HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 994
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 44/11, Beschluss v. 20.07.2011, HRRS 2011 Nr. 994
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 22. April 2010, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und den Maßstab für die Anrechnung in den Niederlanden erlittener Untersuchungshaft auf 1:1 bestimmt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung formellen sowie materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Kammer über einen Beweisantrag entgegen § 244 Abs. 6 StPO nicht in der Hauptverhandlung, sondern erst im Urteil entschieden hat.
1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Die Hauptverhandlung begann am 8. November 2007. Am 26. November 2009 verkündete der Vorsitzende seine Entscheidung, den Prozessbeteiligten "für das Stellen von Beweisanträgen eine Frist bis zum 02.12.2009" zu setzen. Die Kammer behalte sich vor, danach gestellte Beweisanträge ohne gesonderten Beschluss erst im Urteil zu bescheiden und sie insbesondere wegen Verschleppungsabsicht abzulehnen. In einem ebenfalls am 26. November 2009 verkündeten Beschluss führte die Kammer unter anderem näher aus, dass das Verhalten der Verteidiger des Mitangeklagten den Verdacht nahe lege, ein Beweisantrag sei mit Verschleppungsabsicht gestellt worden. In einem weiteren Beschluss vom 19. April 2010 teilte die Kammer mit, weitere Beweisanträge erst in den Urteilsgründen zu bescheiden, "sofern der jeweilige Antragsteller nicht substantiiert darlegt, warum ihm eine frühere Antragstellung nicht möglich gewesen ist oder dies sonst ersichtlich ist". In den Gründen des Beschlusses legte die Kammer unter Darstellung des bisherigen Verfahrensablaufs dar, dass es dem Wahlverteidiger des Mitangeklagten bei einer Antragstellung um Prozessverschleppung gegangen sei. Am selben Hauptverhandlungstag beantragte ein Verteidiger des Mitangeklagten, den Zeugen D. (zu einer die Glaubwürdigkeit eines Mittäters betreffenden Hilfstatsache) zu vernehmen. Diesem Antrag schloss sich der Verteidiger des Angeklagten an. Die Kammer lehnte den Antrag erst in den Urteilsgründen mit der Begründung ab, er sei zur Prozessverschleppung gestellt worden.
2. Die Rüge, welche die in der Hauptverhandlung unterbliebene Bescheidung des Beweisantrags betrifft, ist zulässig erhoben. Ihre Zulässigkeit setzt nicht voraus, dass die durch den Vorsitzenden bestimmte Frist zunächst nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet wird. Eine derartige Beanstandung kann regelmäßig nur dann Voraussetzung einer Revisionsrüge sein, wenn sich diese gegen eine sachleitende Anordnung des Vorsitzenden richtet (vgl. KK/Schneider, StPO, 6. Aufl., § 238 Rn. 29; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 238 Rn. 43). Gegenstand der Rügen ist hier jedoch nicht die Fristsetzung zur Stellung von Beweisanträgen durch den Vorsitzenden als solche, sondern die unterbliebene Bescheidung des Antrags in der Hauptverhandlung.
Dieses Unterlassen selbst bedurfte keiner Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO. Für das tatsächlich als Beweisantrag zu qualifizierende Beweisbegehren auf Vernehmung des Zeugen D. ergibt sich dies bereits daraus, dass dessen Ablehnung nach § 244 Abs. 6 StPO einen Gerichtsbeschluss erfordert hätte.
3. Die genannte Verfahrensrüge ist begründet.
a) Die vor der Urteilsverkündung unterbliebene Bescheidung des Antrags war fehlerhaft. Der Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen D. hätte gemäß § 244 Abs. 6 StPO nur durch einen in der Hauptverhandlung bekannt gemachten Gerichtsbeschluss abgelehnt werden dürfen. Hiervon durfte die Kammer nicht absehen.
Der Bundesgerichtshof hat zwar in verschiedenen Entscheidungen die Möglichkeit aufgezeigt, unter bestimmten Voraussetzungen eine Frist zu setzen, in der Beweisanträge zu stellen sind, und eine verspätete Antragstellung als Indiz für eine Verschleppungsabsicht im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO zu werten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2007 - 1 StR 32/07, BGHSt 51, 333, 344 f.; vom 19. Juni 2007 - 3 StR 149/07, NStZ 2007, 716; vom 23. September 2008 - 1 StR 484/08, BGHSt 52, 355, 361 ff.; vom 10. November 2009 - 1 StR 162/09, NStZ 2010, 161 f.; s. auch BVerfG, Beschlüsse vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 2580/08, NJW 2010, 592 ff.; vom 24. März 2010 - 2 BvR 2092/09 (u.a.), NJW 2010, 2036 f.). Doch enthebt dies das Gericht auch bei Anträgen, die nach Ablauf der Frist gestellt sind, nicht von der Pflicht, über diese in der gesetzlich vorgesehenen Weise zu entscheiden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 162/09, aaO).
Ob gleichwohl darüber hinaus in extrem gelagerten Fällen eine Bescheidung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung ausnahmsweise entbehrlich sein kann (so BGH, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 5 StR 129/05, NJW 2005, 2466, 2468 f.), muss der Senat hier nicht entscheiden. Der zitierte Beschluss betrifft den Sonderfall massenhaft gestellter Beweisanträge, die erkennbar darauf abzielten, das Tatgericht allein schon durch die notwendige (einkalkuliert negative) Bescheidung der Anträge und nicht durch Beweiserhebungen nach Maßgabe der Anträge am Abschluss des Verfahrens zu hindern (vgl. LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 283). Für diese Konstellation hat der 5. Strafsenat erwogen, dass den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Entgegennahme von Beweisanträgen gesetzt und mit eingehender Begründung die pauschale Ablehnung nach Fristablauf gestellter Anträge wegen Verschleppungsabsicht vorab beschlossen werden könne; die nach Fristablauf angebrachten Anträge überprüfe das Tatgericht dann vornehmlich unter Aufklärungsgesichtspunkten, bescheide sie aber - so sie nicht doch Anlass zu weiterer Beweiserhebung unter diesem Gesichtspunkt bieten - wie Hilfsbeweisanträge erst im Urteil, wobei auch der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht nicht ausgeschlossen sei. Der 5. Strafsenat hat allerdings ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Verfahrensweise in der Regel allenfalls dann in Betracht gezogen werden könne, wenn zuvor gestellte Beweisanträge wiederholt wegen Verschleppungsabsicht abgelehnt werden mussten.
Damit ist der hier zu beurteilende Sachverhalt schon im Ansatz nicht vergleichbar. Zudem hat sich die Kammer in ihren Beschlüssen vom 26. November 2009 und 19. April 2010 ausführlich lediglich mit dem Verteidigungsverhalten des Mitangeklagten, nicht aber dem des Angeklagten befasst. Eine "vor die Klammer gezogene' Vorabinformation über die zukünftigen Ablehnungsgründe" (BGH, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 5 StR 129/05, aaO) ergibt sich hieraus in Bezug auf eine etwaige Prozessverschleppung durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger nicht.
b) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler, da die Entscheidung ohne die Gesetzesverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre. Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte und sein Verteidiger den Vorwurf der Prozessverschleppung hätten entkräften oder weitere Anträge hätten stellen können, wenn sie den Ablehnungsgrund gekannt hätten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. April 1986 - 4 StR 161/86, NStZ 1986, 372; vom 7. Dezember 1979 - 3 StR 299/79 (S), BGHSt 29, 149, 152). Da sich die Kammer in ihren Beschlüssen im Wesentlichen mit der Verschleppungsabsicht der Verteidigung des Mitangeklagten befasste, konnten der Angeklagte und sein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht auf die erst in den Urteilsgründen genannten Gesichtspunkte, die sie betrafen, reagieren.
Dass die begehrte Beweiserhebung im Falle ihrer Durchführung ohne Einfluss auf das Urteil geblieben wäre, vermag der Senat nicht festzustellen, weil er das Beweisergebnis nicht vorwegnehmen kann (vgl. KK/Kuckein, StPO, 6. Aufl., § 337 Rn. 38). Anders als bei anderen Anträgen hat die Kammer gerade nicht darauf abgestellt, dass die Tatsachen, für die der Zeuge D. benannt worden ist, für die Entscheidung ohne Bedeutung gewesen wären und das Urteil nicht geändert hätten.
Das Urteil ist auf die dargelegte zulässige und begründete Verfahrensrüge hin aufzuheben. Eine nähere Erörterung der in die gleiche Richtung zielenden und ebenfalls begründeten Rüge, dass weder der Vorsitzende noch die Kammer über den Beweisermittlungsantrag auf Vernehmung von Rechtsanwalt K. entschieden hat, ist daher entbehrlich. Auf die weiteren Verfahrensrügen kommt es ebenso wenig an wie auf die Sachrüge, die keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 994
Externe Fundstellen: NJW 2011, 2821; NStZ 2011, 647; StV 2011, 646
Bearbeiter: Ulf Buermeyer