HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

652. BVerfG 2 BvR 1046/08 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 11. Juni 2010 (LG Nürnberg-Fürth/AG Schwabach)

Einfachrechtlicher Richtervorbehalt (Blutentnahme; Gefahr im Verzug; nichtrichterliche Anordnung; Dokumentation der Anordnungsvoraussetzungen); Wohnungsdurchsuchung (Richtervorbehalt; Entbehrlichkeit einer Dokumentation bei offenkundiger Dringlichkeit); nachträgliche gerichtliche Überprüfung (eigenverantwortliche Prüfung); Verwertungsverbot.

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 102 StPO; § 81a Abs. 1 StPO, § 81a Abs. 2 StPO, § 81a Abs. 3 StPO

1. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG ist nur dann gegeben, wenn das zur nachträglichen Überprüfung berufene Gericht die Voraussetzungen des Exekutivakts im Einzelfall vollständig eigenverantwortlich nachprüft. Jedenfalls soweit das Handeln der Exekutive auf der Inanspruchnahme einer originär gerichtlichen Eingriffsbefugnis beruht, erstreckt sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes in diesen Fällen auch auf Dokumentations- und Begründungspflichten der anordnenden Stelle, die eine umfassende und eigenständige nachträgliche gerichtliche Überprüfung der Anordnungsvoraussetzungen ermöglichen sollen. Kommt die anordnende Stelle diesen Pflichten nicht nach oder lässt das überprüfende Gericht den gerichtlichen Rechtsschutz „leer laufen“, indem es dem Betroffenen eine eigene Sachprüfung versagt, kann dies eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG begründen (vgl. BVerfGE 103, 142, 156 ff.).

2. Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich auch für Maßnahmen, die nicht – wie die Wohnungsdurchsuchung – einem verfassungsrechtlichen, sondern nur einem einfachgesetzlichen Richtervorbehalt unterliegen (vgl.

BVerfGK 5, 74, 81; 12, 374, 376 f.). Auch im Fall der Blutentnahme nach § 81a Abs. 1 und Abs. 2 StPO muss eine effektive nachträgliche Kontrolle der nichtrichterlichen Eilanordnung gewährleistet sein (vgl. BVerfGK 10, 270, 273; 12, 374, 376 f.). Der Richtervorbehalt in § 81a Abs. 2 StPO würde bei rein abstrakter Bestimmung der Gefährdungslage im Regelfall bedeutungslos werden. Die Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch die vorherige Einholung einer richterlichen Anordnung ist daher in jedem Einzelfall konkret zu überprüfen und festzustellen.

3. Nach § 81a Abs. 2 StPO steht die Anordnung der Blutentnahme grundsätzlich dem Richter zu (vgl. BVerfGK 10, 270, 274). Die Ermittlungsbehörden müssen zunächst regelmäßig versuchen, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie selbst eine Blutentnahme anordnen. Nur bei Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch die mit der Einholung einer richterlichen Entscheidung einhergehenden Verzögerung besteht auch eine Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft und – nachrangig – ihrer Ermittlungspersonen (vgl. BVerfGK 10, 270, 274). Die Gefahrenlage muss dann mit auf den Einzelfall bezogenen Tatsachen begründet werden, die in den Ermittlungsakten zu dokumentieren sind, sofern die Dringlichkeit nicht evident ist (vgl. BVerfGK 10, 270, 274).

4. Im Gegensatz zu einer Durchsuchung sind die zu prüfenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen bei § 81a StPO beim Verdacht einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit in der Regel weniger komplex. In Ausnahmefällen kann daher die Anordnung durch den Richter auch lediglich mündlich erfolgen.

5. Für die gerichtliche Überprüfung der Voraussetzungen einer polizeilichen Anordnung der Wohnungsdurchsuchung wegen Gefahr im Verzug ist es ausreichend, wenn diese Voraussetzungen von einem Beamten zusammenfassend dargestellt werden. Es ist nicht erforderlich, dass jeder an einer Maßnahme beteiligte Polizeibeamte seine Wahrnehmungen persönlich schriftlich niederlegt.

6. Eine detaillierte Dokumentation von Kontaktaufnahmeversuchen zu einem Ermittlungsrichter oder Staatsanwalt vor einer polizeilichen Anordnung der Wohnungsdurchsuchung wegen Gefahr im Verzug ist dann entbehrlich, wenn die Dringlichkeit der Maßnahme offenkundig war (vgl. BVerfGK 2, 310, 316; 5, 74, 79).

7. Ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt in § 81a StPO gebietet es nicht zwingend, ein Verwertungsverbot hinsichtlich des gewonnenen Beweismittels anzunehmen.


Entscheidung

651. BVerfG 2 BvR 1023/08 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. Juli 2010 (OLG Celle/LG Hildesheim)

Menschenwürde (gerichtliche Überprüfung menschenunwürdiger Haftraumunterbringung); Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz (Effektivität; Fortsetzungsfeststellungsinteresse); Rechtsbeschwerde (Fortbildung des Rechts; Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung; Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 116 Abs. 1 StVollzG

1. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG ist es prinzipiell vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen. Daher ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses annehmen. Ausnahmsweise kann aber das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage auch noch nach Erledigung in besonderer Weise schutzwürdig sein (vgl. BVerfGE 104, 220, 232 ff.).

2. Ein solches schutzwürdiges Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist unter anderem dann zu bejahen, wenn die Feststellung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs begehrt wird, gegen den nach dem typischen Ablauf wirksamer Rechtsschutz nicht vor Erledigung zu erlangen ist (vgl. BVerfGE 110, 77, 86; 117, 71, 122 f.), oder wenn eine gegen die Menschenwürde verstoßende Haftraumunterbringung in Rede steht (vgl. BVerfGK 6, 344, 347 f. m.w.N.).

3. Die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderte Achtung der Würde, die jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt (vgl. BVerfGE 1, 97, 104; 109, 279, 313), verbietet es grundsätzlich, Gefangene grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen auszusetzen. Dies gilt auch insoweit, als die Unerträglichkeit der Verhältnisse im Haftraum durch Verhaltensweisen anderer Gefangener bedingt ist, und betrifft auch mit physischem oder verbalem Kot beschmierte Haftraumwände. Schutz vor solchen Widerwärtigkeiten, selbst strafbarer Art, mag im Haftvollzug nicht ausnahmslos und unter allen Umständen erreichbar sein. Die Frage, wann in der Beschaffenheit von Hafträumen eine Missachtung des von Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Achtungsanspruchs liegt, lässt sich nicht ohne Rücksicht auf die Umstände und auf Fragen der praktischen Realisierbarkeit beantworten (vgl. BVerfGK 12, 422, 424 m.w.N.).


Entscheidung

653. BVerfG 2 BvR 3044/09 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 11. Juni 2010 (LG Traunstein/AG Traunstein)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Durchsuchungsanordnung (Tatverdacht; bloße Mutmaßungen; nachträgliche verdachtsbegründende Tatsachen); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Art. 13 Abs. 1 GG; Art 13. Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG

1. Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) ist der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt dabei Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95, 97; 117, 244, 262 f.). Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind;

denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332, 336; 11, 88, 92).

2. Zur Verneinung eines entsprechenden Verdachts in einem Fall, in dem bei einer Verkehrskontrolle lediglich bei einem Begleiter des Betroffenen Drogen gefunden wurden, bei ersterem ein Drogenschnelltest ein positives Ergebnis zeigte und der Betroffene bereits mehrfach wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden war.

3. Für das Vorliegen eines Tatverdachts ist auf den Zeitpunkt der Anordnung abzustellen. Gibt der Betroffene nach Bekanntgabe der entsprechenden Durchsuchungsanordnung an, die zu suchenden deliktischen Gegenstände (vorliegend Drogen) in seiner Wohnung aufzubewahren, ist dies unerheblich für die Beurteilung, ob ein anfänglicher Tatverdacht gegeben war.


Entscheidung

655. BVerfG 2 BvR 759/10 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. Juli 2010 (Brandenburgischen OLG/AG Potsdam)

Informationelle Selbstbestimmung im Ordnungswidrigkeitenverfahren; Geschwindigkeitskontrolle im öffentlichen Straßenverkehr (geeichte Messeinrichtung; verdachtsabhängiges Anfertigen eines Messfotos).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 100h Abs. 1 Satz 1 StPO; § 101 StPO; § 46 Abs. 1 OWiG

1. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist der Einschränkung im überwiegenden Allgemeininteresse zugänglich. Diese bedarf einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenbestimmtheit genügt und verhältnismäßig ist (BVerfGE 65, 1, 43 f.; stRspr).

2. Mit Blick auf die eingeschränkte Überprüfbarkeit fachgerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn in der fachgerichtliche Rechtsprechung teilweise § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG als Rechtsgrundlage für die Anfertigung von Bildaufnahmen zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr in den Fällen herangezogen wird, in denen der Verdacht eines Verkehrsverstoßes gegeben ist.

3. Es sind keine durchgreifenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ersichtlich.

4. Die vorliegende Maßnahme des verdachtsabhängigen Anfertigens von Bildaufnahmen zum Beweis von Verkehrsverstößen (Geschwindigkeitsmessung mit einem geeichten Messgerät und die Feststellung der Identität des Fahrers durch Aufnahme und Auswertung eines Messfotos) stellt einen zulässigen, verhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Sie dient der Aufrechterhaltung der Sicherheit des Straßenverkehrs und damit – angesichts des zunehmenden Verkehrsaufkommens und der erheblichen Zahl von Verkehrsübertretungen – der Schutz von Rechtsgütern mit ausreichendem Gewicht.


Entscheidung

654. BVerfG 2 BvR 571/10 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 30. Juni 2010 (LG Baden-Baden/BGH)

Vorläufige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (keine Entlassung aus der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach dem Urteil EGMR M. v. Deutschland); BGH 1 StR 595/09.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 32 BVerfGG; § 66b Abs. 2 StGB

Auch nach der Rechtskraft des Urteils des EGMR im Fall M. v. Deutschland vom 17. Dezember 2009 (HRRS 2010 Nr. 65) führt die für eine einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (§ 32 BVerfGG) erforderliche Folgenabwägung nicht dazu, dass ein Beschwerdeführer sofort aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen ist. Die durch das Urteil des EGMR aufgeworfenen Rechtsfragen bedürfen einer Klärung im Hauptsacheverfahren.