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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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1. § 66b Abs. 3 StGB ist gemäß § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK nicht auf Taten („Altfälle“) anwendbar, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden sind.
2. Nach dem Urteil der Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Fünfte Sektion) in der Rechtsache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) vom 17. Dezember 2009 ist die Sicherungsverwahrung ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als „Maßregel der Besserung und Sicherung“ im Sinne der EMRK als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK gilt.
3. Deutsche Gerichte haben die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden
(BVerfGE 111, 307, 316 ff.; BVerfG EuGRZ 2010, 145, 147). Dabei sind auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt. Das nationale Recht ist wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes unabhängig vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit den Bestimmungen der EMRK auszulegen (BVerfGE 111, 307, 324). Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung (vgl. Art. 46 Abs. 1 MRK) bei der Auslegung innerdeutschen Rechts zu berücksichtigen. Die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB ist mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 auszulegen.
Die vollständige Verbüßung der Strafe aus der Anlassverurteilung vor der Stellung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung steht der Fortsetzung des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als Verfahrenshindernis entgegen. In diesem Fall ist das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen.
1. Bei der Beurteilung der zukünftigen Gefährlichkeit des Verurteilten im Sinne des § 66b Abs. 2 StGB kommt dem Tatgericht ein Beurteilungsspielraum zu; seine Entscheidung unterliegt der revisionsgerichtlichen Überprüfung nur eingeschränkt (BGH NStZ-RR 2008, 40, 41).
2. An die Annahme neuer Tatsachen sind stets strenge Anforderungen zu stellen (BGH, Beschl. vom 12. Januar 2010 – 3 StR 439/09), zumal die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m.w.N.; BVerfG StV 2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982). Als „neue Tatsachen“ kommen deshalb nur solche in Betracht, die in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (BGHR StGB § 66b Neue Tatsachen 3) und schon für sich genommen von besonderem Gewicht sind (BGH StV 2006, 67, 71).
Wirkt ein V-Mann der Polizei auf die – ursprünglich auch mit demselben vereinbarte – Übergabe von Falschgeld hin, muss dies in der Strafzumessung ausdrücklich gewürdigt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 1988 – 2 StR 399/88, BGHR StGB § 46 Abs. 1 V-Mann 4; BGH, Beschluss vom 21. Juli 1993 – 2 StR 331/93, BGHR StGB § 46 Abs. 1 V-Mann 10). Es genügt nicht, allein die „von Anfang an eine lückenlose polizeiliche Überwachung der Taten“ einzubeziehen.
Liegen hinsichtlich eines Vermögensgegenstand, der im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB für oder aus einer Straftat erlangt ist, zugleich die Voraussetzungen der Einziehung gemäß § 74 StGB vor, so schließt der Vorrang des Geschädigtenanspruchs, der gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB dem Verfall entgegensteht, zugleich auch die Einziehung aus.
1. Bei der Beurteilung, ob ein pädophiles Störungsbild unter eines der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB zu subsumieren ist und dadurch die Schuldfähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt ist, entscheidet das Gericht nach sachverständiger Beratung (BGH NStZ-RR 2006, 73). Bei seiner Beurteilung ist der Tatrichter nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen. Dabei ist er gehalten, sich mit dessen Darlegungen in einer Weise auseinanderzusetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (BGH NStZ 2007, 114).
2. Nicht jede Devianz in Form einer Pädophilie ist ohne Weiteres mit einer schweren anderen seelischen Abhängigkeit gleichzusetzen (BGH StV 2005, 20).
3. Das Gericht ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gehalten, die Prozessbeteiligten über die vorläufige Bewertung von Beweismitteln – hier des Sachverständigengutachtens – zu informieren. Erst in der Urteilsberatung hat der Tatrichter darüber zu befinden, wie er die erhobenen Beweise einschätzt. Ein Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müsste, ist nicht vorgesehen (vgl. BGHSt 43, 212, 214; BGH NStZ-RR 2008, 180).
Zwar können auch psychiatrische Befundtatsachen im Einzelfall „neue Tatsachen“ im Sinne des § 66b Abs. 2 StGB darstellen. Maßgeblich ist aber nicht eine neue sachverständige Bewertung von Tatsachen. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen und bekannt oder erkennbar waren (BGHSt 50, 275, 278). Tatsachen, die zwar nach der Anlassverurteilung auftreten, durch die sich aber ein im Ausgangsverfahren bekannter bzw. erkennbarer Zustand lediglich bestätigt, können nicht als „neu“ gelten (BGH StV 2007, 29, 30).
Zwar kommt die Anwendung des § 63 StGB nur bei Personen in Betracht, deren Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit durch einen länger andauernden und nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (BGHSt 34, 22, 27). In Fällen, in denen die Verminderung der Schuldfähigkeit letztlich auf Alkoholgenuss zurückzuführen ist, kann § 63 StGB aber ausnahmsweise angewendet werden, wenn der Täter an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist (BGHSt 34, 313, 314; BGHR StGB § 63 Zustand 9).
1. Nach dem gesetzlichen Verwertungsverbot der §§ 51 Abs. 1, 63 Abs. 4 BZRG dürfen aus der Tat, die Gegenstand einer aus dem Bundeszentralregister getilgten Verurteilung ist, keine nachteiligen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten gezogen werden. Dies gilt auch für die gemäß § 56 Abs. 1 StGB bei der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung zu treffenden Prognoseentscheidung.
2. Bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung darf die Verneinung besonderer Umstände nicht darauf gestützt werden, dass der Angeklagte die Tat bestritten hat. Unzulässig ist daher die Erwägung des Tatrichters, es fehle an einem „von Einsicht und Reue getragenen Geständnis“.