HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2010
11. Jahrgang
PDF-Download

Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

950. BGH 1 StR 423/10 - Beschluss vom 13. September 2010 (LG Nürnberg-Fürth)

Strafbefreiender Rücktritt (Begriff des beendeten und des unbeendeten Versuchs); Heranwachsender (Gleichstellung mit einem Jugendlichen; Reifedefizite); Abfassung der Urteilsgründe.

§ 24 StGB; § 105 JGG; § 267 StPO

1. Ob ein Versuch beendet ist oder nicht, richtet sich nicht nach der Vorstellung des Täters über ein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel, sondern über den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs (Rücktrittshorizont). Auch bei Erreichung des außertatbestandsmäßigen Ziels kann ein unbeendeter Versuch vorliegen, so dass bloßes Aufgeben weiterer Tatausführung für Rücktritt genügte (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 ff).

2. Hat der Angeklagte eine mögliche tödliche Wirkung seines Stichs billigend in Kauf genommen, legt dies nahe, dass er – bei seiner Flucht unmittelbar nach dem Stich – (auch) den baldigen Tod des Geschädigten für möglich gehalten hat. Wenn er keine gegenteiligen Erwägungen angestellt hat, er sich also überhaupt keine Vorstellungen darüber gemacht hat, ob der Geschädigte sterben könne oder nicht, liegt jedenfalls deshalb beendeter Versuch vor.


Entscheidung

954. BGH 2 StR 118/10 - Beschluss vom 4. August 2010 (LG Köln)

Fahrlässige Körperverletzung (Pflichtwidrigkeit; eigenverantwortliche Selbstgefährdung); Notwehr (Erforderlichkeit; Gebotenheit: vorwerfbare, sozialethisch verwerfliche Tatprovokation; Abwehrprovokation; unerlaubtes Führen einer Waffe).

§ 222 StGB; § 32 StGB; § 212 StGB; § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen suchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind (BGHSt 26, 143, 145; BGH, Urteil vom 7. Februar 1991 - 4 StR 526/90).

2. Darüber hinaus vermag auch bereits ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht einzuschränken, wenn zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. BGH, NStZ 2006, 332, 333; BGHSt 42, 97, 100). Demgegenüber kann ein rechtlich gebotenes oder erlaubtes Tun nicht allein deshalb zu Einschränkungen der Notwehr führen, wenn der Täter wusste oder wissen konnte, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten (vgl. BGH NJW 2003, 1955, 1959).

3. Begleitet ein Vater seinen 16jährigen Sohn, der von einem älteren, als gewalttätig und leicht reizbar bekannten, von der Polizei als „Intensivtäter“ geführten jungen Mann nach mehreren vorherigen Bedrohungen zu einer Schlägerei „eingeladen“ worden war, ist dies nicht von vornherein sozialethisch zu missbilligen. Der Vater musste es nicht dem Zufall überlassen, ob und wann der Nebenkläger wieder auf seinen Sohn treffen würde, und durfte diesen – auch in aufgebrachtem Tonfall – zur Rede stellen. Hieran ändert die Begleitung durch weitere Jugendliche nichts, wenn diese bei der Konfrontation mit dem „Intensivtäter“ abseits standen. Auch das Beisichführen eines zur Tat verwendeten Butterflymessers führt zu nichts anderem, da der Angeklagte nicht verpflichtet war, dem „Intensivtäter“ aus dem Weg zu gehen oder diesem nur schutzlos zu begegnen.

4. Setzt der Angeklagte zur Angriffsabwehr eine Waffe ein, die er entgegen § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG unberechtigt mit sich führte, rechtfertigt dies keine andere Bewertung gemäß § 32 StGB. Auch wenn ein Angegriffener eine Waffe unberechtigt führt, ist ihm deren Einsatz nicht verwehrt, wenn ihm kein anderes zur Abwehr des Angriffs geeignetes Mittel zur Verfügung steht (vgl. BGH, NStZ 1986, 357 mwN). Durch Notwehr kann daher auch

das Führen eines Butterflymessers gerechtfertigt sein, soweit dies mit den Verletzungshandlungen unmittelbar zusammenfiel (vgl. BGH, StV 1991, 63, 64).

5. Auch ein Rückgriff auf das verbotene Führen des Butterflymessers zur Zurechnung des Verletzungserfolgs unter dem Gesichtspunkt fahrlässigen Handelns ist nicht zulässig. Es wäre ein Widerspruch, wenn die Rechtsordnung zum einen die Befugnis erteilte, das Notwehrrecht auszuüben, zum anderen aber gerade für diesen Fall die Bestrafung aufgrund eines Delikts androhte, dessen tatbestandliche Voraussetzungen mit der Ausübung dieser Befugnis erfüllt werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - anders in dem Fall, der der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zugrunde lag (NJW 2001, 1075 f. mit abl. Anm. Roxin JZ 2001, 667 f.) - für den Fahrlässigkeitserfolg nicht an eine vorwerfbare Provokation der Notwehrlage angeknüpft werden kann.


Entscheidung

933. BGH 5 StR 336/10 - Beschluss vom 14. September 2010 (LG Dresden)

Versuch (unmittelbares Ansetzen; Abgrenzung von Vorbereitungshandlungen); Skimming; Nachmachen von Zahlungskarten mit Garantiefunktion.

§ 22 StGB; § 152b StGB

1. Bei der Abgrenzung von Vorbereitungshandlungen zum strafbaren Versuch liegt ein unmittelbares Ansetzen nur bei solchen Handlungen vor, die nach der Tätervorstellung in ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen oder mit ihr in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschreitet, es eines weiteren Willensimpulses nicht mehr bedarf und er objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, so dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht.

2. Danach ist ein Versuch des gewerbs- und bandenmäßigen Nachmachens von Zahlungskarten mit Garantiefunktion erst dann gegeben, wenn die Täter vorsätzlich und in der tatbestandsmäßigen Absicht mit der Fälschungshandlung selbst beginnen, während Handlungen, die unmittelbar auf das Erlangen der zum Fälschen notwendigen Daten gerichtet sind, lediglich Vorbereitungshandlungen darstellen.


Entscheidung

980. BGH 4 StR 180/10 - Beschluss vom 22. Juli 2010 (LG Nürnberg-Fürth)

Voraussetzungen des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe (Heimtücke; Eifersucht; strafbefreiender Rücktritt (unbeendeter und beendeter Versuch).

§ 211 StGB; § 24 StGB

1. Beweggründe zu einem Tötungsverbrechen sind „niedrig“, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen; die Beurteilung dieser Frage hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu erfolgen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 35, 116, 127; BGH StV 2001, 571). Dabei ist zu bedenken, dass Gefühlsregungen wie Eifersucht, aber auch Rache, Wut und Hass nach ständiger Rechtsprechung nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht kommen, wenn sie ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen, was am ehesten der Fall ist, wenn diese Gefühlsregungen jeglichen nachvollziehbaren Grund entbehren (vgl. BGHR § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 22).

2. Für die Abgrenzung des beendeten vom unbeendeten Versuch kommt es nach ständiger Rechtsprechung darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. auch BGHSt 31, 170, 175; 33, 295, 299; GS 39, 221, 227) oder sich keine Gedanken darüber macht, ob sein bisheriges Verhalten ausreicht, um den Erfolg herbeizuführen (vgl. BGHSt 40, 304).

3. Hält er den Erfolgseintritt für möglich, so ist der Versuch beendet. In diesem Fall setzt ein strafbefreiender Rücktritt voraus, dass der Täter den Erfolgseintritt durch eigene Tätigkeit verhindert oder sich, wenn der Erfolg ohne sein Zutun ausbleibt, darum bemüht. Rechnet der Täter dagegen nach der letzten Ausführungshandlung (noch) nicht mit dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges, so ist der Versuch unbeendet, wenn die Vollendung aus Sicht des Täters noch möglich war. In diesem Fall genügt das bloße Aufgeben weiterer Tatausführung, um die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts zu erlangen. Dies gilt auch dann, wenn der Täter von weiteren Handlungen absieht, weil er sein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel erreicht hat.


Entscheidung

948. BGH 1 StR 351/10 - Beschluss vom 11. August 2010 (LG Mannheim)

Widersprüchliche Feststellungen zur Notwehrlage (Putativnotwehrlage; Erlaubnistatbestandsirrtum; Erforderlichkeit und Messereinsatz; Abwehrprovokation).

§ 16 StGB; § 32 StGB; § 34 StGB

1. Ein Irrtum des Täters über das Vorliegen eines Angriffs oder die Erforderlichkeit der Verteidigung ist ein Erlaubnistatbestandsirrtum, der eine Bestrafung wegen einer vorsätzlichen Tat (hier einer gefährlichen Körperverletzung) ausschließt (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; vgl. BGH NStZ 2002, 141).

2. Ob eine Verteidigungshandlung i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Grundsätzlich darf der Angegriffene das für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt (vgl. BGHSt 25, 229, 230; BGH NStZ 1996, 29, mwN). Demgemäß ist auch der Einsatz eines Messers nicht von vornherein unzulässig. In der Regel ist der Angegriffene dann aber gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen (BGHSt 26, 258; BGH NStZ 1996, 29).

3. Die Annahme, der Angeklagte habe dadurch, dass er sich dem Geschädigten bewaffnet in den Weg stellte, die Notwehrsituation mit verschuldet, ist in dieser Pauschalität unzulässig.


Entscheidung

955. BGH 2 StR 179/10 - Beschluss vom 1. September 2010 (LG Köln)

Beweiswürdigung beim Tötungsvorsatz (Darlegungsanforderungen auch bei Gewalthandlungen); minder schwerer Fall des Totschlages.

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 213 StGB; § 261 StPO

In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen der Schluss auf einen bedingten Tötungsvorsatz nahe liegt (vgl. BGH NStZ 2010, 511, 512); ein zwingender Schluss folgt daraus aber noch nicht. War der Täter zur Tatzeit durch Alkohol oder Medikamente erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt, dann bedarf es einer näheren Begründung im Urteil, wenn der Tatrichter gleichwohl seinen Tötungsvorsatz aus der Gefährlichkeit der Tathandlung herleiten will (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 141 f.).


Entscheidung

957. BGH 2 StR 213/10 - Beschluss vom 1. September 2010 (LG Aachen)

Totschlag (brutale Tatausführung und Persönlichkeitsstörung; verminderte Schuldfähigkeit).

§ 212 StGB; § 21 StGB; § 46 StGB

Das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung besagt zwar nicht, dass aus diesem Grund jede Mitberücksichtigung belastender Tatmodalitäten unzulässig wäre (vgl. Senat, BGHR StGB § 21 Strafzumessung 2). Tatmodalitäten, die weniger Ausdruck einer sich frei entfaltenden verbrecherischen Energie, sondern Anzeichen für die Stärke einer seelischen Beeinträchtigung sind, dürfen einem vermindert Schuldfähigen nicht uneingeschränkt angelastet werden (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 105, 106).


Entscheidung

974. BGH 2 StR 418/10 - Beschluss vom 1. September 2010 (LG Frankfurt am Main)

Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion (fehlerhafte Annahme einer Tat; Fortsetzungszusammenhang: Gesamtvorsatz, natürliche Handlungseinheit); Strafzumessung.

§ 52 StGB; § 46b StGB; § 152b StGB

Für die Annahme eines „Gesamtvorsatzes“ auf „möglichst häufige“ Begehung selbständiger Taten ist nach Aufgabe der Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung im Jahr 1994 (BGHSt 40, 138) kein Raum mehr.

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

952. BGH 2 StR 104/10 – Beschluss vom 14. Juli 2010 (LG Meiningen)

BGHSt; Beihilfe zur Entziehung Minderjähriger (Bereicherungsabsicht; Tatbegehung gegen Entgelt; tatbezogenes Merkmal; besonderes persönliches Merkmal; Tatbestandsverschiebung; Qualifikation).

§ 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB; § 28 StGB

1. Die Bereicherungsabsicht des § 235 Abs. 4 Nr. 2 Alt. 2 StGB ist ebenso wie die Tatbegehung gegen Entgelt nach § 235 Abs. 4 Nr. 2 Alt. 1 StGB kein besonderes persönliches Merkmal i.S.v. § 28 StGB. (BGHSt)

2. Die Strafe des Teilnehmers richtet sich grundsätzlich nach der für die Haupttat geltenden Strafandrohung. § 28 Abs. 2 StGB enthält Ausnahmen von diesem Grundsatz der akzessorischen Teilnehmerhaftung. Die Rechtsprechung folgt mit der noch h.L. der Auffassung, dass § 28 Abs. 2 StGB zu einer Tatbestandsverschiebung führt (BGHSt 6, 308, 311; 8, 205, 208, BGH StV 1994, 17; BGH StV 1995, 84). (Bearbeiter)

3. Die Rechtsprechung differenziert zwischen täterbezogenen Umständen, die als besondere persönliche Merkmale nach § 28 StGB behandelt werden und tatbezogenen Merkmalen, für die § 28 StGB nicht gilt. (Bearbeiter)

4. In Anlehnung an die reichsgerichtliche Rechtsprechung bejaht der Bundesgerichtshof die Täterbezogenheit eines Merkmals, wenn es Motive und Gesinnungen betrifft, die die Persönlichkeit des Täters kennzeichnen (BGHSt 22, 375, 378; 23, 39, 40). Dagegen handelt es sich um ein tatbezogenes Merkmal, wenn die „Verwerflichkeit der Tat als solcher“ erhöht wird (BGHSt 22, 375, 380) oder das Merkmal das äußere Bild der Tat prägt, indem eine besondere Gefährlichkeit des Täterverhaltens gekennzeichnet (BGHSt 8, 70, 72) oder die Ausführungsart des Delikts beschrieben wird (BGHSt 23, 103, 105; BGH NJW 1994, 271, 272). (Bearbeiter)


Entscheidung

979. BGH 4 StR 164/10 - Beschluss vom 15. Juli 2010 (LG Bochum)

Unterschlagung (keine Zueignung bei Absicht, den Eigentümer ärgern zu wollen); Urkundenunterdrückung (Nachteilszufügungsabsicht bei Strafvereitelung); Verwahrungsbruch (Verfahrensakten); versuchte Strafvereitelung; Untreue (vermögenswirksame Leistungen; Vermögensbetreuungspflicht; zivilrechtliche Nebenpflichten); Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt.

§ 246 StGB; § 274 StGB; § 133 StGB; § 258 StGB; § 22 StGB; § 266 StGB; § 266a Abs. 3 StGB

1. Eine Nachteilszufügungsabsicht im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann nicht durch die Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs begründet wird, da insoweit kein „anderer“ benachteiligt wird (BGHR StGB § 274 Nachteil 2). Es ist aber möglich, dass dem Anzeigeerstatter im Ermittlungsverfahren ein Nachteil zugefügt werden sollte. Der zu Benachteiligende braucht

auch nicht Eigentümer der Urkunde bzw. mit dem Beweisführungsberechtigten identisch zu sein.

2. Die zweite Alternative des § 133 Abs. 1 StGB erfasst Gegenstände, die dem Täter oder einem Dritten aufgrund dienstlicher Anordnung in Verwahrung gegeben worden sind. In dienstlicher Verwahrung befinden sich auch die dem Verteidiger nach § 147 StPO übergebenen Verfahrensakten.

3. Die Pflicht des Arbeitgebers, für seine Arbeitnehmer vermögenswirksame Leistungen zu entrichten, ist lediglich eine dem Arbeitsverhältnis entspringende Nebenpflicht und bildet nicht den wesentlichen Inhalt des Vertragsverhältnisses (BGHSt 6, 314, 318). Auch enthält die aus dem Arbeitsvertrag entspringende Pflicht zur ordnungsgemäßen Lohnzahlung nicht schon von sich aus die Verpflichtung, die Vermögensinteressen des Arbeitnehmers wahrzunehmen (BGH aaO).


Entscheidung

958. BGH 2 StR 236/10 - Beschluss vom 15. September 2010 (LG Wiesbaden)

(Besonders) schwere Brandstiftung (Räumlichkeit, in der sich Menschen zur Tatzeit aufzuhalten pflegen; Wohnung; einheitliches Gebäude; Mischgebäude).

§ 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der Tatbestand des § 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB auch dann erfüllt sein, wenn ein einheitliches zusammenhängendes Gebäude nur zu einem Teil Räumlichkeiten enthält, die zum zeitweisen Aufenthalt von Menschen dienen.

2. Ausschlaggebend für die „Einheitlichkeit“ des Gebäudes ist allein seine bauliche Beschaffenheit. Insoweit genügt es nicht, wenn eine Räumlichkeit „angebaut“ ist, unmittelbar angrenzt oder sich in räumlicher Nähe befindet (BGHSt 35, 283, 285; BGH NStZ 1991, 433). Erforderlich ist insbesondere, dass zwischen den verschiedenen Gebäudeteilen eine Verbindung besteht, beispielsweise durch ein gemeinsames Treppenhaus (BGHSt 34, 115, 120), einen gemeinsamen Flur oder ineinander übergehende Räume (BGHSt 35, 283, 286). Gegen ein einheitliches Gebäude kann das Vorhandensein einer Brandmauer, besonderer sonstiger Brandschutzvorrichtungen oder einer nur ausnahmsweise, unter Beseitigung besonderer Schutzvorrichtungen benutzbaren Verbindung sprechen (BGHSt 35, 283, 286).


Entscheidung

910. BGH 3 StR 301/10 - Beschluss vom 19. August 2010 (LG Augsburg)

Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (öffentliches Verwenden); erheblich verminderte Schuldfähigkeit (Einsichtsfähigkeit; tatsächliche Einsicht in das Unrecht der Tat).

§ 86a StGB

Für das öffentliche Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Sinne von § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB kommt es nicht entscheidend auf die Öffentlichkeit des gewählten Ortes an, sondern darauf, ob die Art der Verwendung die Wahrnehmbarkeit für einen größeren, durch persönliche Beziehungen nicht zusammenhängenden Personenkreis begründet.


Entscheidung

988. BGH 4 StR 442/10 - Beschluss vom 28. September 2010 (LG Magdeburg)

Gefährliche Körperverletzung (lebensgefährdende Behandlung); Strafantrag (Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses in der Revision).

§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 223 StGB; § 230 StGB

Zwar kann festes Würgen am Hals geeignet sein, eine Lebensgefährdung herbeizuführen; es reicht hierfür jedoch nicht jeder Griff an den Hals aus, der zu würgemalähnlichen Druckmerkmalen oder Hämatomen führt (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 44 m.w.N.). Von maßgeblicher Bedeutung sind vielmehr Dauer und Stärke der Einwirkung, die zwar nicht dazu führen muss, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät, aber abstrakt geeignet sein muss, das Leben des Opfers zu gefährden (st. Rspr.).


Entscheidung

890. BGH 3 StR 210/10 - Urteil vom 5. August 2010 (LG Wuppertal)

Erpresserischer Menschenraub; Geiselnahme (Ernsthaftigkeit der Drohung; Erheblichkeit des in Aussicht gestellten Übels; error in persona; Mittäterschaft (Zurechnung; hinreichend konkrete Vorstellung von Handlungen eines Mittäters; Vorhersehbarkeit; Mittäterexzess).

§ 239a StGB; § 239b StGB; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 StGB

1. Den Tatbestand der Geiselnahme erfüllt, wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt und dabei beabsichtigt, sein Opfer während der Dauer der Bemächtigungslage durch die Drohung mit dem Tode, einer schweren Körperverletzung oder mit Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen (§ 239b Abs. 1 Alt. 1 StGB).

2. Dasselbe gilt, wenn der Täter das Opfer zunächst ohne Nötigungsabsicht in seine Gewalt bringt und anschließend den von ihm geschaffenen Zustand zur Nötigung mittels einer qualifizierten Drohung ausnutzt (§ 239b Abs. 1 Alt. 2 StGB).

3. In beiden Fällen genügt es für den Vorsatz, dass der Täter zumindest damit rechnet und es billigt, die beabsichtigte oder geäußerte Drohung könne von der bedrohten Person für ernst gehalten werden und in ihr Furcht vor ihrer Verwirklichung hervorrufen. Nicht notwendig ist dagegen, dass der Täter den Betroffenen von der Ernsthaftigkeit seiner Drohung überzeugen will. Denn schon Zweifel daran, ob die Drohung wahr gemacht wird, können die Willensfreiheit des Geschädigten beeinträchtigen.

4. Bei der Prüfung, ob Handlungen eines Mittäters dem anderen aufgrund des gemeinsamen Tatplanes zugerechnet werden können oder ein Mittäterexzess vorliegt, ist zu beachten, dass die Zurechnung keine ins Einzelne gehende Vorstellung von den Handlungen der anderen Tatbeteiligten erfordert. Regelmäßig werden die Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den

Umständen des Falles gerechnet werden musste, vom Willen des Mittäters umfasst sein, auch wenn er sie sich nicht besonders vorgestellt hat.


Entscheidung

930. BGH 5 StR 324/10 - Beschluss vom 1. September 2010 (LG Neuruppin)

Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (lex specialis; Nötigung); Anrechnung erlittener Untersuchungshaft (Bestimmung des Anrechnungsmaßstabs); schwere räuberische Erpressung (Urteilsformel).

§ 113 StGB; § 240 StGB; § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB; § 250 StGB; § 255 StGB; § 260 Abs. 4 StPO

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Tatbestand des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) gegenüber der zugleich verwirklichten Nötigung (§ 240 StGB) lex specialis (vgl. BGHSt 48, 233, 238 f. m.w.N.).


Entscheidung

981. BGH 4 StR 342/10 - Beschluss vom 7. September 2010 (LG Stralsund)

Beischlaf zwischen Verwandten (Oralverkehr).

§ 173 Abs. 1 StGB

Der Tatbestand des § 173 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter mit einem leiblichen Abkömmling den „Beischlaf“ vollzieht; beischlafähnliche Handlungen werden von § 173 StGB nicht erfasst.