HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2010
11. Jahrgang
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Schrifttum

Jens Dallmeyer : Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2. Aufl., 192 Seiten, 9,90 €, Books on Demand 2008.

I. Dieses Buch ist in mehrfacher Hinsicht besonders. Erstens phänomenologisch, denn dass eine Dissertation in zweiter Auflage erscheint, ist wahrlich selten. Zweitens inhaltlich, denn analytisch kraftvoller kann man schwerlich darlegen, wie sehr die herkömmliche Beweisverbotsdogmatik unter Gesetzlosigkeit leidet und welche Schäden die gängige Abwägungspraxis und der mit ihr verbundene Einzelfalldezisionismus auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege anrichten. Drittens sprachlich, denn die Arbeit besticht auch durch klare geschliffene Sprache und wissenschaftliche Leidenschaftlichkeit.

II. 1.) Die erste Auflage wurde mehrfach besprochen, durchweg zustimmend, gleichviel, ob es sich bei den Rezensenten um Hochschullehrer, Richter oder Anwälte handelt (Sabine Gleß GA 2004, 252; Rainer Hamm NJW 2003, 194; Bernd von Heintschel-Heinegg JA 2003, 243; Hans-Heiner Kühne StV 2003, 422). Da die zweite Auflage gegenüber der ersten keine Veränderungen aufweist (Vorwort), fällt es notgedrungen schwer, in einer weiteren Besprechung neue Aspekte zu präsentieren und kritisch zu würdigen. Im Folgenden sollen daher in Art einer stichwortartigen Inhaltsangabe Dallmeyers tragende Gedanken aufgelistet werden.

2.) Zum Thema "Strengbeweis und Gesetzlichkeit der Beweisführung" lauten sie:

a.) Vor Inkrafttreten des Grundgesetzes galt im Grundsatz: Was dem Staat nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt. Daraus erklärt sich eine Ungenauigkeit, die man der herkömmlichen Terminologie im Hinblick auf die heutige Rechtslage vorwerfen muss. Der Begriff "Beweiserhebungsverbot" legt nämlich nahe, die Erhebung der Beweisobjekte sei grds. zulässig, nur nicht im Bereich ausdrücklicher Verbote. Es ist jedoch unter der Geltung des Grundgesetzes das Gegenteil der Fall: Was dem Staat nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist ihm verboten. Beweiserhebung darf also nur aufgrund und im Rahmen der bestehenden Gesetze stattfinden. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit bindet insofern alle öffentliche Gewalt. "Beweiserhebungsverbot" ist heute mithin nichts anderes als ein Oberbegriff für sämtliche Wege der Beweisgewinnung, für die keine Ermächtigung besteht. Anders ausgedrückt: Die Beweiserhebungsbefugnis, nicht das Beweiserhebungsverbot, ist das entscheidende.

Die Beweiserhebungsbefugnisse sind in der Strafprozessordnung abschließend geregelt; eine Beweiserhebung jenseits des Gesetzes ist wegen des Vorbehalts und des Vorranges des Gesetzes unzulässig. Insoweit bestehen Beweiserhebungsverbote (S. 38 f., 43 f.).

b.) Die Beweisverwertungsbefugnisse sind in der Strafprozessordnung ebenfalls abschließend geregelt; eine Beweisverwertung jenseits des Gesetzes ist wegen des Vorbehalts und des Vorrangs des Gesetzes unzulässig. Insoweit bestehen Beweisverwertungsverbote (S. 56).

c.) Die Bedeutung der "schützenden Formen" des Strafverfahrensrechts liegt im Schutz materieller Rechte durch Verfahrensrecht. Die Etablierung strengbeweislicher Verfahrensregeln durch den Gesetzgeber bezweckt den Schutz der Verfahrensbeteiligten und die Gewährleistung materiell richtiger Urteile. In beiden Schutzzwecken konfligieren häufig öffentliche und private Interessen. Die Herstellung praktischer Konkordanz obliegt in diesem, insbesondere für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlichen Bereich allein den Gesetzgeber (S. 69).

d.) Die gesamte die Schuld- und Straffrage betreffende strafprozessuale Beweisführung darf nur auf gesetzlichem Wege erfolgen - gleichgültig, welches Strafverfolgungsorgan in welchem Verfahrensstadium tätig wird. Die Feststellung, dass der Strengbeweis auch im Ermittlungsverfahren gilt, bedeutet, dass die Beweisführung auch im Ermittlungsverfahren gesetzlich geregelt sein muss (und geregelt ist) und dass die vorhandenen Vorschriften grds. zwingendes Recht darstellen (S. 80).

e.) Wer einen beweiskräftigen Gegenstand im Strafverfahren verwenden will, muss sich hierfür der gesetzlichen Mittel bedienen. Nur dann erlangt und behält der Gegenstand den rechtlichen Status "Beweismittel". Werden die gesetzlichen Wege nicht eingehalten, so liegt zwar ein Objekt vor, das möglicherweise in tatsächlicher Hinsicht Beweiskraft hat. Ein Beweismittel im Rechtssinne ist es nicht. Daraus folgt, dass es "rechtswidrig erlangte Beweismittel" nicht gibt. Nur die rechtmäßig erlangten Beweisgegenstände sind Beweismittel (S. 183).

f.) Der Strengbeweis ermächtigt, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, zur Erhebung und Verwertung von Informationen. Bei Nicht-Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen sind - wegen des Vorbehalts des Gesetzes - die Erhebung und Verwertung der Informationen hingegen untersagt (S. 94).

3.) Der Abwägungspraxis hält Dallmeyer vor:

a.) Ein Strengbeweismittelsystem duldet keine nebengesetzlichen Abwägungen. Das Beweismittelsystem der Strafprozessordnung gibt Aufschluss darüber, wann die Abwägung zugunsten der Verfahrensbeteiligten und wann sie zugunsten der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ausgegangen ist. Für eine weitergehende Abwägung ist - jedenfalls in einem Strengbeweismittelsystem - kein Raum (S. 115).

b.) Effektiv und gerecht ist Strafrechtspflege, wenn sie möglichst erfolgreich nach der materiellen Wahrheit forscht und zugleich möglichst wirksam die Interessen der Verfahrensbeteiligten schützt, indem sie die Verfahrensgesetze beachtet, in denen der Gesetzgeber die konfligierenden Interessen verbindlich zum Ausgleich gebracht hat. Kurz: Strafrechtspflege ist die justizförmige Ermittlung der materiellen Wahrheit (S. 115).

c.) Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und der Grundsatz des fairen Verfahrens haben als Argumentationsfiguren ihren legitimen Platz in der Kriminalpolitik und der Gesetzgebung (lehrreich dazu auch: Putzke, in: FS Schwind, 2006, S. 111: "Was ist gute Kriminalpolitik - Eine begriffliche Klärung"). Bei der Rechtsanwendung können sie dort, wo es gesetzliche Entscheidungen gibt (wie hier) jedoch keine Berücksichtigung mehr finden (S. 115 f.).

d.) Subjektive Momente (= gutgläubig-rechtswidriges Handeln der Strafverfolgungsbehörden) sind in einem vom Gesetzgeber objektiv ausgestaltetem Beweisrecht ohne Bedeutung (S. 130).

e.) Es ist unzulässig, eine Hypothese rechtmäßiger Beweiserhebung zur Relativierung von unselbstständigen Beweisverwertungsverboten aufzustellen (S. 148 ff.; ebenso jüngst Wohlers, in: FS Fezer, 2008, S. 311 ff.).

f.) Die Abwägungslehre führt zu einer 2-Klassen-Justiz contra legem: Solange die Schwere des Tatvorwurfs zentrales Abwägungskriterium ist, kann in Fällen schwerster Kriminalität (prozessual) nahezu folgenlos rechtswidrig ermittelt werden. Mit einem justizförmigen Beweisrecht verträgt es sich jedoch keinesfalls, nach dem Motto zu verfahren: "Je ernster die Norm zu nehmen ist, um deren Schutzwillen die Justiz handelt, um so weniger ernst braucht sie ihre eigene Normtreue zu nehmen" (S. 162; so schon zutr. Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozess, 1977, S. 97; vgl. dazu auch Gaede Fairness als Teilhabe, 2007, S. 709; Neuhaus HRRS 2007, 373, 375).

4.) Das "wesentliche Ergebnis der Ermittlungen" - so bezeichnet Dallmeyer in einem hübschen Wortspiel einen Teil seiner Schlussbetrachtung (S. 173) - des Rezensenten nach Lektüre dieses Buches lautet: Eine herausragende Dissertation, deren Lektüre auch denen eine wissenschaftliche Freude sein wird, die der Abwägungslehre nahestehen. Das "Urteil": Wer diese grundlegende Arbeit nicht zur Kenntnis nimmt, bestraft sich selbst.

Rechtsanwalt & Fachanwalt für Strafrecht Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund

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