HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 890
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 210/10, Urteil v. 05.08.2010, HRRS 2010 Nr. 890
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 18. Dezember 2009, soweit es die Angeklagten R. und M. betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, mit Ausnahme ihrer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
2. Die Revision des Angeklagten M. gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten R. wegen gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Nötigung sowie wegen Diebstahls mit Waffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen den Angeklagten M. hat es wegen gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit Nötigung sowie wegen Diebstahls mit Waffen eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verhängt.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten, auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision gegen den jeweiligen Schuldspruch. Sie beanstandet namentlich, dass das Landgericht die Angeklagten nicht wegen Geiselnahme (§ 239b StGB) verurteilt hat. Der Angeklagte M. rügt mit seiner Revision ebenfalls die Verletzung sachlichen Rechts und wendet sich insbesondere gegen die Beweiswürdigung und die Verurteilung wegen Diebstahls mit Waffen.
Revision der Staatsanwaltschaft
Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat überwiegend Erfolg.
Nach den getroffenen Feststellungen beschlossen die Angeklagten, der bereits rechtskräftig verurteilte frühere Mitangeklagte Ma. und der gesondert Verfolgte W., den Zeugen S., den sie der Unterschlagung von LSD verdächtigten, durch eine "erhebliche Drohkulisse" einzuschüchtern. Dabei war ihnen bewusst, dass es bei dem zu diesem Zweck geplanten fingierten Ankauf von LSD bei S. zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommen könnte. Sie lockten den Zeugen S., der von den Zeugen We. und Sch. begleitet wurde, unter einem Vorwand zum Hauptbahnhof in Wu. Dort gingen die Angeklagten und ihre Mittäter sofort mit Gewalt gegen S. und seine zwei Begleiter vor. Der Angeklagte M. schlug Sch. ohne Vorwarnung zweimal mit der Faust ins Gesicht. Der Angeklagte R. hielt We. einen Schlagstock vor den Hals, während ihm W. mehrere Schläge ins Gesicht versetzte. Die Zeugen S. und Sch. konnten fliehen. Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht die Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.
Die Angeklagten, der frühere Mitangeklagte Ma. und der gesondert Verfolgte W. beschlossen nunmehr, sich des Zeugen S. zu bemächtigen, um ihn weiter einzuschüchtern und zur Herausgabe von Geld oder Drogen zu veranlassen. Sie zerrten und stießen den Geschädigten We., den sie für den Zeugen S. hielten, auf die Rückbank eines Kraftfahrzeuges. Nachdem die in dem Pkw mitfahrenden Angeklagten und W. die Personenverwechslung bemerkt hatten, verlangten sie von We., sie zu S. zu bringen oder ein Treffen mit ihm zu arrangieren. Während der Fahrt zur Wohnung des S. bedrohten sie We. u. a. damit, man werde mit ihm "in den Wald fahren" und ihm "einen Finger abschneiden", wenn er nicht kooperiere. Der gesondert Verfolgte W. äußerte, er werde We. "abstechen", denn er sei psychisch krank. Dabei fuchtelte er mit einem Messer herum. Der Angeklagte M., der zwischen beiden saß, forderte ihn auf, das Messer wegzustecken. Während der Fahrt schlugen der Angeklagte M. und der gesondert Verfolgte W. dem Tatopfer ins Gesicht, sodass es blutete. Auf Aufforderung des W. gab We. sein Mobiltelefon und seine Geldbörse samt Personalausweis heraus. Diese Gegenstände sollten dem Geschädigten bei dessen Freilassung wieder ausgehändigt werden.
Entsprechend einer Anweisung der Angeklagten und ihrer Mittäter klingelte der Geschädigte We. aus Angst vor weiterer körperlicher Gewalt an der Wohnungstür des abwesenden Zeugen S. und veranlasste dessen Lebensgefährtin zu öffnen. In der Wohnung drohten der Angeklagten M. und W. damit, S. umzubringen, wenn er nicht Drogen oder Geld herausgebe. Die Lebensgefährtin des Zeugen S. konnte indes zum möglichen Aufbewahrungsort von Drogen oder Geld keine Angaben machen. Der Geschädigte We. erhielt vom Angeklagten M. in der Wohnung nochmals eine kräftige Ohrfeige.
Anschließend zwangen die Angeklagten, der rechtskräftig Verurteilte Ma. und der gesondert Verfolgte W. den Zeugen We., sie zur Wohnung des Sch. zu führen. Auch während dieser Fahrt wurde We. geschlagen und dahingehend bedroht, man werde ihn oder seine Freundin "auf den Strich schicken". Nachdem der Angeklagte M. die Tür zur Wohnung des Sch. eingetreten hatte, entwendeten die Angeklagten und ihre Mittäter mehrere diesem gehörende Gegenstände, u. a. nahm der Angeklagte M. ein Klappmesser mit. Während der gesamten Tat führte der Angeklagte R. einen Schlagstock und ein Klappmesser bei sich.
Das Landgericht hat auf der Grundlage dieser Feststellungen eine Geiselnahme (§ 239b StGB) verneint und hierzu im Wesentlichen ausgeführt: Eine Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung sei nicht feststellbar gewesen. Das dem Zeugen We. angekündigte Übel sei im Laufe der Ereignisse mehrfach ausgetauscht worden. Lediglich die Androhungen "in den Wald fahren" oder den Zeugen "abzustechen" hätten im Sinne einer Bedrohung mit dem Tod oder mit einer schweren Körperverletzung verstanden werden können. Indes verlange der Tatbestand der Geiselnahme - wie sich schon aus der hohen Strafandrohung ergebe - eine ernsthafte und konkrete Drohung. Eine solche lasse sich aufgrund der Wechselhaftigkeit der Äußerungen gerade nicht erkennen. Zudem habe nicht festgestellt werden können, dass die vom gesondert Verfolgten W. ausgesprochene Drohung, den Geschädigten We. "abzustechen", dem Tatplan der Angeklagten entsprochen habe.
Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Als durchgreifender Rechtsfehler erweist es sich bereits, dass das Landgericht nicht erkennbar geprüft hat, ob die Angeklagten und ihre Mittäter sich des erpresserischen Menschenraubes gemäß § 239a Abs. 1 1. Alt. StGB schuldig gemacht haben. Denn nach den Feststellungen bemächtigten sie sich des Zeugen We., den sie zunächst mit dem Zeugen S. verwechselt hatten, "um ihn zumindest weiter einzuschüchtern und ihn zur Herausgabe von Geld oder Drogen aufzufordern". Damit sind sowohl der objektive Tatbestand des erpresserischen Menschenraubes als auch die Absicht festgestellt, die Sorge des Opfers um sein Wohl zu einer Erpressung während der Bemächtigungslage auszunutzen (vgl. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 239a Rn. 5 f.). Ob die Angeklagten und ihre Mittäter dabei davon ausgingen, sich zu Unrecht zu bereichern, hängt von ihren Vorstellungen über das Bestehen einer materiellrechtlich durchsetzbaren Forderung ab (Schönke/Schröder - Eser, StGB, 28. Aufl., § 253 Rn. 19; Fischer, aaO § 253 Rn. 18 ff., § 263 Rn. 190 ff.) Dass sie sich anstatt des Zeugen S. des Zeugen We. bemächtigten, ist nach den Grundsätzen des "error in persona" unbeachtlich (Schönke/Schröder - Cramer/Sternberg-Lieben, aaO § 15 Rn. 59; Fischer, aaO § 16 Rn. 5).
2. Mit Recht beanstandet die Beschwerdeführerin zudem, dass das Landgericht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Geiselnahme nicht rechtsfehlerfrei verneint hat.
a) Den Tatbestand der Geiselnahme erfüllt, wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt und dabei beabsichtigt, sein Opfer während der Dauer der Bemächtigungslage (BGH, Urteil vom 10. Juni 2007 - 1 StR 157/07, NStZ-RR 2007, 243; BGH, Beschluss vom 14. Mai 1996 - 4 StR 174/96, StV 1997, 302; Fischer, aaO § 239b Rn. 6) durch die Drohung mit dem Tode, einer schweren Körperverletzung oder mit Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen (§ 239b Abs. 1 1. Alt. StGB) Dasselbe gilt, wenn der Täter das Opfer zunächst ohne Nötigungsabsicht in seine Gewalt bringt und anschließend den von ihm geschaffenen Zustand zur Nötigung mittels einer qualifizierten Drohung ausnutzt (§ 239b Abs. 1 2. Alt. StGB). In beiden Fällen genügt es für den Vorsatz, dass der Täter weiß oder zumindest damit rechnet und es billigt, die beabsichtigte (Alt. 1.) oder geäußerte (Alt. 2.) Drohung könne von der bedrohten Person für ernst gehalten werden und in ihr Furcht vor ihrer Verwirklichung hervorrufen. Nicht notwendig für die Erfüllung des Tatbestandes ist es dagegen, dass der Täter den Betroffenen von der Ernsthaftigkeit seiner Drohung überzeugen will. Denn schon Zweifel daran, ob die Drohung wahr gemacht wird, können die Willensfreiheit des Geschädigten beeinträchtigen. Unerheblich ist auch, ob das Opfer die geäußerte Drohung (Alt. 2.) tatsächlich als Zwang empfindet und der Täter entschlossen ist, sie in die Tat umzusetzen (BGH, Urteil vom 16. März 1976 - 5 StR 72/76, BGHSt 26, 309, 310; BGH, Urteil vom 21. Mai 1985 - 1 StR 175/85, NStZ 1985, 455).
b) Für die hier zu beurteilende Fallgestaltung bedeutet dies: Die Angeklagten und ihre Mittäter hatten den Geschädigten entführt und sich damit seiner bemächtigt. Während der Bemächtigungslage drohte der gesondert Verfolgte W. ausdrücklich, den Zeugen We. abzustechen, um ihn zur Kooperation zu nötigen, und verstärkte diese konkrete Todesdrohung dadurch, dass er mit einem Messer herumfuchtelte. Diese qualifizierte Drohung geschah unmittelbar nach der Anwendung erheblicher körperlicher Gewalt gegen das Tatopfer, das geschlagen und mit einem Schlagstock bedroht worden war. Zwar haben die Angeklagten und der gesondert Verfolgte W. auch nicht qualifizierte Drohungen ausgesprochen. Dies nimmt jedoch bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung der Todesdrohung nicht ihre Eignung, im Zeugen We. Furcht vor ihrer Ernsthaftigkeit und möglichen Verwirklichung hervorzurufen. Die Angeklagten distanzierten sich in der Folgezeit von der Todesdrohung nicht und beteiligten sich aktiv an der weiteren Tatausführung. Die Aufforderung des Angeklagten M. an W., das Messer wegzustecken, kann auch als Aufforderung verstanden werden, das Messer nicht sofort einzusetzen. Hinzu kommt, dass der Angeklagte M. und W. im weiteren Verlauf der Tatbegehung noch Todesdrohungen zum Nachteil des S. aussprachen, was die Furcht des Zeugen We. vor der Umsetzung der zuvor ihm gegenüber ausgesprochenen Todesdrohung verstärkt haben kann. Unter diesen Umständen liegt es nicht fern, dass beide Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahmen, der Geschädigte We. werde auch aus Furcht vor der ausgesprochenen Todesdrohung gegen seinen Willen ihren Anweisungen weiter Folge leisten. Mit der Vorstellung der Angeklagten von der Wirkung der Todesdrohung auf die Willensentschließung und Willensbetätigung des Tatopfers befassen sich die Urteilsgründe indes nicht.
Auch der vom Landgericht mit einer pauschalen Begründung bejahte Mittäterexzess des gesondert Verfolgten W. hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar kann einem Mittäter das Handeln eines anderen Mittäters, das über das gemeinsam Gewollte hinausgeht, nicht zugerechnet werden (BGH, Urteil vom 25. Juli 1989 - 1 StR 479/88, BGHSt 36, 231, 234; Fischer, aaO § 25 Rn. 20). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Zurechnung keine ins Einzelne gehende Vorstellung von den Handlungen des anderen Tatbeteiligten erfordert. Regelmäßig werden die Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden musste, vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sie sich nicht besonders vorgestellt hat (BGH, Urteil vom 1. September 1999 - 2 StR 94/99, NStZ 2000, 29 f.; BGH, Urteil vom 15. September 2004 - 2 StR 242/04, NStZ 2005, 261 f.). Dasselbe gilt, wenn ihm die Handlungsweise des Mittäters gleichgültig ist (BGH, Urteil vom 27. Mai 1998 - 3 StR 66/98, NStZ 1998, 511 f.; BGH, Urteil vom 6. Dezember 1972 - 2 StR 256/72, NJW 1973, 377). Beide Angeklagten wirkten nach der Todesdrohung, an der weiteren Tatbegehung - bei der dem Opfer weitere Handlungen abgenötigt wurden - mit, ohne sich von dieser zu distanzieren. Hinzu kommt beim Angeklagten R., dass er bei der Tatbegehung einen Schlagstock einsetzte und ein Messer bei sich führte, was ein Indiz dafür sein kann, dass er mit der Todesdrohung des Mittäters W. einverstanden oder diese ihm zumindest gleichgültig war. Auf der Grundlage der Feststellungen liegt die Annahme eines Mittäterexzesses daher eher fern; jedenfalls hätte seine Bejahung näherer Begründung bedurft. Im Übrigen drängt sich das Vorliegen zumindest sukzessiver Mittäterschaft auf.
Die Sache bedarf daher zu diesem Tatkomplex neuer Verhandlung und Entscheidung. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass ein erpresserischer Menschenraub oder eine Geiselnahme mit dem Diebstahl mit Waffen nur dann in Tateinheit steht, wenn eine natürliche Handlungseinheit vorliegt. Sollte der Diebstahl mit Waffen - was nahe liegt - nur bei Gelegenheit der Bemächtigungslage ohne inneren Zusammenhang mit ihr geschehen sein, wäre von Tatmehrheit auszugehen.
Soweit sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft - ohne nähere Begründung - gegen die Verurteilung der Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (Ziff. II.2. der Urteilsfeststellungen) richtet, ist es dagegen offensichtlich unbegründet. Diese Tat geschah, bevor sich die Angeklagten und ihre Mittäter entschlossen, den Zeugen S. zu entführen und sich in Ausführung ihres Tatplans des Zeugen We. bemächtigten. Der Senat kann ausschließen, dass die insoweit verhängte Einzelstrafe durch den Schuldspruch in dem Tatkomplex, über den neu zu verhandeln und zu entscheiden ist, beeinflusst worden ist.
Revision des Angeklagten M.
Das Rechtsmittel des Angeklagten M. ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 890
Bearbeiter: Ulf Buermeyer