HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Soldaten als Mörder? – Das Verhältnis von VStGB und StGB anhand des Kundus-Bombardements

Von Dipl.-Jurist (Univ.) Florian Hertel, Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth)

Die Bundesanwaltschaft zog das Verfahren wegen der Bombardierung eines Tanklastzugs im afghanischen Kundus gegen den beteiligten Bundeswehr-Offizier an sich und ermittelte wegen Verstoßes gegen das Völkerstrafgesetzbuch – zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des VStGB. Damit wurde juristisches Neuland betreten, in dem noch vieles ungeklärt ist. Allen voran das Verhältnis des VStGB zum StGB und die Frage nach eventuellen "Sperrwirkungen" des ersteren.

I. Einleitung

Das VStGB trat zum 30.06.2002 in Kraft[1] und dient der Umsetzung des so genannten Römischen Statuts (IStGHSt),[2] mit dem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ins Leben gerufen wurde, in deutsches Recht.[3] Das IStGHSt enthält diverse Straftatbestände, wie bspw. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen,[4] die die Zuständigkeit des IStGH begründen können. Da es sich um Straftatbestände handelt, für die das so genannte Weltrechtsprinzip[5] gilt, steht es aber jedem Staat frei, diese auch vor seinen nationalen Gerichten verfolgen zu lassen. Dies gilt auch dann, wenn kein Bezug zum jeweiligen Land vorliegt. Deutschland hat davon mit der Verabschiedung des VStGB Gebrauch gemacht.[6]

Mit Ausnahme einiger Sonderbestimmungen regelt das VStGB aber auch, dass auf Taten nach diesem Gesetz das allgemeine Strafrecht Anwendung findet, § 2 VStGB. Das führt zu einigen, bislang wenig beachteten Konkurrenzproblemen zwischen VStGB und vor allem den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten des StGB. Dies trifft auch für den nun aktuellen Fall des Bombardements in Kundus zu. Bei diesem ordnete am 04.09.2009 der deutsche Bundeswehroffizier Klein die Zerstörung zweier von den Taliban entführter Tanklastzüge durch amerikanische Kampfflugzeuge an. Die Folge war der Tod von etwa 30 Zivilisten, die zum Eigengebrauch Benzin abgezapft hatten.[7]

In dieser Situation ergeben sich nun zwei mögliche Anknüpfungspunkte für eine Strafbarkeit des beteiligten Bundeswehr-Offiziers: Zunächst nach dem schon erwähnten VStGB, daneben aber auch wegen "gewöhnlicher" Tötungsdelikte der §§ 211 ff. StGB. Letzterem könnte aber entgegenstehen, dass der Gesetzgeber die strafrechtliche Haftung für Vorfälle wie in Kundus mit dem VStGB abschließend geregelt hat. Dann schiede ein Rückgriff auf das StGB aus, das Völkerstrafrecht entfaltete eine "Sperrwirkung" gegenüber den nationalen Delikten. Ob dem so ist, soll im Folgenden nachgegangen werden.

II. Strafbarkeit nach dem VStGB

1. Anwendbarkeit des VStGB und Zurechnung

Zunächst steht weder die Tatsache, dass die Tat im Ausland stattfand, noch, dass die Zerstörung der Tanklastzüge nicht durch K, sondern amerikanische Kampfpiloten geschah, einer Strafbarkeit entgegen. Bezüglich des ersten Punktes regelt § 1 VStGB, dass das Völkerstrafgesetzbuch auch auf Taten im Ausland ohne Bezug zum Inland gilt. Im Hinblick auf den zweiten Punkt ermöglicht der Verweis des § 2 VStGB die Anwendung der allgemeinen Täterschafts- und Teilnahmeregelungen des StGB.[8] In Betracht kämen eine Anstiftung nach § 27 StGB durch K und mittelbare Täterschaft gemäß § 25 I 2. Alt. StGB. Die Piloten der Kampfflugzeuge verfügten nicht über die Informationen und Lageanalysemöglichkeiten des K. Es ist daher davon auszugehen, dass es ihnen nicht möglich war, die Gegebenheiten am Zielort zu überprüfen und damit die Rechtmäßigkeit des Einsatzes zu bewerten. Somit kommt für K eine Strafbarkeit als mittelbarer Täter kraft Wissensherrschaft in Betracht.[9]

2. Einzelne Tatbestände

Mithin stellt sich die Frage nach in Betracht kommenden Tatbeständen des VStGB. Im Einzelnen sind dies deren drei: §§ 8 I Nr. 1, 11 I Nr. 1 und 11 I Nr. 3 VStGB.

§ 8 I Nr. 1 VStGB stellt die Tötung einer nach dem humanitären Völkerrecht zu schützenden Person in einem bewaffneten Konflikt unter Strafe.[10] Es ist schon nicht eindeutig, ob die beteiligten Zivilisten solche "zu schützende Personen" sind,[11] jedenfalls aber findet § 8 VStGB nur auf Personen Anwendung, die sich in der Gewalt des Täters befinden.[12] Dies ist bei einem Distanzangriff nicht der Fall, daher scheidet eine Strafbarkeit nach § 8 VStGB aus.

§ 11 I Nr. 1 VStGB pönalisiert Angriffe mit militärischen Mitteln, wiederum im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt, gegen die Zivilbevölkerung als solche. Aufgrund der Beteiligung von Taliban-Kämpfern an den Geschehnissen rund um die Tanklastzüge wird ein Angriff auf die Zivilbevölkerung "als solche" nicht anzunehmen sein. [13] Mithin kommt auch keine Strafbarkeit nach § 11 I Nr. 1 VStGB in Betracht.

§ 11 I Nr. 3 VStGB schließlich, für dessen Anwendung auch ein bewaffneter Konflikt vorliegen muss, bedroht mit Strafe einen Angriff, bei dem der Täter sicher erwartet,[14] dass die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen in einem Ausmaß erfolgen wird, das außer Verhältnis[15] zum militärischen Vorteil steht.[16] Die Wertung, wann ein solcher "außer Verhältnis" stehender Schaden vorliegt, ist äußerst komplex.[17] Letztlich hängt von ihr aber die Strafbarkeit der Beteiligten ab – das Strafrecht stößt hier ersichtlich an seine Grenzen.[18]

Während im "zivilen" Strafrecht die Meinung vorherrscht, die Tötung Unschuldiger zum Zwecke des Erhalts des Lebens anderer ("Leben gegen Leben") sei nicht zu rechtfertigen,[19] sieht man sich hier mit einer grundsätzlich zulässigen Abwägung "Leben gegen militärischen Vorteil" konfrontiert.[20] Dass das Bombardement des von den Taliban entführten Tanklastzuges einen militärischen Vorteil brachte, steht außer Frage. Entweder wurde eine wertvolle militärische Ressource oder eine potenziell als Waffe gegen die Bundeswehr einsetzbare Bedrohung zerstört. Entscheidend ist mithin, ob die Anzahl der – grundsätzlich hinzunehmenden – zivilen Opfer außer Verhältnis zu diesem Vorteil stand. Eine Aufrechnung "x zerstörte militärische Objekte gegen y zivile Opfer" ist offensichtlich unmöglich. Man wird, auch angesichts der immer unübersichtlicheren Lage in den Krisengebieten der Welt, bei der Annahme von Unverhältnismäßigkeit restriktiv vorzugehen haben. Immer mehr vermischen sich feindliche Kämpfer, diese unterstützende Zivilisten und Unbeteiligte – eine klare Trennung wie auf den Schlachtfeldern der Weltkriege ist nicht mehr möglich. Die Hinnahme ziviler Opfer zum Erreichen militärischer Ziele mag gerade in Deutschland (zu Recht) ein ungutes Gefühl verursachen, komplett vermeidbar ist sie aber nicht mehr.[21] Auch im Fall des Bombardements von Kundus ist zumindest nicht offensichtlich, dass die Anzahl ziviler Opfer außer Verhältnis zum erreichten Vorteil stand. Hier ist im Zweifel und unter Abwägung aller Umstände zu Gunsten des K zu entscheiden, sodass eine Strafbarkeit nach § 11 I Nr. 3 VStGB ausscheidet.

Diese schwierige Wertung könnte allerdings jedenfalls im Ergebnis an Entscheidungskraft einbüßen, wenn neben den Tatbeständen des VStGB auch die des StGB auf die bezeichneten Vorfälle Anwendung fänden. Dort befände man sich vielleicht in besser ausgeleuchteten dogmatischen Fahrwassern.

III. Strafbarkeit nach dem StGB

Unbestreitbar sind bei dem Luftangriff in Kundus Zivilisten zu Tode gekommen. In Betracht kämen mithin die Tötungsdelikte der §§ 211 ff. StGB. Jedoch müsste diese dazu neben den Delikten des VStGB überhaupt anwendbar sein. Dem könnte entgegenstehen, dass das Völkerstrafrecht für die von ihm umfassten Situationen eine abschließende Regelung darstellt, mithin gegenüber den allgemeinen Tötungsdelikten eine "Sperrwirkung" entfaltet.

1. Sperrwirkung: Allgemeines

Unter der Sperrwirkung eines Straftatbestandes ist zu verstehen, dass die Strafverfolgung wegen eines anderen, verwandten Delikts auch dann ausscheidet, wenn eine Strafbarkeit wegen des ersten Delikts scheitert.[22] Bekannte Beispiele für solche Sperrwirkungen sind § 216 StGB im Verhältnis zu §§ 211 StGB[23] und § 113 StGB im Verhältnis zu § 240 StGB.[24] Die Begründung für eine solche Sperrwirkung variiert, auch von Tatbestand zu Tatbestand.[25] Es wird die ratio legis, aber auch der Charakter der privilegierenden Straftat als "lex specialis" herangezogen.[26] In Zweifelsfällen ist die teleologisch-systematische Auslegung der Vorschriften nötig.[27] Allgemein kann festgehalten werden, dass eine Vorschrift dann Sperrwirkung entfaltet, wenn mit ihr der jeweilige Handlungsbereich bezüglich seiner Strafbarkeit abschließend geregelt wurde. Das kommt meist durch den Charakter als "lex specialis" zum Ausdruck. Jedoch handelt es sich bei den hier interessierenden Fällen wenn, dann um "Sondersituationen" eines Spezialgesetzes,[28] wie der folgende Absatz zeigt.

Eine Straftat ist grundsätzlich dann "lex specialis" zu einer anderen, wenn sie deren sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen enthält und dazu noch ein oder mehrere zusätzliche Elemente erfordert.[29] Dies trifft beispielsweise eindeutig auf Qualifikationen wie § 224 StGB zu, der die sämtlichen Inhalte der einfachen Körperverletzung, § 223 StGB, umfasst und zusätzlich bestimmte erschwerende Faktoren erfordert. In den Fällen, in denen eine Sperrwirkung diskutiert wird, ist die Situation jedoch nicht so eindeutig: Beispielsweise erfasst § 113 StGB nur die Nötigungshandlungen der Gewalt oder der Drohung mit Gewalt, nicht aber die Drohung mit einem empfindlichen Übel – die von § 240 StGB ebenfalls erfasst wird. Der Unterschied zu u.a. § 224 StGB liegt mithin darin, dass § 113 StGB nicht sämtliche Varianten des § 240 StGB umfasst und mit zusätzlichen Merkmalen versieht (hier der Person des Genötigten), sondern nur einen Teil davon. Daher stellt sich die Frage, ob z.B. bei einer Drohung mit einem empfindlichen Übel gegenüber einem Amtsträger aufgrund der mangelnden Strafbarkeit nach § 113 StGB auf § 240 StGB zurückgegriffen werden kann. Die h.M.[30] verneint dies unter Inkaufnahme dadurch entstehender Strafbarkeitslücken, da das privilegierende Gesetz eben die gesamte Situation (Nötigung eines Amtsträgers bei § 113 StGB, Tötung aufgrund Verlangen des Opfers egal unter welchen Umständen bei § 216 StGB[31]) in dem jeweiligen "Spezialtatbestand" regele. [32]

2. Tatbestände des VStGB

Wie steht es nun um eine eventuelle Sperrwirkung der Tatbestände des VStGB? Es könnte davon auszugehen sein, dass z.B. mit § 11 I Nr. 3 VStGB abschließend Situationen geregelt wurden, in denen in Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt ein militärischer Angriff durchgeführt wird, bei dem es zur Tötung von Zivilisten kommen kann.[33]

a) Die Ansicht des Gesetzgebers

Der Gesetzgeber widerspricht der Annahme einer solchen Sperrwirkung in der Gesetzesbegründung zum VStGB. Darin ist zu lesen, dass "Verhaltensweisen, die nach allgemeinem Strafrecht unter Strafe gestellt sind,[…]daher auch dann nach dem StGB strafbar sein[können], wenn eine Strafbarkeit nach den Vorschriften des VStGB nicht gegeben ist" – dabei nennt die Gesetzesbegründung ausgerechnet das Beispiel eines Piloten, der bei einem Bombenabwurf unter Missachtung der völkerrechtlich gebotenen Vorsichtsmaßnahmen Zivilisten tötet.[34] Auf eine generelle Spezialität des VStGB sei verzichtet worden, um Strafbarkeitslücken zu vermeiden.[35]

Nun kann es durchaus vorkommen, dass der in der Gesetzesbegründung verankerte Wille der Legislative nicht dem entspricht, was letztlich als Vorschrift verabschiedet wurde. Im konkreten Fall muss man aber gar nicht so weit gehen. Denn der Gesetzgeber schreibt weiter: "es gelten die allgemeinen Konkurrenzregeln."[36] Selbst wenn eine generelle Spezialität des VStGB ausscheidet, so kann

eine solche in Bezug auf einzelne Tatbestände dennoch vorliegen, wenn sie sich bei der jeweiligen Konstellation aus den allgemeinen Regeln ergibt.

Nach dem scheinbaren Willen des Gesetzgebers soll auch dann, wenn die Anzahl der zivilen Opfer die Schwelle des § 11 I Nr. 3 VStGB nicht erreicht, Raum bleiben für die Anwendung der §§ 211 ff. StGB – und zwar dann, wenn der Täter nichtsdestotrotz die nach humanitärem Völkerrecht bestehende Pflicht zur Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten[37] verletzt hat.[38] Einer näheren Betrachtung hält diese Annahme aber nicht stand.

Doch zunächst: Welches Delikt der §§ 211 ff. StGB kommt für die betreffende Situation in Betracht? Die Tötung durch heftiges Bombardement eines hochexplosiven Tanklastzuges geschieht durch Mittel, die auch andere als die anvisierten Personen beeinträchtigt. Sie erfüllt somit das Mordmerkmal der Tötung in gemeingefährlicher Weise i.S.d. § 211 II 7. Var. StGB.[39] Da der Täter auch zumindest bedingten Vorsatz hinsichtlich der Tötung der Opfer vorweist, droht ihm zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe. In der Konsequenz heißt das, dass die Tötung, die nicht mit den besonderen, gegenüber einer "normalen" Tötung das besondere Unrecht des § 11 I Nr. 3 VStGB ausmachenden, Mitteln geschieht, höher (nämlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe) pönalisiert wird als die Tötung, die diese Merkmale aufweist. Nach § 11 I Nr. 3 VStGB drohen dem Verantwortlichen nämlich nur mindestens drei Jahre Haft, selbst bei vorsätzlicher Tötung[40] nur minimal zehn Jahre, § 11 II 2 VStGB. Und auch das nur, wenn er die hohe Anzahl ziviler Opfer sicher erwartet, diesbezüglicher dolus eventualis genügt nicht.[41]

b) § 11 I Nr. 3 VStGB

Zusammengefasst statuiert die Auffassung des Gesetzgebers mithin folgende, widersprüchliche Abstufung: Die vorsätzliche, gemeingefährliche Tötung von Zivilisten in Übereinstimmung mit der nach humanitärem Völkerrecht bestehenden Pflicht zur Unterscheidung militärischer und ziviler Objekte[42] bleibt straffrei; die gleiche Tat unter Verletzung dieser Pflicht, aber ohne die sichere Erwartung einer außer Verhältnis stehenden Anzahl ziviler Opfer i.S.d. § 11 I Nr. 3 VStGB ist als Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden; erwartet der Täter hingegen sicher eine solche Opferzahl, so drohen ihm nur minimal zehn Jahre Haft, § 11 I Nr. 3, II 2 VStGB. Diese Sinnwidrigkeit macht klar, dass die Annahme einer generellen Anwendbarkeit der allgemeinen Tötungsdelikte neben dem VStGB nicht stimmen kann. Vielmehr hat der Gesetzgeber bspw. mit § 11 I Nr. 3 VStGB Deliktsnormen geschaffen, die die Strafbarkeit für die jeweiligen Situationen abschließend regeln und somit die Anwendung der entsprechenden Tatbestände des StGB sperren.

Man könnte dem entgegensetzen, dass dadurch strafbarkeitsfreie Räume entstehen.[43] Jedoch gilt es immer zu beachten, dass das Strafrecht nur ultima ratio sein darf.[44] Dies gilt erst recht im Umfeld bewaffneter Konflikte, bei dem schnelles Handeln unter begrenzten Informationen die Regel ist. Hier muss sich das Strafrecht auf die eindeutig strafenswerten Konstellationen beschränken, ohne durch zu großzügige Strafbarkeitsausdehnung unnötige und schädliche Verwirrung zu stiften.[45] Strengere Maßstäbe als im Bereich des StGB anzulegen, wird der Situation nicht gerecht. Das nationale Strafrecht akzeptiert die in Fällen der Sperrwirkung entstehenden Straflücken,[46] ohne dass es dadurch zu erwähnenswerten Missständen gekommen wäre. Es ist nicht zu erkennen, warum im Rahmen des VStGB andere Überlegungen gelten sollten.

c) Andere Tatbestände des VStGB

Jedenfalls für § 11 I Nr. 3 VStGB ist mithin aufgrund teleologisch-systematischer Betrachtung eine Sperrwirkung gegenüber den Tötungsdelikten des StGB anzunehmen. Dieses Ergebnis ist grundsätzlich auch auf andere Tatbestände des VStGB übertragbar. Jedenfalls aber dann, wenn sich keine widersprüchlichen Sanktionsabstufungen wie bei § 11 I Nr. 3 VStGB o.Ä. ergeben, steht auch einer Anwendung der Delikte des StGB nichts Grundsätzliches entgegen. Bspw. zeichnen sich die §§ 6 I Nr. 1 und 7 I Nr. 1 VStGB durch ein gegenüber einer "normalen" Tötung qualifizierendes Merkmal aus (beim Völkermorddelikt des § 6 die Absicht zur Zerstörung einer Gruppe, beim Verbrechen gegen die Menschlichkeit des § 7 VStGB die Einbettung in einen ausgedehnten oder systematischen Angriff). Sie lassen sich damit widerspruchslos in das Gesamtgefüge auch der allgemeinen Tötungsdelikte einordnen. Jedoch wird im Rahmen von Wertungsmöglichkeiten, insbesondere bei § 222 StGB, stets die besondere Anspannungslage eines bewaffneten Konfliktes zu berücksichtigen sein.[47]

IV. Zusammenfassung

Der Gesetzgeber irrt, wenn er generell eine Sperrwirkung der Tatbestände des VStGB gegenüber dem StGB ausschließt. Deutlich macht das ausgerechnet das in der Gesetzesbegründung gewählte Beispiel eines Piloten, der in völkerrechtswidriger Weise, aber unter der Schwelle des VStGB Zivilisten tötet. Auf ihn sind die allgemeinen Tötungsdelikte insbesondere wegen sonst drohender

Wertungswidersprüche nicht anwendbar, vielmehr findet seine Strafbarkeit in den Tatbeständen des VStGB ihre abschließende Regelung. Dies ergibt sich aus einer teleologisch-systematischen Auslegung, die auch für das Verhältnis der übrigen Völkerstraftaten zum StGB heranzuziehen ist.

Somit hat sich der am Bombardement von Kundus beteiligte deutsche Offizier nicht strafbar gemacht. Nicht wegen der Tötungsdelikte des StGB, da diese auf die fragliche Situation keine Anwendung finden. Und auch nicht wegen der Straftatbestände des VStGB, insbesondere mangels einer eindeutig anzunehmenden unverhältnismäßigen Anzahl ziviler Opfer. Dies scheint – zumindest im Ergebnis – auch die Ansicht der Bundesanwaltschaft gewesen zu sein. Diese hat die Ermittlungen am 19.04.2010 eingestellt.


[1] BGBl. I 2002, S. 2254 ff.

[2] BGBl. II 2000, S. 1394 ff.

[3] S. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 14/8524, S. 1, 12.

[4] Artt. 6, 7 und 8 IStGHSt.

[5] Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl. (2010), vor § 3 Rn. 3.

[6] Vgl. § 1 2. Hs. VStGB.

[7] Vgl. Safferling/Kirsch, JA 2010, 81.

[8] Vgl. Weigend, in: MünchKomm-StGB, 1. Aufl. (2009), § 2 VStGB Rn. 17; zur Begründung eines Verzichts auf Sonderregelungen s. BT-Drucks. 14/8524, S. 17.

[9] Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 84 f.

[10] Vgl. Zimmermann/Geiß, in: MünchKomm (o. Fn. 8), § 8 VStGB Rn. 95 ff., und 119 ff.

[11] Vgl. Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 83.

[12] Ambos, in: MünchKomm (o. Fn. 8), vor §§ 8 ff. VStGB Rn. 43; vgl. BT-Drs. 14/8524, S. 26.

[13] Vgl. Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 84; Dörmann, in: MünchKomm (o. Fn. 8), § 11 VStGB Rn. 35 ff.

[14] Vorsatz wirkt strafschärfend, § 11 II VStGB.

[15] Eine gewisse Anzahl ziviler Opfer ist als "Kollateralschaden" hinzunehmen, s. Art. 51 V ZP I; vgl. Ambos, in: MünchKomm (o. Fn. 8), vor §§ 8 ff. VStGB Rn. 43.

[16] Vgl. Dörmann, MünchKomm (o. Fn. 8), § 11 VStGB Rn. 76 ff.

[17] Vgl. die umfassende Darstellung bei Dörmann, in: MünchKomm (o. Fn. 8), § 11 VStGB Rn. 89 ff. mit weiteren Nachweisen.

[18] Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 84.

[19] Vgl. Perron, in: Schönke/Schröder, 27. Aufl. (2006), § 34 Rn. 23 f. sowie zur diesbezüglichen Debatte um das LuftSiG Wessels/Beulke , Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. (2009), Rn. 316b.

[20] Zum Begriff und der Bewertung des militärischen Vorteils s. Dörmann, in: MünchKomm (o. Fn. 8), § 11 VStGB Rn. 83-88.

[21] Vgl. o. Fn. 15.

[22] Wessels/Beulke (o. Fn. 19) Rn. 113; Seiler, Die Sperrwirkung im Strafrecht (2002), S. 4 f.

[23] Schneider, in: MünchKomm-StGB, 1. Aufl. (2003), § 216 Rn. 66; Eschelbach, in: von Hentschel-Heinegg, Beck’scher Onlinekommentar zum StGB (2010), § 216 Rn. 20

[24] BGHSt 30, 235, 236 = NJW 1982, 190; Backes/Ransiek, JuS 1989, 629; Eser, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), § 113 Rdnr. 68; Bosch, in: MünchKomm-StGB, 1. Aufl. (2005), § 113 Rdnr. 64.

[25] Vgl. Schneider, in: MünchKomm (o. Fn. 23), § 216 Rn. 66 mit weiteren Nachweisen.

[26] Für § 216 StGB s. BGHSt 2, 258; Lackner/Kühl, 26. Aufl. (2007), vor §§ 211 ff. Rn. 24; Wessels/Beulke (o. Fn. 19), Rn. 113. Für § 113 StGB s. BGH, VRS 35[1968], 174; Eser, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), § 113 Rn. 68.

[27] Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Auflage (2008), § 21 Rn. 52.

[28] Küpper, in: Gedächtnisschrift f. Meurer (2002), S. 123, 124; vgl. Seiler (o. Fn. 22), S. 26 f.

[29] Klug, ZStW 68[1956], 399 (400); Seiler (o. Fn. 22), S. 26; Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), vor § 52 Rn. 105.

[30] Kritisch zum Begriff der Sperrwirkung Herzberg, JZ 2000, 1093; Seiler (o. Fn. 22), S. 281 ff.

[31] S. dazu Eser, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), § 216 Rn. 9; Eschelbach, in: von Hentschel-Heinegg (o. Fn. 23), § 216 Rn. 12; Schneider, in: MünchKomm (o. Fn. 23), § 216 Rn. 24 ff.

[32] Vgl. Bosch, in: MünchKomm (o. Fn. 24), § 113 Rn. 7; Eser, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), § 113 Rn. 6.

[33] Der eigentliche Todeserfolg ist nicht Voraussetzung des § 11 I Nr. 3 VStGB, Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 84.

[34] BT-Drs. 14/8524, S. 13.

[35] BT-Drs. 14/8524, S. 13.

[36] BT-Drs. 14/8524, S. 13, Hervorhebung vom Autor.

[37] Vgl. Art. 57 II a) ii) ZP I.

[38] BT-Drs. 14/8524, S. 33.

[39] Vgl. Schneider, in: MünchKomm (o. Fn. 23), § 211 Rn. 102 f.; Lackner/Kühl (o. Fn. 26), § 211 Rn. 11; Eser, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), § 211 Rn. 29.

[40] Laut Gesetzesbegründung ist bei § 11 I Nr. 3 VStGB "direkter" Vorsatz erforderlich, BT-Drs. 14/8524, S. 34.

[41] Dörmann, MünchKomm (o. Fn. 8), § 11 VStGB Rdnr. 171; Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 84; vgl. BT-Drs. 14/8524, S. 34.

[42] Und damit im Erst-recht-Schluss auch ohne die Erfüllung der erschwerenden Umstände des § 11 I Nr. 3 VStGB.

[43] Dies scheint auch die Sorge des Gesetzgebers zu sein, vgl. BT-Drs. 14/8524, S. 13.

[44] Vgl. BVerfGE 96, 245 (249) = NJW 1998, 443; Stree, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 19), vor §§ 38 ff. Rn. 1;

[45] Vgl. die Anerkennung der besonderen Stresssituation des Betroffenen als Grundlage der Sperrwirkung des § 113 StGB: Seiler (o. Fn. 22), S. 136; Eser, in: Schönke/Schröder (o. Fn. 10), § 113 Rn. 3.

[46] Vgl. o. Fn. 31 f.

[47] So auch Safferling/Kirsch, JA 2010, 81, 85; vgl. o. Fn. 45.