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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2010
11. Jahrgang
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1. Ein Verstoß gegen § 257c StPO kann schon dann nicht geltend gemacht werden, wenn keine formelle Verständigung nach dieser Vorschrift stattgefunden hat. Eine Umgehung der formellen gesetzlichen Anforderungen des § 257c StPO durch informelle Absprachen, deren Vorliegen hier möglich, aber im Hinblick auf § 202a StPO nicht bewiesen ist, kann nicht zum Eintritt der Bindungswirkung gemäß § 257c Abs. 3 S. 4, Abs. 4 StPO führen.
2. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt bei informellen Absprachen nur vor, wenn sich das erkennende Gericht in einer Weise unklar oder irreführend verhält, welche den Angeklagten über Bedeutung und Folgen seines eigenen Prozessverhaltens im unklaren ließ oder zu letztlich nachteiligem Verhalten veranlasste. Das würde jedenfalls voraussetzen, dass der Vorwurf bewiesen wäre, das Gericht habe sich stets so verhalten, als fühle es sich an eine zuvor geschlossene informelle Vereinbarung gebunden und als könne auch der Angeklagte hierauf vertrauen.
3. Es kann dahinstehen, ob ein Verfahrensbeteiligter, der nach eigener Kenntnis an einer gesetzwidrigen informellen Absprache – gegen eine wissentlich unzutreffende ausdrückliche Protokollierung gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 und 3 StPO – teilgenommen hat, das Urteil ohne weiteres dennoch mit der Verfahrensrüge dieses Verstoßes anfechten kann.
4. Informelle Absprachen im Zwischenverfahren begründen keine endgültige Bindungswirkung, sondern veranlassen – soll eine formelle Verständigung nicht getroffen werden – nur zu klarstellenden Maßnahmen des erkennenden Gerichts.
1. Eine heimliche Aufnahme des gesprochenen Wortes, mit der der Aufzeichnende einen sexuellen Missbrauch zu seinen Lasten belegen will, ist nicht wegen eines Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG stets unverwertbar.
2. Einzelfall einer unzureichenden Beweiswürdigung bzw. eines unzureichenden Tatnachweises durch die Auswertung einer heimlich aufgezeichneten Gesprächsaufnahme.
Der Senat lässt offen, ob an der Rechtsprechung festzuhalten ist, dass einem Antrag, mit dem zum Nachweis einer bestimmten Beweistatsache ein konkretes Beweismittel bezeichnet wird, dennoch die Eigenschaft eines Beweisantrags fehlt, wenn es sich bei der Beweistatsache um eine ohne jede tatsächliche und argumentative Grundlage aufs Geratewohl, ins Blaue hinein aufgestellte Behauptung handelt.
Der Begriff der Tätigkeit im Sinne des § 22 Nr. 4 StPO ist weit auszulegen, um dem Sinn und Zweck der Vorschrift, die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens dadurch zu wahren, dass bereits der Anschein eines Verdachts der Parteilichkeit eines Richters vermieden wird, gerecht zu werden. Eine Tätigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung
jedes amtliche Handeln in der Sache, das geeignet ist, den Sachverhalt zu erforschen oder den Gang des Verfahrens zu beeinflussen (vgl. BGH NStZ 1982, 78 und BGH wistra 2006, 310).
1. Soweit die Ermittlung der Tatsachen besonderer Sachkunde bedarf, über die das Gericht nicht verfügt, oder soweit die Erfahrungssätze, aufgrund derer die festgestellten Tatsachen zu bewerten sind, außerhalb der Sachkunde des Gerichts liegen, hat es sich diese durch einen Sachverständigen vermitteln zu lassen.
2. Gemäß § 261 StPO entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Gericht; es obliegt allein ihm, die für den Urteilsspruch relevanten Tatsachen und Erfahrungssätze festzustellen, in ihrer Beweisbedeutung zu bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung zu bilden. Das Gericht verfehlt daher die ihm nach § 261 StPO obliegende Aufgabe, wenn es Feststellungen und Beurteilungen eines Sachverständigen ungeprüft und ohne eigene Bewertung des Beweisergebnisses übernimmt.
3. Ob der Täter bestimmte persönliche Merkmale im Sinne eines „Tätertypus“ aufweisen müsse, hat ausschließlich das Gericht auf der Grundlage der Bewertung der für die Beurteilung dieser Fragen maßgeblichen Fakten und Erfahrungssätze zu entscheiden. Zu deren Ermittlung hat es sich gegebenenfalls sachverständiger Hilfe zu bedienen; deren Bewertung kann ihm jedoch nicht durch eine „Täteranalyse“ abgenommen werden, die lediglich das Ergebnis der eigenständigen Beurteilung des Ermittlungsergebnisses durch die Polizei vermittelt.
Einer Rüge des Verstoßes gegen § 257c Abs. 5 StPO mangelt es am Beruhen, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall keine Gründe erkennbar sind, die den Angeklagten auch nur im Entferntesten dazu verlasst haben könnten, auf eine Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO die schließlich getroffene und ihm günstige Verständigung abzulehnen.
1. Entscheidet das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlusswege, so kann ein Ablehnungsgesuch in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO nur so lange statthaft vorgebracht werden, bis die Entscheidung ergangen ist (BGH NStZ 2007, 416). Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn die Ablehnung mit einem Antrag nach § 356a StPO verbunden wird, der sich deswegen als unbegründet erweist, weil die gerügte Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG nicht vorliegt, so dass insoweit nicht mehr in eine erneute Sachprüfung einzutreten ist.
2. § 356a StPO verfolgt allein den Zweck, dem Revisionsgericht, das in der Sache entschieden hat, Gelegenheit zu geben, im Falle des Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör diesem Mangel durch erneute Sachprüfung selbst abzuhelfen, um hierdurch ein Verfassungsbeschwerdeverfahren zu vermeiden. Dieser Rechtsbehelf dient hingegen nicht dazu, einem unzulässigen Ablehnungsgesuch durch die unzutreffende Behauptung einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG doch noch Geltung zu verschaffen (BGH aaO).
1. Wird ein Zeuge in einem späteren Abschnitt der Hauptverhandlung nochmals vernommen, so bedarf es einer neuen Entscheidung über die Vereidigung.
2. Jede Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen bezieht sich grundsätzlich auf alle bis dahin erstatteten Aussagen. Denn der Tatrichter kann frühestens nach dem Abschluss der gesamten Aussagen alle diejenigen Umstände überblicken, die für die Ausübung seines Ermessens von Bedeutung sein können; dabei bindet ihn seine frühere Entscheidung über die Vereidigung nicht.
3. Eine unterschiedliche Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen kommt - auch bei einer wiederholten Vernehmung - nur für Teile seiner Aussagen in Betracht, die verschiedene Taten betreffen. Selbst dabei ist aber zu beachten, dass eine Teilvereidigung dann nicht statthaft ist, wenn die Taten in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen, insbesondere ein nicht oder nur schwer trennbares Gesamtgeschehen bilden. Ebenso kann ein Eid weder auf einzelne Bekundungen noch auf zeitlich getrennte Abschnitte eines Tatsachenkomplexes beschränkt werden.
4. Verzichtet der Tatrichter nach der letzten Vernehmung eines Zeugen auf dessen Vereidigung, so sind die Angaben des Zeugen grundsätzlich insgesamt als uneidlich anzusehen, auch wenn er früher vereidigt worden war. Anderes kann nur gelten, soweit hinsichtlich früher gemachter Angaben eine Teilvereidigung aufgrund hinreichender inhaltlicher Trennbarkeit überhaupt in Betracht käme und der Zeuge insoweit auch tatsächlich vereidigt wurde.
1. Ein Beschluss, der die Ausschließung der Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen anordnet, gilt grundsätzlich bis zur Beendigung des Verfahrens und deckt auch den Öffentlichkeitsausschluss, wenn eine Vernehmung unterbrochen und an einem anderen Verhandlungstag fortgesetzt wird.
2. Wird ein Zeuge jedoch im Anschluss an seine (erste) Vernehmung im Einvernehmen sämtlicher Verfahrensbeteiligter entlassen, so ist seine Vernehmung abgeschlossen; damit endet zugleich die Reichweite des Beschlusses über den Ausschluss der Öffentlichkeit für die Vernehmung des Zeugen. Jede weitere Vernehmung des Zeugen in nichtöffentlicher Sitzung erfordert daher einen neuen Gerichtsbeschluss gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG.
3. Ein neuerlicher Beschluss kann allein dann entbehrlich sein, wenn dem Protokoll zu entnehmen ist, dass die Entlassung des Zeugen sofort zurückgenommen wurde und die für den Ausschließungsbeschluss maßgebliche Interessenlage fortbestand, so dass sich die zusätzliche Anhörung zusammen mit der vorausgegangenen – ungeachtet der zwischenzeitlichen Entlassung des Zeugen - als eine einheitliche Vernehmung darstellt.
1. Der Berichterstatter hat in einem Verfahren vor dem BGH die Aufgabe, zu Beginn der Revisionshauptverhandlung die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens zusammenzufassen (§ 351 Abs. 1 StPO). Insoweit ist es zulässig und für den Gang der Hauptverhandlung förderlich, wenn der Berichterstatter in seinem Vortrag auf die Punkte besonders hinweist, die im Rahmen der Plädoyers von den Verfahrensbeteiligten erörtert werden sollten. Kennen alle Richter das angefochtene Urteil und das Revisionsvorbringen schon aus den Akten, kann sich der Vortrag des Berichterstatters auf eine gezielte Wiedergabe beschränken. Aus der Erfüllung dieser gesetzlich übertragenen Aufgabe kann ein vernünftiger, zumal anwaltlich beratener Angeklagter die Besorgnis der Befangenheit nicht herleiten. Anderes ergibt sich auch nicht aus einer „selektiven Benennung von Indizien“. Anders als für die Beweiswürdigung im tatgerichtlichen Urteil besteht - wie dargelegt - nicht die Erforderlichkeit, dass im Bericht auf alle tragenden Aspekte der angefochtenen Entscheidung eingegangen wird. Sollte ein Verfahrensbeteiligter aus seiner Sicht wesentliche Punkte als zu Unrecht nicht angesprochen einstufen, hat er Gelegenheit, hierzu im Rahmen seines Plädoyers Stellung zu nehmen.
2. Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters ist gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der Richter ihm gegenüber eine parteiliche und voreingenommene innere Haltung einnimmt. Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf den Standpunkt eines „vernünftigen Angeklagten“ an.
1. Zwar kann das Gericht, wenn die Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte stattfindet, einem Angeklagten und ggf. auch seinem Verteidiger auf Antrag gestatten, sich während einzelner Verhandlungsteile zu entfernen, wenn er von diesen nicht betroffen ist. Jedoch wird in diesem Falle bereits dann rechtsfehlerhaft in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt und der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO begründet, wenn die in dem Beschluss über die Befreiung festgelegte inhaltliche Begrenzung des Verhandlungsgegenstandes nicht eingehalten wird.
2. Nicht betroffen ist ein Angeklagter von einem Verhandlungsteil nur dann, wenn ausgeschlossen werden kann, dass die während seiner Abwesenheit behandelten Umstände auch nur mittelbar die gegen ihn erhobenen Vorwürfe berühren.
3. Dem Senat erscheint es – nicht tragend – ausgeschlossen, von § 231c StPO im Rahmen eines Strafverfahrens Gebrauch zu machen, das sich gegen mehrere Angeklagte wegen bandenmäßiger Begehung von Straftaten richtet.
1. Urteilt anstelle des Jugendgerichts ein Erwachsenengericht, liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 4 StPO vor.
2. Eine dem § 6a StPO entsprechende Vorschrift sieht das Gesetz für das Verhältnis von Erwachsenen- und Jugendgericht nicht vor. Er ist nicht analog anzuwenden.
Aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit ist das Revisionsgericht nicht gezwungen, auch bei solchen Rechtsfehlern einzugreifen, die den Angeklagten als alleinigen
Revisionsführer nicht beschweren. Die Berechtigung zu einem Eingriff ist dadurch nicht berührt.
1. Eine unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache ist für die Entscheidung nur dann ohne Bedeutung, wenn entweder ein Zusammenhang zwischen ihr und dem Gegenstand der Urteilsfindung nicht besteht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Falle ihres Erwiesenseins nicht geeignet ist, die Entscheidung irgendwie zu beeinflussen.
2. Zwar ist es dem Tatrichter grundsätzlich nicht verwehrt, Indiztatsachen als für die Entscheidung bedeutungslos zu betrachten, wenn er einen möglichen Schluss, den der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Er muss sich dann aber an seiner Annahme tatsächlicher Bedeutungslosigkeit festhalten lassen und darf sich im Urteil nicht in Widerspruch zu der Ablehnungsbegründung setzen.
Die Unglaubwürdigkeit eines zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Zeugen darf nicht daraus hergeleitet werden kann, dass dieser im Ermittlungsverfahren geschwiegen und erst in der Hauptverhandlung seine entlastenden Angaben gemacht hat. Denn selbst die Verweigerung des Zeugnisses darf nicht zum Nachteil des Angeklagten gewertet werden. Würde die Tatsache, dass ein Zeugnisverweigerungsberechtigter von sich aus nichts zur Aufklärung beigetragen hat, geprüft und gewertet, so könnte er von seinem Schweigerecht nicht mehr unbefangen Gebrauch machen, weil er befürchten müsste, dass daraus später nachteilige Schlüsse zu Lasten des Angeklagten gezogen würden.
Entscheidend für den Beginn der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag im Sinne von § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO ist der Zeitpunkt der Kenntnisnahme von der Fristversäumung durch den Angeklagten. Jedenfalls in den Fällen, in denen die Wahrung der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag nicht offensichtlich ist, gehört zur formgerechten Anbringung des Wiedereinsetzungsantrags auch, dass der Antragsteller mitteilt, wann das Hindernis entfallen ist (vgl. BGH NStZ 2006, 54 f.). Dies gilt selbst dann, wenn der Verteidiger ein eigenes Verschulden geltend macht, das dem Angeklagten nicht zuzurechnen wäre.