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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 989

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 120/11, Urteil v. 04.08.2011, HRRS 2011 Nr. 989


BGH 3 StR 120/11 - Urteil vom 4. August 2011 (LG Stade)

Erschöpfende Würdigung der Beweise; Erörterungsmangel; Mord (Verdeckungsabsicht; leitendes Motiv).

§ 261 StPO; § 211 StGB; § 267 Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar verpflichtet § 261 StPO den Tatrichter, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise erschöpfend zu würdigen und dem Urteil zu Grunde zu legen, sofern dem nicht ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Bleibt ein Beweismittel unerwähnt, ist hieraus aber nicht zu schließen, dass es übersehen worden ist. Denn die Darstellung der Beweiswürdigung im Urteil dient nicht dazu, für alle Sachverhaltsfeststellungen einen Beleg zu erbringen oder mitzuteilen, welche Beweise in der Hauptverhandlung erhoben worden sind.

2. Rechtsfehlerhaft - nämlich wegen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur erschöpfenden Würdigung der Beweise lückenhaft - ist die Beweiswürdigung bei fehlender Erörterung eines Beweismittels nur dann, wenn das Ergebnis der Beweiserhebung eine andere Möglichkeit des Tathergangs nahe legt.

3. Einzelfall einer noch nicht rechtfehlerhaften unterlassenen Erörterung eines Beweismittels bei einem Indizienprozess rund zwanzig Jahre nach der Tat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stade vom 3. November 2010 aufgehoben, soweit ein Gesamtstrafenausspruch unterblieben ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Dessen Revision rügt die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet das Verfahren. Das Rechtsmittel hat nur den aus der Urteilsformel ersichtlichen geringen Teilerfolg.

1. Keinen Bestand hat das Urteil, soweit ein Ausspruch über die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe unterblieben ist (§ 54 Abs. 1 Satz 1, § 55 Abs. 1 StGB).

Nach den Feststellungen wurde der Angeklagte am 5. Juni 2008, somit nach Begehung der hier abgeurteilten Tat, wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ob diese Strafe nachträglich in die - in diesem Falle als Gesamtstrafe zu verhängende - lebenslange Freiheitsstrafe einzubeziehen ist, hat das Landgericht nicht geprüft. Der Senat kann eine Entscheidung nach § 54 Abs. 1 Satz 1, § 55 Abs. 1 StGB auch nicht gemäß § 354 Abs. 1 StPO nachholen, denn das Urteil verhält sich nicht zu der bestimmten Bewährungszeit. Sollte die zeitige Freiheitsstrafe danach zum Zeitpunkt des ersten hier ergangenen tatrichterlichen Urteils bereits erledigt gewesen sein, käme deren Einbeziehung in eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht mehr in Betracht; vielmehr hätte der Tatrichter die Gewährung eines Härteausgleichs nach der sog. Vollstreckungslösung zu prüfen (BGH, Beschluss vom 20. Januar 2010 - 2 StR 403/09, BGHSt 55, 1).

2. Das weitergehende Rechtsmittel ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet.

Ergänzend bemerkt der Senat:

a) Die auf § 261 StPO gestützte Rüge, das Landgericht habe bei der Würdigung der Beweise den laut Protokoll gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesenen Vermerk über eine polizeiliche Vernehmung des verstorbenen Zeugen S. vom 8. März 1983 nicht erörtert, bleibt ohne Erfolg.

Zwar verpflichtet § 261 StPO den Tatrichter, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise erschöpfend zu würdigen und dem Urteil zu Grunde zu legen, sofern dem nicht ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 261 Rn. 6). Bleibt ein Beweismittel unerwähnt, ist hieraus aber nicht zu schließen, dass es übersehen worden ist, denn die Darstellung der Beweiswürdigung im Urteil dient nicht dazu, für alle Sachverhaltsfeststellungen einen Beleg zu erbringen oder mitzuteilen, welche Beweise in der Hauptverhandlung erhoben worden sind (Meyer-Goßner aaO § 267 Rn. 12 f. mwN). Wegen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur erschöpfenden Würdigung der Beweise lückenhaft und damit rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung deshalb nur dann, wenn das (etwa wie hier durch das Protokoll nachgewiesene) Ergebnis der Beweiserhebung eine andere Möglichkeit des Tathergangs nahe legt.

Nach diesen Maßstäben brauchte sich das Landgericht mit der Aussage des Zeugen S. nicht auseinanderzusetzen, denn sie deutet allenfalls entfernt auf die Möglichkeit hin, St. habe sich freiwillig auf sexuelle Kontakte zu dem ihr bis dahin fremden Angeklagten und unter den festgestellten äußeren Umständen eingelassen. Die Angaben des Zeugen, St. habe ihm gegenüber "ein übersteigertes sexuelles Verhalten gezeigt" und erkennen lassen, dass sie "bereits weitergehende Erfahrungen gemacht hatte", beruhen in erster Linie auf der persönlichen Bewertung einer sehr kurzen Beziehung, die er als ihr früherer Gitarrenlehrer mit ihr eingegangen war. Tragfähige Rückschlüsse auf das Verhalten von St. bei zufälligen Begegnungen mit Dritten, die das von der Mutter, der Zeugin D., und der Freundin, der Zeugin A., gezeichnete Persönlichkeitsbild erschüttern könnten, lassen sich daraus nicht ziehen.

b) Die Beweiswürdigung des Landgerichts trägt noch die Feststellung, der Angeklagte habe das Tatopfer jedenfalls auch getötet, um eine andere Straftat zu verdecken (§ 211 Abs. 2 StGB).

aa) Der Angeklagte und die damals 21-jährige St. hielten sich in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1981 auf einer von der Kreisstraße K 15 zwischen N. und Sch. abgehenden Feldzufahrt auf. Der Angeklagte entschloss sich, dort an St. gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Entweder veranlasste er sie durch Androhung körperlicher Gewalt, sich selbst zu entkleiden, oder er strangulierte sie bis zur Bewusstlosigkeit oder Widerstandsunfähigkeit, um ihr dann die Kleidung auszuziehen. Ob der Angeklagte danach tatsächlich sexuelle Handlungen an St. vornahm, hat das Landgericht nicht feststellen können. Aus ebenfalls nicht näher feststellbarem Anlass, aber ohne vorangegangene Provokation ihrerseits, fasste der Angeklagte schließlich den Entschluss, St. zu töten, und stach hierzu mit einem Messer von mindestens 8 cm Klingenlänge fortgesetzt auf ihren Oberkörper ein. Er handelte dabei "zumindest auch zur Verdeckung seines vorausgegangenen Verhaltens, welches zur Entkleidung des Opfers führte". Von Messerstichen des Angeklagten getroffen versuchte St., über einen an der Feldzufahrt entlang führenden Wassergraben zu entkommen, rutschte aber von der gegenüberliegenden Böschung in den Graben zurück, wo sie in gekrümmter Bauchlage liegen blieb und schließlich verstarb. Zwei der ihr vom Angeklagten zugefügten insgesamt 63 Stichverletzungen - ein Durchstich des Herzens und eine Durchtrennung der Brustschlagader - waren jede für sich tödlich. Nach dem Stich durch das Herz hätte sich St. noch zwei bis drei Minuten bewegen können, während die Durchtrennung der Brustschlagader mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sofortige Bewegungsunfähigkeit zur Folge hatte. Den die Brustschlagader durchtrennenden Stich führte der Angeklagte ebenso wie 43 weitere, teils noch postmortale Stiche gegen den Rücken des Opfers; das Bild der hierdurch entstandenen Verletzungen lässt darauf schließen, dass es sich dabei in einer verhältnismäßig ruhigen Bauchlage befand.

bb) Zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass die (alternativ) festgestellten, zur Entkleidung des Opfers führenden Tathandlungen des Angeklagten eine andere Straftat im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB darstellen. Zwar bewertet es dieses Geschehen rechtlich unzutreffend als (vollendete) sexuelle Nötigung nach § 178 StGB aF, denn sexuelle Handlungen des Angeklagten an St. konnte es gerade nicht feststellen. Jedoch hat sich der Angeklagte dadurch, dass er St. entweder durch körperliche Gewalt dazu zwang, ein Entkleiden zu dulden, oder sie durch entsprechende Drohungen veranlasste, sich selbst zu entkleiden, zumindest einer Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) schuldig gemacht. Dass er damit zugleich versucht hat, sein Opfer sexuell zu nötigen (§ 22 StGB), liegt nach dem festgestellten Geschehensablauf zwar nahe, kann indes offen bleiben.

cc) Zwar verhält sich das Landgericht bei der Würdigung der Beweise nicht ausdrücklich dazu, auf welcher tatsächlichen Grundlage es zu der Feststellung gelangt ist, der Angeklagte habe St. leitend auch in der Absicht getötet, diese Straftat zu verdecken. Hierin liegt indes kein durchgreifender Rechtsfehler, denn nach dem Gesamtzusammenhang des Urteils erscheinen andere die Tat bestimmende Beweggründe des Angeklagten nur als theoretische Möglichkeiten, die so weit entfernt liegen, dass sich deren Erörterung nicht aufgedrängt hat. Unangreifbar (oben a) stellt das Landgericht fest, dass St. zu sexuellen Handlungen nicht bereit war und sich nicht freiwillig entkleidet hat. Eine Tötung im Affekt schließt das Landgericht sachverständig beraten trotz der Vielzahl der Messerstiche aus; ein die Tat provozierendes Verhalten des Opfers hält es ersichtlich für persönlichkeitsfremd. Hinzu kommt, dass der Angeklagte St. im Verlauf des Tatgeschehens zunächst stranguliert hat; die überwiegende Zahl der Stiche fügte er ihr erst zu, als sie bei ihrem Versuch, zu entkommen, verletzungsbedingt in eine Bauchlage gekommen war.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 989

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 49

Bearbeiter: Ulf Buermeyer