NStZ 1987, 362.
[23] Hierzu BGH, NStZ 2004, 35, 36; sowie jüngst für den Tötungsvorsatz im Medizinstrafrecht Kudlich, NJW 2011, S. 2856 ff.
[24] BGHSt 48, 108 = NJW 2003, 907, 910.
[25] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 4 = NJW 2011, 1088.
[26] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 7 = NJW 2011, 1089.
[27] BGH (Fn. 1), UA, Abs.-Nr. 15 = NJW 2011, 1090.
[28] Schiemann NJW 2011, S. 1046 ff., 1047.
[29] Nachw. bei Fischer a.a.O. (Fn. 5), § 223 Rn. 16a; zur dogmatischen Einordnung siehe jüngst ausf. Rosenau Maiwald-FS (2010), S. 683 ff.
[30] Schiemann NJW 2011, S. 1046 ff., 1047.
[31] Ausdrücklich klargestellt durch BGH NStZ-RR 2007, 340, 341 = HRRS 2007 Nr. 727.